1.
»Ist alles ok?« Anne löste Ryan aus seinen Gedanken, in denen er die Decke des Schlafzimmers
angestarrt hatte.
»Ja«, log er und mied es, ihr in die Augen zu sehen. Ok war seit einigen Stunden gar nichts mehr,
er hatte nur keine Idee, wie er ihr das erklären sollte. Vielleicht sollte er gar nichts sagen. Sie murmelte
etwas, was er nicht verstehen konnte, und schmiegte sich wieder an seinen nackten Oberkörper. Er
musste sich dazu zwingen, seine Hand auf ihren warmen, weichen, so vertrauten Körper zu legen.
Mit den Fingern begann er, kleine Kreise auf ihrer Haut zu zeichnen, doch seine Gedanken drifteten
erneut ab. Er konnte ihre Nähe gerade nicht genießen. Er konnte sich einfach nicht auf sie einlassen
und war froh, dass sie so müde war und wegdämmerte, ohne erneut Antworten zu fordern. Im Kopf
war er immer noch bei der Beisetzung einer jungen Ärztin, die Opfer eines Anschlags geworden war.
Dieser Anschlag hätte eigentlich einen Freund treffen sollen.
Der Tag war verlaufen, wie Ryan es erwartet hatte: Es waren jede Menge Tränen geflossen und er
hatte viel unterdrückte Wut in den Augen seiner Kameraden sehen können. Derrin Akram, der Mann,
dem das Attentat gegolten hatte, der zum Zeitpunkt der verheerenden Explosion nicht anwesend
gewesen war, hatte lange wie versteinert gewirkt. Erst am späten Nachmittag löste er sich ein wenig
aus seiner Starre und sprach mit den Gästen der Trauerfeier. Das gesamte Team der I.A.T.F, der
Eliteeinheit, in der Ryan diente, war vor Ort gewesen und hatte dem Afghanen Beistand geleistet.
Nicht zuletzt, weil sie mit ihm und der Ärztin befreundet gewesen waren. Das Team war eine
eingeschworene Familie aus Kameraden. Er hatte sich der Einheit vor einiger Zeit angeschlossen und
fühlte sich dieser Gruppe zugehörig und seinem Team gegenüber verantwortlich.
Sein Team.
Er stieß kurz die Luft aus. Er hatte nie eines haben wollen. Er hatte die Verantwortung eines
Captains nicht tragen wollen. Und doch hatte er den Posten seines Vorgängers übernommen. Erst
übergangsweise und dann irgendwie, ohne dass er es wirklich gewollt hatte, dauerhaft. Befehle zu
erteilen war noch nie ein Problem für ihn gewesen. Die Verantwortung, die dieser Posten mit sich
brachte, war zunächst ein Problem gewesen, inzwischen jedoch auch nicht mehr, da er genau wusste,
dass er für alles, was er tat und befahl, die volle Rückendeckung seiner Untergebenen hatte. Er
musste nie die Sorge hegen, dass seine Kameraden seine Worte in Frage stellten. Selbst dann nicht,
wenn etwas schief lief.
Untergeben.
Grinsend sah er kurz zu Anne, die die Augen geschlossen hatte. Niemand war ihm untergeben.
Eigentlich sah er alle im Team auf derselben Höhe. Keiner hatte weniger zu sagen. In Einsätzen
wurde kein Schritt gemacht, den nicht alle als sinnvoll erachteten. Sobald einer ein Problem hatte,
wurde dieses angesprochen und ausgelotet. Es wurde geändert und umgeplant, bis jeder zu hundert
Prozent hinter dem stand, was sie tun mussten.
Sein Team war für ihn wie eine Familie. Nicht nur die Männer und Frauen, mit denen er in
Einsätze ging, zählte er dazu, sondern auch die, die hier in der Heimat blieben. Frauen, Männer,
Kinder. Er war derjenige, der am Schreibtisch die Verantwortung dafür trug, dass jeder ein Gehalt
kassierte, jedem mit Problemen geholfen wurde. Er hatte für jeden jederzeit ein offenes Ohr und
bewegte im Notfall Berge, um zu helfen. Er wurde an höheren Stellen auch unbequem, wenn nicht
die Hilfe kam, die sie benötigten. Denn nur so konnte sein Team unbelastet in Einsätze gehen und
alles geben. Niemand musste sich dann um das Wohl der Zurückgebliebenen sorgen. Alles war
abgesichert und das meist gleich mehrfach. Keiner aus dem Team, kein Angehöriger würde im
schlimmsten Fall alleine dastehen. Mit einem solchen Wissen im Hinterkopf konnten sie ihre Arbeit
weit besser machen, als wenn sie sich sorgen mussten. Die Verantwortung für die Umsetzung der
Aufträge, die sie erhielten, lag bei ihm. Wenn etwas schief ging, war er der Erste, der den Kopf
hinhalten musste und sich zu rechtfertigen hatte.
Diese Absicherung war nun weggebrochen. Seine Einheit, seine Familie, seine Freunde könnten
alles verlieren. Ihren Wohlstand, ihre Wohnungen, einfach alles und das nur weil er vor einiger Zeit
einen Fehler gemacht hatte. Einen, der einigen das Leben gerettet hatte. Und am Ende hatte es dann
doch mindestens eines gekostet, von dem er gedacht hatte, er hätte es gerettet. Alya war tot. Noch
vor kurzem hatte sie sich bei ihm überschwänglich dafür bedankt, dass er geholfen hatte, sie hierher
zu bringen. Selbst Derrin hatte auf seine schüchterne Art durchblicken lassen, dass er froh war, sie
hier zu haben. Alya war eine talentierte, gut ausgebildete Ärztin gewesen, die ihn ebenfalls gerettet
hatte. Der auch er viel zu verdanken hatte.
»Ist wirklich alles ok? Du bist so angespannt«, murmelte Anne an ihn gekuschelt verschlafen und
streichelte über seine Brust.
»Ja, der Tag war nur ein bisschen doof«, flüsterte er und strich durch ihre seidigen Haare, spürte,
wie die Strähnen weich durch seine Finger glitten.
»Verständlich«, wisperte sie und schloss die Augen wieder.
Er konnte ihr nicht erzählen, was während der Trauerfeier passiert war. Er wusste nicht, wie er ihr
erklären sollte, dass sie alles verlieren könnten. Anne hatte einen guten Job, verdiente vielleicht sogar
ausreichend, um sie beide für den Übergang über die Runden zu bringen. Aber viele seiner
Teammitglieder hatten dieses Glück nicht. Sie waren darauf angewiesen, ihren Sold von der Navy zu
erhalten. Und es würde nicht beim einfachen Verlust des Jobs bleiben. Sie würden in ein mentales
Loch fallen, weil sie nichts Neues finden würden, da sie zum Teil Vorstrafen mitbrachten. Diese
Vorstrafen waren der Hauptgrund, warum Clarkson das Team loswerden wollte und er Idiot hatte
ihm nun ein Druckmittel geliefert. Clarkson hatte außerdem zu verstehen gegeben, dass die I.A.T.F
aufgelöst werden würde, wenn Ryan seinen Rücktritt erklären würde. Ein Captain, der nicht dem
entsprach, was als Bild nach außen geliefert werden sollte, konnte schließlich nur bedeuten, dass das
gesamte Team nicht mehr tragbar war. Clarkson würde, egal welche Formulierungen Ryan finden
würde, es am Ende so aussehen lassen, als würde der Staatsbürger einen Haufen Verbrecher
finanzieren, die mit Waffen unter dem Logo der Navy gegen jede Regel verstießen.
Eine Weile, nachdem er von seinem Alleingang in Afgha-nistan zurückgekehrt war, hatte er
gehofft, dass Clarkson seine Drohung nicht umsetzen würde. Dass es nur heiße Luft gewesen war,
dass die Wut des Ministers verrauchen oder er sie anders kanalisieren würde. Aber er hatte den
Verteidigungs-minister unterschätzt. Vielleicht war es Zufall gewesen, dass er ausgerechnet heute eine
Nachricht von Clarkson erhalten hatte. Womöglich war es auch eiskalte Berechnung.
Ryan hatte eine Textnachricht bekommen, eine simple Nachricht auf dem Handy, wie sie sie
ebenfalls erhielten, wenn ein Einsatz anstand. Er solle in zwei Tagen in Langley erscheinen. Niemand
sollte erfahren, warum er nach Virginia reisen musste. Er sollte sich eine Ausrede einfallen lassen, die
keine Fragen aufwarf. Mehr hatte nicht in der Textnachricht gestanden. Zeitgleich hatte ihn das
ungute Gefühl ereilt, auf das er förmlich gewartet hatte. Clarkson würde ihn wegschicken.
Irgendwohin, wo er den Kopf für irgendeinen Schwachsinn hinhalten musste. Alleine. Ryan war sich
nicht sicher, was ihm mehr Sorge bereitete. Dass er alleine arbeiten sollte oder dass er den Kopf
hinhalten musste. Ihm blieb vorerst nichts anderes, als abzuwarten, was genau Clarkson einforderte.
Dieses Abwarten beschäftigte ihn nun schon den ganzen Tag.
Seine Gedanken kamen nicht zur Ruhe. In den letzten Wochen waren so viele Menschen
umgekommen, die er ge-kannt, geschätzt und zu denen er aufgesehen hatte. Alya, der er bei der
Flucht aus Kabul geholfen hatte, war aktuell die Letzte einer langen Liste gewesen. Er hoffte
inständig, dass ihr niemand mehr folgen würde. Zuvor hatte er sein altes Team verloren. Bei einer
Mission, die Clarkson mit dem Wissen in die Wege geleitet hatte, dass seine ehemaligen Kameraden
einige Infos nicht erhalten hatten. In einem ähnlichen Einsatz war Sean Harrison, der bis vor kurzem
noch das Alpha-Team befehligt hatte, so schwer verletzt worden, dass nicht sicher war, ob er je
wieder den Dienst würde aufnehmen können. Seinen Platz hatte Elijah Kuijers eingenommen. Mit
ihm hatte Ryan über sein Abkommen mit Clarkson gesprochen. Er wusste, dass Ryan vielleicht schon
bald seinen Posten für einige Zeit nicht bekleiden konnte. Sie mussten nach einem Ersatz für ihn
suchen, der nicht erpressbar war. Aber im Team gab es im Prinzip niemanden mehr, der nicht in
irgendeiner Form eine Angriffsfläche für Clarkson bot.
Sein CO Joe Burnett hatte eine lange Liste an Verfehlungen.
Darrel White, der als ehemaliger Major der australischen SASR eigentlich prädestiniert war, wehrte
sich mit Händen und Füßen. Außerdem gab es in seiner Akte ebenfalls etwas, das Clarkson gegen ihn
auslegen würde.
Ryan zerbrach sich den Kopf, warum der Verteidigungs-minister so handelte. Sie hatten ihn nie
enttäuscht. Sie waren nur keine Einheit mit einer blütenweißen Weste. Ryan bezweifelte jedoch, dass
es so eine Einheit irgendwo geben würde. Einige der Teammitglieder, die seit der Gründung der
beiden Einheiten der I.A.T.F dabei waren, äußerten immer wieder den Verdacht, dass Clarkson
einfach nur ein gewaltiges Problem damit hatte, dass das Team mit seinem Vorgänger sehr gut
klargekommen war. Dass dieser per Du mit dem Gründer Paul Redmann ge-wesen war, weil dieser
zusammen mit dem ehemaligen Minister gedient hatte. Sie hatten gemeinsam viel erlebt, da war es
verständlich, dass der private Ton oft freundschaftlich war.
Ryans Überlegungen kreisten um so viele Punkte. Wer leitete das Team während seiner
Abwesenheit? Wie sollte er seinen Kameraden sagen, was los war oder sollte er es verschweigen? Wie
Anne über das aufklären, was er tun musste? Diese Gedanken machten es ihm unmöglich zu
schlafen. Obwohl er Elijah eingeweiht hatte und dieser zugesagt hatte, ihm den Rücken freizuhalten,
sorgte er sich. Elijah war neu, er kannte viele Abläufe nicht so gut wie er und wenn er nicht da war,
konnte er ihn nicht um Rat fragen. Es war absolut verzwickt.
Sein Blick wanderte zu Anne. Sie schlief, der Wecker zeigte inzwischen zwei Uhr in der Nacht an.
Er rechnete die Stunden herunter, bis er bei Clarkson im Büro stehen würde und bis dieser ihn sonst
wohin schickte. Womöglich würde aber etwas völlig anderes passieren. Vielleicht würde er ihn
rauswerfen. Oder, was weit schlimmer werden würde, er könnte das Team auflösen und ihm den
Auftrag geben, diese Botschaft an sein Team weiterzugeben. Wie um alles in der Welt sollte er das
erklären? Was seinen Kameraden sagen? Er konnte ihnen doch nicht gegenübertreten und behaupten,
dass er es hatte kommen sehen. Dass er gewusst hatte, dass das passieren würde. Nein, er hatte es
nicht gewusst. Seine Gedanken begannen, sich schneller zu drehen. Immer düstere Bilder entstanden
in seinem Kopf. Sie würden ihn zurecht anklagen und ihm die Schuld geben.
»Ryan?«
Er schreckte zusammen. Anne lag mit etwas Abstand neben ihm, sie hatte nur eine Hand auf
seiner Brust liegen. Wann sie von ihm abgerückt war, wusste er nicht. Ein eiskalter Schauer durchlief
seinen Körper. Er spürte seinen rasenden Herzschlag und begann zu begreifen, dass er eingeschlafen
und von einem Albtraum heimgesucht worden sein musste.
»Ja, ich bin ok«, murmelte er als Zeichen für Anne, dass ihm bewusst war, wo er sich befand, auch
wenn er nicht wusste, was gerade passiert war. Warum er wach geworden war. Er konnte sich nicht
mehr daran erinnern, wann er eingeschlafen oder was genau sein letzter Gedanke gewesen war. Er
konnte sich nicht einmal an einen Traum erinnern, was selten war. Normalerweise träumte er immer
ein und dieselbe Szene, bis Anne ihn weckte und so von diesem Grauen löste. Sie half ihm, sich von
den Bildern und der Panik zu lösen, die ihn dann heimsuchte. Jetzt war irgendetwas anders. Er drehte
den Kopf auf die Seite und sah auf den Wecker. Vier Uhr. Er musste irgendwann eingenickt sein.
Sollte er Anne fragen, was passiert war? Die Lampe, welche sie im Flur brennen ließen, warf ein
schummriges Licht in das Schlafzimmer. Anne stützte sich neben ihm ab und musterte ihn.
»Du hast irgendwas gemurmelt«, erklärte sie mit vom Schlaf heiserer Stimme. »Ich hab es nicht
verstanden, wollte dich aber auch nicht wecken. Als ich rübergerutscht bin, bist du aufgewacht. Ist
wirklich alles ok?«
Er strich sich bei ihrer Erklärung über das Gesicht. Er konnte sich nicht erinnern. Und dass Anne
nichts Genaues gehört hatte, war wahrscheinlich sogar gut. Sie würde sonst Fragen stellen. Fragen,
die er nicht beantworten konnte.
»Ja, lass uns weiterschlafen.« Er gab ihr mit einer einladenden Geste zu verstehen, dass sie wieder
an ihn heranrutschen konnte. Dass keine Gefahr von ihm ausging. Sie murmelte etwas, kam seiner
unausgesprochenen Aufforderung aber nach. Sein Gedankenkarussell begann erneut zu kreisen,
obwohl er gehofft hatte, dass es stillstehen würde. Fünf Minuten, zehn, fünfzehn. Sein Herzschlag
wollte sich nicht mehr beruhigen, während sein Augenmerk durchgehend auf dem Wecker lag. Er
musste etwas unternehmen. Er warf einen Blick auf Anne, die seine winzige Bewegung zu bemerken
schien, mit der er vom Wecker zu ihr gesehen hatte. Wahrscheinlich war ihr auch nicht entgangen,
dass er nicht wieder einschlafen konnte.
»Ist ok«, flüsternd rutschte sie von ihm weg. Sie wusste, dass er aufstehen würde, ohne dass er
etwas sagen musste. Vielleicht konnte sie seinen Herzschlag spüren, der sich einfach nicht beruhigen
wollte. Unter Umständen half es auch dieses Mal, wenn er etwas zu tun bekam, um sich ein wenig zu
beruhigen.
»Danke.« Er küsste sie auf die Stirn. »Schlaf noch ein wenig. Ich mach dir später Kaffee.«
Sie bedankte sich murmelnd, als er sich auf die Bettkante setzte. Was er nun machen wollte,
wusste er nicht genau. Nicht mehr im Bett liegen zu müssen fühlte sich in diesem Moment gut an.
Seine Gedanken würden sich zwar nicht abstellen lassen, aber er war nicht mehr gezwungen, still
neben Anne zu verharren.
Sein erster Weg führte zur Toilette, danach ging er ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher
ein. Mit einem Durchatmen ließ er sich auf dem Sofa nieder und suchte nach den Nachrichten der
letzten Stunden. Irgendwo in seinem Kopf war eine Stimme, die der Ansicht war, dass er vielleicht
etwas über das erfahren könnte, was Clarkson von ihm verlangen würde. Aber dort war nichts von
Bedeutung. Auch in den sozialen Medien war ihm nichts ins Auge gefallen. Oft reichten die täglichen
News aus, um Anhaltspunkte zu geben. Politische Krisen, Anschläge oder Entführungen, die kurz in
den News-tickern auftauchten und von denen man anschließend nie wieder hörte. In einigen dieser
Fälle begründete sich das Schweigen der Reporter darauf, dass es eine Nachrichtensperre gab, weil
Einsatzkräfte unterwegs waren. Es ging allerdings auch anders. Immer dann, wenn Berichterstatter
direkt vor Ort waren, wenn sie förmlich live berichteten, was in seinem Job aber fast nie passierte.
Polizisten mussten jedoch sehr häufig diese Er-fahrungen machen und er ärgerte sich immer wieder
darüber, wenn Einsätze live übertragen wurden.
Die soeben angekündigten Sechs-Uhr-Nachrichten ließen ihn aus seinen Gedanken schrecken. Er
hatte Anne versprochen, Kaffee zu kochen. Als er sich erhob und zur Küchenzeile ging, fasste er den
Entschluss, ein reichhaltiges Frühstück zu machen. Er werkelte und stellte zwanzig Minuten später
Speck, Eier, Toast und Müsli auf den Tresen der Küche, an dem sie viel zu selten saßen. Als Anne
auftauchte, war sie bereits für die Arbeit fertig angezogen und hatte sich dezent gestylt. Sie verströmte
einen Duft von Vanille und Haarspray, als sie in ihrem eleganten Zweiteiler mit dem weißen
Einstecktuch, das zum Outfit der Bank gehörte, in die Küche trat.
»Erwarten wir noch Besuch?« Freudig strahlend kam sie näher und küsste ihn, nachdem sie einen
Blick auf das Frühstück geworfen hatte.
»Nicht, dass ich wüsste. Ich dachte, wenn ich schon aus dem Bett flüchte, kann ich die Zeit auch
sinnvoll nutzen.«
2.
Eine halbe Stunde nachdem Anne zur Arbeit aufgebrochen war und er die Reste des Frühstücks
weggeräumt hatte, schloss er die Haustür hinter sich. Er hatte einen Entschluss gefasst, den er
hoffentlich nicht bereuen würde. Er wollte zu Sean Harrison und anschließend in sein Büro fahren
und dort gegebenenfalls nochmals unter vier Augen mit Elijah Kuijers sprechen. Er musste sein
Team in guten Händen wissen und würde Sean Harrison bitten, das Training seiner Einheit zu
übernehmen, auch wenn er aktuell außer Dienst war und sich bisher nicht entschieden hatte, ob er
aktiv weiter machen wollte. Ryan wusste allerdings nicht genau, ob Sean überhaupt gesundheitlich in
der Lage war, zumindest vorübergehend an seinen Posten zurückzukehren. Er wollte jedoch sein
Glück versuchen und ihn darum bitten, ihn ein paar Tage zu vertreten. Zumindest beim Training,
denn wenn es um Trainingseinheiten ging, gab es keinen Besseren. Auch bei Missionen konnte
Harrison punkten, aber Ryan erwartete nicht, dass Sean eine solche Planung übernahm oder sich gar
in einen Einsatz begab, sollte er länger weg sein. Aktuell gab es keine geplanten Operationen und für
den Fall einer spontanen Mission würde sich sicher ein Weg finden.
Er wusste nicht, wie lange er weg sein würde. Ein paar Tage, eine Woche oder vielleicht sogar
länger. In einem solchen Fall würde Kuijers sich hoffentlich bereit erklären, auch das Bravo-Team
anzuführen und Joe und Darrel bei der Planung und Ausführung unterstützen. Auch wenn Ryan sich
sicher war, dass die beiden diese Aufgaben ohne Probleme ohne Kuijers bewältigen würden.
Als er eine knappe halbe Stunde später bei Sean und seiner Lebensgefährtin Emelie vorfuhr,
schloss Emelie gerade die Tür hinter sich. Sie trug eine Ledertasche bei sich, was Ryan vermuten ließ,
dass auch sie zur Arbeit aufbrach. Sie betreute Kinder, die im Leben wenig Glück gehabt hatten und
schwer zu händeln waren. Emelie war eine temperamentvolle Frau mit langen, pechschwarzen
Haaren und rehbraunen Augen, die ihm nun, wo er ausgestiegen war, interessiert entgegensah. Ryan
beeilte sich, seinen Traverse zu verlassen. Die Frau hatte ihre Tasche in ihren silbernen Ford
geworfen, stand aber immer noch an der Fahrerseite ihres Wagens und sah ihm voller Erwartungen
entgegen.
»Ist was passiert?« Sie legten den Kopf prüfend auf die Seite. Sie sah aus, als wolle sie ihn, sollte er
schlechte Nachrichten haben, am Betreten des Hauses hindern.
»Nein.« Ryan winkte ab. Noch vor kurzer Zeit hatte er sich mit Sean ein Büro geteilt und ihn
häufiger mitgenommen. »Ich wollte nur mal vorbeischauen«, log er und hoffte, dass sie nun einfach
ihrem normalen Tagesablauf folgen würde und er die Möglichkeit bekam, in Ruhe mit Sean zu
sprechen.
»Keine Base heute?«
Er konnte die Skepsis in ihren Augen erkennen, wollte ihr jedoch nichts von seinem Anliegen
sagen. Er fürchtete, dass sie Sean davon überzeugen würde, abzulehnen. Der ehemalige Captain des
Alpha-Teams hatte seine Verletzung längst nicht verwunden, worüber Ryan sich sehr bewusst war
und doch benötigte er seine Hilfe. Nur hatte er keine Idee, wie er Emelie genau das klarmachen
wollte. Durch ihre Arbeit war es schwer, sie mit Argumenten auszutricksen. Sie hatte ein fantastisches
Gespür für Lügen und Halbwahrheiten, was mit seinem Anliegen in diesen Sekunden alles andere als
günstig war. Das Beste wäre, wenn sie nun einfach in ihren Wagen stieg und an die Highschool fuhr,
an der sie arbeitete.
Emelie kniff ein Auge zu. Sie versuchte ganz offensichtlich, in ihn hineinzuschauen, als hätte sie
schon die Fährte aufgenommen und ahnte, was er hier wollte.
»Später dann. Ich dachte ich schau mal nach, ob er das frühe Aufstehen noch drauf hat.« Er
bemühte sich, nicht so zu klingen als verbarg er etwas.
»Mhm.« Nun bildeten sich tiefe Falten auf ihrer Stirn und er fürchtete, dass sie ihm gleich sagen
würde, er solle Sean nicht zu irgendetwas überreden, was ihm nicht guttat. »Na gut, ihr macht eh, was
ihr wollt. Viel Spaß.« Sie richtete sich kurz auf, setzte sich dann auf den Fahrersitz und zog die Tür
zu, wobei sie ihn nicht aus den Augen ließ. Dass sie mit ihren Worten klang, als würde sie mit einem
Teenager sprechen, sprach er nicht aus. Er war froh, als sie ihren Wagen von der Einfahrt lenkte. Ihr
nachsehend machte er sich auf den Weg zur Haustür, die sich öffnete, ehe er die Klingel betätigen
konnte und just in dem Augenblick, in dem er nochmals über die Schulter gesehen hatte, da er
fürchtete, Emelies Augen lägen immer noch auf ihm.
»Welche Frage soll ich dir als Erstes stellen? Die, ob sie dich gefressen hat oder was du willst?«
Sean öffnete mit mies-gelauntem Tonfall die Tür. Er trug nur eine Shorts und stand mit nacktem
Oberkörper vor ihm. Ryan zwang sich, seinen Blick von der Narbe zu lösen, die sich über die
Schulter bis zum Hals zog und rosa hervorstach.
»Da ich hier stehe, hat sie mich nicht gefressen. Ich will mit dir reden«, beantwortete er die Fragen
und zwang sich, Sean ins Gesicht zu schauen.
»Über die Arbeit?« Sean verschränkte die Arme vor der Brust und machte keine Anstalten, ihn
einzulassen. Ein Verhalten, welches er hätte kommen sehen müssen.
»Ja.« Zu lügen hätte keinen Sinn gehabt. Sean würde ihn durchschauen. Jedoch konnte Ryan in
diesen Sekunden nicht erkennen, wie sein Gegenüber antworten würde, da der immer noch mit
verschränkten Armen und undurchdringlicher Miene vor ihm stand und sich nicht von der Stelle
bewegte.
»Was für Arbeit?«, murrte er schließlich, als ihm bewusst zu werden schien, dass Ryan nicht gehen
würde.
»Können wir das drinnen besprechen?«
»Was für Arbeit?«, wiederholte Sean und sein Gesicht schien sich noch weiter zu verfinstern.
»Bitte.« Es gefiel ihm nicht, Sean anzubetteln, aber er hatte keine andere Möglichkeit. Er wollte
das Team vor Clarksons Launen schützen und Sean war durch seine Launenhaftigkeit und seine harte
Art prädestiniert dafür, sich mit Clarkson anzulegen und so Zeit zu schinden.
Sean atmete durch und hustete. »Komm rein. Kaffee ist in der Küche, ich komm gleich.« Sean trat
zur Seite und deutete ins Haus.
»Danke.«
Ryan ging an Sean vorbei und betrat wenige Meter weiter die Küche. An der Kaffeemaschine griff
er in den darüber hängenden Schrank und nahm sich eine Tasse, während Sean in einem anderen
Zimmer verschwand. Da er davon ausging, dass auch Sean eine Tasse wollte, griff er eine zweite.
Einen Augen-blick musterte er die Möglichkeiten des Vollautomaten, dann schob er seine Tasse unter
den Auslauf und drückte auf eine der Tasten. Die Maschine erwachte zum Leben, ein Mahlwerk zer-
kleinerte Bohnen und er roch, wie sich der Duft der Kaffee-bohnen aromatisch im Raum verteilte.
Wasser wurde aufgebrüht und kurz darauf floss sein Überlebenselixier in die schwarze Tasse.
»Was soll es für dich sein?«, rief Ryan Sean zu.
»Schwarz«, kam die knappe Antwort nur Sekunden, ehe Sean in der Küchentür auftauchte. Er
hatte sich ein Hemd übergeworfen und eine Jeans angezogen. Ohne ihn anzusehen, knöpfte er das
Hemd zu und sah Ryan dabei zu, wie er eine weitere Tasse Kaffee zubereitete. Um die Füße seines
Kame-raden schmiegte sich eine schneeweiße Perserkatze, die bei ihren Runden Ryan genau im Auge
behielt. Es wirkte, als wolle sie Sean beschützen und als würde sie ihn schon beim kleinsten falschen
Atemzug zerfleischen. Wie es ihr gelang, ihn nicht eine Millisekunde aus den Augen zu lassen,
verwunderte Ryan einen Moment so sehr, dass er seinen Blick nicht von dem gepflegten Tier nehmen
konnte.
Schließlich deutete er auf die Kaffeemaschine. »Sollten wir auch anschaffen. Dann muss nicht
immer einer die Kanne im Auge haben.« Er schaffte es, seinen Blick von Queen zu lösen, die für ihre
Abneigung Männern gegenüber berüchtigt war. In diesen Sekunden musste er sich eingestehen, dass
er nicht alleine mit ihr in einem Raum bleiben wollte.
»Dafür Wasser, Bohnen, Trester und so weiter. Glaub mir, eine normale Maschine ist mir lieber.
Das Teil kann wahr-scheinlich auch Atome spalten.« Sean deutete auf die Kaffee-maschine.
Ryan schmunzelte, als Sean näher kam und den fertigen Kaffee entgegennahm. »Also, was für
Arbeit? Was ist los?« Sean wirkte entspannter als noch vor einigen Minuten und deutete nun auf die
Stühle, die an dem Tresen standen, der als Küchentisch diente. Ryan witterte seine Chance.
»Ich hab da ein kleines Problem mit Clarkson.« Würde es helfen, wenn er den
Verteidigungsminister sofort erwähnte? Schließlich konnte Sean Clarkson ebenso wenig leiden wie sie
alle.
»Und deswegen tauchst du hier um diese Zeit auf? Jhesus, auch wenn wir nicht immer einer
Meinung sind und du im Moment wohl froh bist, dass ich nicht da bin … Eine
Meinungsverschiedenheit mit Clarkson ist nicht der Grund, warum du hier bist. Mit dem kommt
niemand klar. Und ich glaube nicht, dass du mich darum bitten wirst, ihn direkt umzubringen, auch
wenn ich das wahrscheinlich sogar machen würde.« Sean atmete schwer durch und nahm einen
Schluck Kaffee, woraufhin die Katze auf seinen Schoss sprang und es sich dort unter Seans Streicheln
gemütlich machte.
»Weißt du noch, die Sache mit Derrin in Kabul?« Ryan hielt die Tasse mit beiden Händen und
musterte sein Gegenüber intensiv. Sean wirkte blass und erschöpft. Schon beim Sprechen war ihm
aufgefallen, dass er schnell außer Atem zu sein schien.
»Als ob man das vergessen würde.« Sean hielt seinem Blick stand. »Wenn man dich hätte
rauswerfen wollen, hätte man es da machen müssen. Dass du überhaupt gedacht hast, dass du das
alleine durchziehen kannst …« Sean schüttelte den Kopf und schmierte ihm seine Denkfehler
förmlich unter die Nase. Wobei es kein Denkfehler gewesen war. Die Konsequenzen waren ihm zu
dem Zeitpunkt klar gewesen, nur hatte er sie ausgeblendet.
»Hätte er können«, begann Ryan, ohne auf seine Fehler einzugehen. »Das will er jetzt nachholen.«
Er bemerkte, wie Seans Augenbrauen nach oben wanderten und sich in den grün-braunen Augen
seines Kollegen die unausgesprochene Auffor-derung abzeichnete, weiterzusprechen. »Er hat mir die
Pistole auf die Brust gesetzt. Wenn ich nicht springe, sprengt er das Team. Dann sitzen wir alle auf
der Straße. Und ich befürchte, dir geht er dann auch noch ans Geld.«
An Seans erschrockenem Ausdruck konnte er erkennen, dass er nun Zeit hatte, um alles zu
erläutern und seine Gedanken offen zu legen. Diese Erklärung zog sich in die Länge, da er vor allem
immer wieder erwähnte, dass er nicht wollte, dass man das Team auflöste. Zum ersten Mal, seit er im
Team war, sprach er seine Gefühle offen aus. Erklärte Sean, wie wohl er sich fühlte, und dass ihm die
Verantwortung, die er trug, deutlich bewusst war. Dass er gewillt war, zu Clarksons Spielball zu
werden, damit alle anderen im Team weiterhin das machen konnten, was sie alle sich hart antrainiert
hatten. Sean saß ihm die gesamte Zeit schweigend gegenüber, ohne dass Ryan auch nur den Ansatz
einer Idee hatte, was sein Gegenüber dachte. Als er geendet hatte, lagen seine Finger immer noch an
der halbvollen Kaffeetasse und zwischen Seans Augenbrauen bildete sich eine tiefe Zornesfalte.
»Dieser verdammte Hurensohn«, knurrte Sean und hatte die Hände zu Fäusten geballt. »Der
glaubt echt, er kann das alles durchziehen, oder? Irgendwann muss er doch auf die Schnauze fliegen.«
»Denk an Zimmer. Die sitzt immer noch ein und keiner weiß wann und ob er sie wieder rauslässt.
Er hat ihr soviel Mist in die Schuhe geschoben, dass es ewig dauern kann, bis sie raus-kommt. Ob sie
es wirklich getan hat, oder ob das alles ein riesen Fake ist, scheint niemand zu kontrollieren«, gab er
zu bedenken. »Cheese kann ihn auch nicht leiden. Ich weiß aber nicht genau, was zwischen ihnen
vorgefallen ist. Kann mir aber vorstellen, dass er nur hier ist, weil Clarkson das wollte.« Ryan konnte
sich nicht daran hindern auf Agent Zimmer, die von Clarkson ins Gefängnis gebracht worden war,
und Elijah Kuijers anzuspielen.
»Man sollte zum Präsidenten gehen«, raunte Sean mit hörbarem Zorn in der Stimme.
»Und du meinst, der glaubt uns, sofern wir überhaupt angehört werden?« Ryan konnte sich nicht
vorstellen, dass der Präsident ihnen ohne weiteres Glauben schenken würde. Sie mussten etwas
Handfestes liefern. Etwas, das Clarkson nicht widerlegen konnte. Etwas, das so hieb- und stichfest
war, dass selbst der Verteidigungsminister niemanden mehr fand, der ihn aus seiner Misere rettete.
Bisher gelang ihm nämlich genau das immer noch.
Sean murrte etwas Unverständliches und starrte einen Moment in seine Tasse, ehe er seinen Blick
wieder hob.
»Jetzt zur Arbeit. Was erwartest du von mir?«
Ryan hatte erwähnt, dass er am kommenden Tag in Langley sein musste und somit noch an
diesem Abend aufbrechen würde. Auch hatte er davon gesprochen, dass er fürchtete, dass Clarkson
ihm einen Auftrag geben würde, nur hatte er bisher nicht gesagt, was er sich von Sean erhoffte.
»Trainier das Team, halt sie am Laufen und sorg dafür, dass kein Mount Everest auf dem
Schreibtisch entsteht.« Ryan lehnte sich zurück. »Bitte.«
Sean schwieg, seine Miene war undeutbar.
»Bitte. Clarkson wartet nur darauf, dass Joe einen falschen Schritt macht oder dass er Darrel das
Leben zur Hölle machen kann.«
»Und was macht er mit mir?« Nun stierte Sean ihn an und Ryan meinte den Protest im Grünbraun
seiner Iris sehen zu können. Ryan schloss die Augen. Diese Frage hatte er sich ebenfalls schon gestellt
und keine befriedigende Antwort darauf gefunden.
»Keine Ahnung, aber du kannst ihm die Stirn bieten.«
»Können die anderen auch. Und wenn er das Team auflösen will, dann macht er das, egal ob
jemand Protest einlegt oder nicht.«
Ryan schloss die Augen. Er hatte keine Ahnung, wie er Sean, der seinen Stuhl zurückschob,
woraufhin die Katze fauchend von seinen Beinen sprang, von seiner Idee überzeugen konnte.
»Komm schon, der Typ will alles kaputt machen, was wir, was ihr und gerade auch du aufgebaut
habt, weil er irgendwelche Launen hat. Du sagst doch selbst, dass das Team mehr als Kameraden
sind. Alter, das ist Familie, verdammt. Hier hält jeder den Kopf für den anderen hin und nebenbei
retten wir die Ärsche von Leuten irgendwo da draußen. Ich will nicht, dass dieser Idiot, der in seinem
Leben noch nie wirklich was gerissen hat, das kaputt macht. Ich will, dass er seinen Posten räumen
muss. Für immer. Ich habe keine Lust, noch mehr Freunde und Kameraden zu verlieren, weil er
denkt, wir sind ersetzbare Figuren in seinem verdammten Spiel.« Nun war auch er aufgestanden und
lehnte sich am Tresen an, während Sean erneut zur Kaffeemaschine gegangen war. Ryan spürte nicht
nur seinen steigenden Blutdruck, sondern ebenfalls Zorn gegen Clarkson aufkochen. Dieser Mann
sollte nicht länger über die Geschicke irgendwelcher Soldaten entscheiden.
Minutenlang stand Sean einfach nur da. Ryan starrte den Rücken des ehemaligen Captains des
Alpha-Teams an, dann drehte der sich zu ihm um.
»Ok, du gehst nach Langley, ich geh ins Büro, nebenbei spreche ich mit Paul und Mike und dann
machen wir einen Plan, wie wir dieses korrupte Arschloch da wegbekommen.«
»Danke Mann.« Er ging auf Sean zu und wollte ihm die Hand reichen.
»Dank mir nicht zu früh, vielleicht geht das nach hinten los und am Ende sind trotzdem alle
arbeitslos.« Sean lehnte die Geste ab und trat an ihm vorbei.
»Du warst es doch, der vor ein paar Wochen noch gesagt hat, dass Blut dicker ist als Wasser und
du ihn gerne zu Fall bringen willst.« Ryan hatte lange damit gewartet, Sean an diese Worte zu
erinnern, die er ausgesprochen hatte, als er das erste Mal nach seiner schweren Verletzung wieder in
der Base gewesen war. Schon damals hatte er Clarkson den Krieg erklärt, nur hatte ihm
wahrscheinlich bis jetzt die Kraft und vielleicht auch die Motivation gefehlt. Wenn Clarkson weniger
Wert auf seine politischen Geschäfte und mehr auf seine Soldaten gelegt hätte, wäre Sean nicht
verletzt worden und Ryan hätte nicht viele alte Kollegen verloren. Sie mussten darauf hoffen, dass der
Minister irgendwann einen entscheidenden Fehler machte oder sie ergriffen die Initiative und sorgten
für den Fall von Asher Clarkson.
»Ich weiß«, murrte Sean, ging aber nicht weiter auf seine eigenen Worte ein, sondern schwieg
einen Augenblick, ehe er ihm wieder in die Augen sah. »Eine Frage noch.«
Ryan hob interessiert die Brauen. Was war offengeblieben? Was nicht geklärt?
»Wer erklärt Emy das?«
»Sorry, da bin ich raus.« Er hob die Hände. »Ich muss in naher Zukunft zum Flughafen.«
»Du könntest sie an der Schule besuchen.«
Ryan verzog das Gesicht, als Sean diese Möglichkeit an-sprach und ihn so indirekt aufforderte,
genau das zu machen.
»Mich bringt sie um. Ich hab ihr versprochen, dass ich mich noch ein paar Wochen schone, dann
mit dem Training anfange und eventuell zurück ins Büro gehe, aber nicht mehr. Die alten Knochen
wollen nicht mehr da raus«, spielte Sean auf einen möglichen Einsatz an.
»Die Knochen oder Emy?« Ryan stellte die Frage, ehe er wirklich darüber nachgedacht hatte. Das
Letzte, was er wollte, war die Absprachen des Paares zu kritisieren. Aber in ver-gangener Zeit hatte er
immer mal wieder auch durch Erzähl-ungen von Nathan das Gefühl gewonnen, dass Emelie die
Hand über Sean hielt und so verhinderte, dass der tat, was er wollte. Oft hatte es so geklungen, als
bemuttere Emelie Sean.
»Beide.« Sean atmete schwer durch. »Nochmal überleb ich das nicht. Ich fühl mich, als wäre ich
um dreißig Jahre gealtert. Meine Pumpe macht auch nicht mehr ganz so zuverlässig, was sie soll. Emy
hat recht, wenn sie mir Knüppel vor die Beine schmeißt«, erklärte er leise, was Ryan nicken ließ.
Bisher hatten sie nie wirklich offen über Seans mögliche Beweggründe, warum er nicht mehr
zurückkehren würde, gesprochen. Dass dieses Gespräch dringend notwendig war, wurde ihm nun
bewusst.
»Also, du Schule und ich Büro?« Sean musterte ihn mit einem herausfordernden Ausdruck.
»Auf keinen Fall alleine, die bringt mich um.« Ryan schüttelte den Kopf. Emelie würde ihm
selbigen waschen und es unter Umständen schaffen, dass er einknickte. Aber dann hatte er keinen
Ausweichplan. Vielleicht waren seine Chancen größer, wenn sie beide mit ihr sprachen und
zusammen versicherten, dass Sean den Posten nur kurzfristig einnehmen und auf keinen Fall in einen
Einsatz gehen würde. Sie mussten doch eigentlich nur die passenden Argumente finden, um ihr klar
zu machen, dass es nur darum ging, dass nach außen hin jemand auf dem Posten des Captains war,
der diesen mit der nötigen Kompetenz bekleiden konnte.
3.
»Ich mache es so oder so«, erklärte Sean, in einem Flur in der Weill C. Crawford High School
stehend. Emelie, die die Hände in die Hüften stemmte, an ihm vorbei zu Ryan sah und ganz
offensichtlich überlegte, wen von ihnen sie als Erstes töten sollte, stieß empört die Luft aus und klang
dabei ein wenig wie eine Giftschlange. Ihr erster Fehler, der zu dieser schlechten Laune geführt hatte,
war der, dass sie Emelie während des Unterrichts gestört hatten. Ihr zweiter war der gewesen, dass sie
Emelie ohne Umschweife gesagt hatten, was sie geplant hatten. Jetzt schwebten sie in einer nicht zu
unterschätzenden Gefahr. Emelie würde ihnen nun den Gegenwind liefern, den sie überwinden
mussten. Denn Sean wollte Ryan gern den Gefallen tun, um den er ihn gebeten hatte. Nur die in
Emelies Mimik aufziehenden dunklen Unwetterwolken machten klar, dass es nicht leicht werden
würde, sie zu überzeugen.
»Du sollst dich erholen.« Sie warf einen schnellen Blick über die Schulter durch das kleine Fenster
der Tür, hinter der sich ihre Klasse befand. Noch war es dort still, aber es war nicht auszuschließen,
dass die Schüler bald die Abwesenheit ihrer Lehrkraft ausnutzen würden. Und dass das ihre Laune
und Kooperationsbereitschaft bessern würde, bezweifelte er.
»Ich schwöre dir, dass ich keine Bäume ausreiße, dass ich das Land nicht verlasse und dass ich es
langsam angehen lasse.« Er bemühte sich, dieses Versprechen glaubhaft rüber zu bringen.
Dass Ryan ihn nun seltsam ansah, ignorierte er. Er klang sehr wahrscheinlich wie ein Kind, das die
Zusage bei seiner Mutter abgeben musste, pünktlich heimzukommen. Wenn er ehrlich zu sich selbst
war, wurde er im Augenblick genau so behandelt. Er liebte die Frau, die ihn nun strafend ansah, aber
er war nicht mehr gewillt, nur auf dem Sofa zu sitzen und seine kleinen Physioeinheiten zu
absolvieren. Alleine der Gedanke, noch Wochen zu warten, ehe er wieder mit dem intensiven
Training beginnen konnte, das er jeden Tag absolviert hatte, nervte ihn. Ihm war bewusst, dass sein
Leben sich radikal geändert hatte, aber er wollte sich nicht mehr verkriechen und in irgendeine
Opferrolle verfallen.
»Ich kenne dich, Sean Harrison.« Ihre Augenbrauen schoben sich nach oben, als sie ihn
durchdringend ansah.
»Genau deswegen sollte dir klar sein …«
»Versteh doch endlich, dass ich mir Sorgen mache. Dass ich Angst habe.« Ihre Stimme begann zu
zittern, als sie ihn unterbrach. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah zu Boden, um ihm
nicht mehr in die Augen schauen zu müssen. Als sie wieder den Kopf hob, konnte er Tränen in ihren
Augen sehen. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie Ryan seinen Blick abwandte. »Ich will dich
nicht verlieren, ich will das nicht nochmal, Sean. Das kann ich nicht. Ich liebe dich und ich weigere
mich, dich wegen deines Dickkopfes zu verlieren. Es gibt noch mehr als dein Team. Und ob du es
glaubst oder nicht, man kann dich da ersetzen. Ich will aber nicht, dass man dich ersetzen muss, weil
du tot bist, verstehst du?« Ihre Stimme bebte leicht, als sie ihre Gedanken aussprach. Ob diese Worte
nun schlimmer waren als die Tränen in ihren Augen, wusste er nicht. Allerdings spürte er, wie sein
Wille, für das Team und seine Familie in der Base zu kämpfen, ins Wanken geriet, da ihr Gesagtes
den Kern trafen. Er war ersetzbar. Die Zähne aufein-anderpressend rang er mit sich.
»Er muss nicht wieder raus. Niemand würde ihn gehen lassen. Er soll nur das Training
überwachen, ein oder zwei Papiere unterschreiben und überarbeiten. Aber er wird nicht in einen
Einsatz gehen, das verspreche ich dir.« Ryan trat näher an sie heran. »Es ist nur übergangsweise.
Versprochen. Ich beeile mich, damit ich schnell wieder hier bin. Clarkson sucht nun mal nach Fehlern
und Sean ist nun mal Sean. Der wird sich von diesem Idioten nicht ins Boxhorn jagen lassen. Emelie
bitte, ich brauche seine Hilfe. Ich brauche deine Hilfe.«
Emelie wich ihren Blicken mit einem Augenrollen und einem Seufzen aus und Sean war gespannt,
ob und wie lange sie ihren Bitten standhalten konnte. Ihr Blick wanderte von Ryan zu Sean und
wieder zurück, um Ryan dann intensiv in die Augen zu schauen.
»Versprichst du mir, dass er hierbleibt?« Ihre Stimme zitterte immer noch, als sie Ryan anstarrte.
»Hoch und heilig.« Ryan hob die Hand zu einem Schwur.
»Nur dieses eine Mal?«
Erst nachdem Ryan genickt hatte, richtete sie ihr Augenmerk wieder auf ihn.
»Ich kann dich nicht aufhalten, oder?«
»Nein.« Den Kopf schüttelnd legte er seine Hände an ihr Gesicht und strich eine Träne fort, die
sich aus ihren Augen gestohlen hatte. »Sie sind genauso Familie für mich, wie du es bist. Aber gerade
will einer diese Familie zerstören. Außerdem weißt du, dass ich eh zurückgegangen wäre und wenn es
nur zum Putzen wäre. Ich kann nicht anders. Irgendwo in meinen Genen ist der Mist vorgemerkt.«
Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn, was sie langsam nicken ließ, weswegen er ihr ein Danke
zuflüsterte. »Ich verspreche dir, dass ich es anderen überlasse, irgendwelche Arschlöcher zu jagen und
zu fangen, aber lass mich wenigstens Kaffee für meine Freunde kochen.« Er zwang sich zu einem
schiefen Grinsen.
»Und wehe, du brichst dein Versprechen.« Sie deutete mit einem gequälten Ausdruck auf Ryan.
»Ich hetz die Katze auf dich.«
»Okay, das nenne ich mal eine Drohung.« Ryan hob, sich ergebend, die Hände.
Sean ignorierte, dass Ryan Emelie genau beobachtete. Bisher hatte sie nur wenige Male ihre
Ängste ausgesprochen, dabei waren, abgesehen von der Zeit in der Klinik, nie Tränen geflossen. Er
war der Meinung gewesen, dass sie, seit er zuhause war, damit konform ging, was er tat oder plante.
Dass er seine Rückkehr in die Base nun in Worte gefasst hatte, schien an ihr zu nagen. Unter
Umständen hatte sie wirklich geglaubt, dass er zuhause bleiben würde. Dass er in den Ruhestand
gehen oder sich einen anderen, ungefährlicheren Job suchen würde. Aber dieser Gedanke war so
fremdartig, dass er ihn nicht einmal richtig beenden konnte. Er gehörte in die Base, zu seinen
Kameraden. Er hatte seinen Kameraden das Versprechen gegeben, Clarkson zu Fall zu bringen.
Emelie war sogar dabei gewesen, als er diesen Schwur ausgesprochen hatte.
»Geht, ich muss hier noch ein paar Kindern etwas beibringen. Sonst überlege ich mir das doch
anders.« Sie lächelte, als sie den Flur entlang deutete, über den sie gekommen waren.
Einlass hatten sie nur erhalten, weil der Hausmeister Sean erkannt hatte. Normalerweise konnten
sie nicht einfach so in die Schule gelangen. Selbst Eltern mussten einen guten Grund vorweisen und
angemeldet sein. So sollten die Kinder nicht nur vor möglichen Attentätern geschützt werden. Auch
davor, dass Eltern sie hier besuchten, denn nicht jeder dieser Besuche verlief so, dass die Kinder sich
am Ende noch mit einem guten Gefühl in die Schule begaben, wie Emelie ihm vor Monaten erklärt
hatte. Dass seine Eltern nie auf den Gedanken gekommen waren, ihn oder seine Brüder in der Schule
zu besuchen, hatte er verschwiegen. Ihre Eltern waren nur aufgetaucht, wenn es Probleme gegeben
und die Lehrer sie um einen Besuch gebeten hatten. Das war allerdings nicht selten der Fall gewesen.
Ihre Eltern hatte man häufig in die Schule bestellt. Heute kamen viele Eltern auch, weil sie der
Ansicht waren, dass ihre Kinder von den Lehrkräften nicht fair benotet wurden. Vieles schien sich in
den letzten Jahrzehnten verändert zu haben. Diese Zeit hatte ganz offensichtlich nicht nur eine
exorbitante Vermehrung der Helikoptereltern hervorgebracht, sondern auch eine Jugend, die
irgendwie anders tickte.
All das war einer der Gründe, warum er sich hin und wieder älter fühlte, als er war. Die Zeiten
hatten sich rapide verändert und er bezweifelte, dass diese Änderungen gut waren.
Zwei Stunden später hatte Ryan sich verabschiedet und er saß auf dem Stuhl, auf dem Ryan sonst
immer gesessen hatte, als sie sich dieses Büro noch geteilt hatten. Auf seinem alten Platz saß ein
blonder, blauäugiger Mann, der öfter über den Bildschirm des PCs zu ihm sah als auf das, was er
gerade dort eintippte. Bisher war er Elijah Kuijers nur kurz begegnet und Nathan hatte sich in den
ersten Tagen sehr abwertend über den neuen Captain des Alpha-Teams geäußert. Nach einem ersten
Einsatz war aus dieser negativen Bewertung zumindest eine neutrale geworden. Obwohl Sean nun die
Gelegenheit gehabt hatte, einige Worte mit Elijah zu wechseln, konnte er den Mann, der sich
während des Gesprächs mit Ryan ebenfalls sehr vernichtend über den Verteidigungsminister geäußert
hatte, immer noch nicht genau einschätzen. Sean wusste nicht, ob es weitere Punkte geben würde, in
denen sie sich einig waren, oder ob es nur Clarkson sein würde, bei dem sie konform gingen. Wobei
es nicht schwierig war, den Verteidigungsminister nicht zu mögen. Dieser Mann konnte einen nur
leiden, wenn man exakt seiner Ansicht war und das war schwer. Clarkson hatte vor einigen Wochen
einen Rüstungsdeal mit dem Grund abgeschlossen, die amerikanischen Soldaten seien durch die Bank
mies ausgestattet und vor allem schlecht ausgebildet. Hierbei handelte es sich schlichtweg um eine
Lüge. Ausrüstung konnte nie neu und gut genug sein, aber zu behaupten, dass ihre Männer und
Frauen schlecht ausgebildet seien, war in Seans Augen eine Unterstellung, die schlimmer nicht sein
konnte. Außerdem formte diese Beschuldigung ein Außenbild, dass keinem gefallen konnte.
Was genau der Minister mit diesem Bild erreichen wollte, wusste wohl nur er. Denn dadurch
waren die Preise seiner Einkäufe wahrscheinlich nicht gesunken. Zu dritt hatten sie hinter der
verschlossenen Tür darüber gesprochen, dass man Clarkson aus dem Amt drängen musste.
»Also Harrison, wie machen wir es? Ich muss gleich raus.« Kuijers war von seinem Platz
aufgestanden und stellte einen Ordner in eines der Regale, während er ihm die Frage gestellt hatte.
Einen Moment über seine Antwort nachdenkend, beobachtete er den neuen Captain des Teams. Er
hatte genau die Frage gestellt, auf die Sean noch keine zufriedenstellende Antwort gefunden hatte.
Wie brachte man einen der mächtigsten Männer des Landes zu Fall, der die Rückendeckung des
Präsidenten genoss?
»Ich habe noch keine Ahnung, aber es muss irgendwo einen Punkt geben, an dem er einen Fehler
gemacht hat. Den müssen wir finden«, forderte Sean, ohne zu wissen, wie er diese Forderung
umsetzen wollte.
»Oder er muss ihn erst machen.« Kuijers war an die Tür getreten. »Ich geh aufs Gelände, soll ich
White oder Burnett irgendwas ausrichten?«
»Nein, danke, ich spreche später selbst mit ihnen. Ich werde mal zu Bishop und den anderen
gehen.« Er hatte nicht erwartet, dass Kuijers ihm sofort eine Lösung für ihr Problem lieferte, war sich
aber sicher, dass der gebürtige Niederländer ihre Problematik den gesamten Tag im Kopf haben und
auf der Suche nach einer Lösung sein würde.
Mit einem bestätigenden Nicken verschwand Kuijers aus dem Büro. Sean widerstand dem
Wunsch, ebenfalls rauszugehen und sich dem Training der Teams anzuschließen. Sein Körper würde
ihm sehr schnell zeigen, dass er noch nicht so weit war und vielleicht auch nie wieder an diesen Punkt
kommen würde. In den kommenden Tagen würde er das Training begleiten und darauf achten, dass
zumindest das Bravo-Team nicht aus der Form kam. Unter Umständen konnte er dann auch einen
Blick auf die Methoden von Kuijers werfen. Ansonsten würde sein Platz hier sein. An einem
Schreibtisch mit seinen Erzfeinden: Papier und Stift. Er würde Formulare ausfüllen, Berichte
schreiben und, und das war der einzige Lichtblick, wenn er an die Aktenberge dachte, Clarkson
durchleuchten. Der Umstand, dass der Präsident nach der Pfeife des Verteidigungsministers tanzte,
gefiel ihnen allen nicht. Der oberste Staatschef war bisher nicht eine Sekunde auf die Idee gekommen,
das Handeln seines Ministers zu hinterfragen. Bis heute hatte er ihm immer Recht gegeben und
schien glücklich zu sein, wenn er nicht mit, in seinen Augen, belanglosen Dingen belästigt wurde.
Sean erhob sich langsam und ließ seinen Blick einen Moment über die Schreibtische und
Aktenordner schweifen. Es hatte sich nicht wirklich etwas verändert. Es fühlte sich an, als wäre er nie
weggewesen. Und doch fühlte er sich unwohl in seiner Haut. Als wenn da jemand wäre, der ihm
sagen wollte, er gehöre nicht mehr hierher. Er strich sich mit den Fingern durch den Bart. Er hatte
geschworen, Clarkson zur Verantwortung zu ziehen. Vielleicht sollte er, wenn er diesen Kampf hinter
sich gebracht hatte, den Dienst quittieren. Nur in einem Büro zu sitzen – in dem er sich schon jetzt
unwohl fühlte – würde ihn wahnsinnig machen. Alleine der Gedanke, sich immer wieder mit
Menschen unterhalten zu müssen, die ähnlich wie Clarkson tickten – nein. Auch wenn er sich
wünschte zurückzukommen, es wäre nicht mehr wie vorher.
»Sean?«
Wenige Minuten später traf er auf Liv, die ihn entgeistert ansah, nachdem er an die Bürotür
geklopft hatte und eingetreten war.
»Schön, dass du mal reinschaust.« Sie hatte kurz von ihrem Bildschirm aufgesehen und tippte nun
noch einige Sekunden, ehe sie sich ein Stück mit dem Stuhl von ihrem Schreibtisch entfernte und ihn
interessiert ansah. »Was ist los?« Dass ihr schnell klar werden würde, dass er nicht hier war, weil er
irgendwem einen Besuch abstatten wollte, hätte ihm bewusst sein müssen. Nun war es an ihm, die
Agenten des Teams einzuweihen und am Ende dafür zu sorgen, dass sie sich im Notfall dumm
stellten und sagten, dass sie keine Ahnung hatten. Niemand sollte in irgendeiner Form Verdacht
schöpfen. Er war nur hier, um Ryan zu vertreten, der nach offizieller Aussage nur einige Tage in
Langley für Besprechungen verweilen würde. Sean bezweifelte allerdings, dass Ryan nur wenige Tag
nicht hier sein würde, und war gespannt, welche Ausrede es geben würde, sollte der eigentliche
Captain des Bravo-Teams nun wochenlang nicht vor Ort sein. Sie würden bestimmt von weiter oben
eine Order bekommen, in der unter einem Vorwand mitgeteilt wurde, warum Ryan nicht länger in
Langley bleiben würde als angekündigt. So würde auch in offiziellen Unterlagen alles aussehen, als
wäre alles legitim und nichts würde auf die Druckmittel hindeuten, die Clarkson nutzte.
»Ryan muss nach Langley und ich pass ein paar Tage auf seinen Schreibtisch auf. Clarkson schickt
ihn auf eine Solo-mission, aber das hast du nie gehört.«
»Langley?« Liv atmete schwer durch. »Droht er damit, hier den Rotstift anzusetzen?«
»Sieht so aus.« Sean bejahte und sank auf den freien Stuhl, auf dem sonst Rafael saß. Sie nickte
knapp, ehe sie zur Tür blickte.
»Das muss ein Ende haben«, befand sie und sah ihm direkt in die Augen.
»Deswegen bin ich auch hier. Wir müssen einen Weg finden, diese Machenschaften zu beenden.«
Er verschränkte die Arme vor der Brust.
»Dir ist klar, dass Clarkson schon ganz andere zum Schweigen gebracht hat, oder? Zimmer wird
wohl bald auf freien Fuß kommen, aber sie kann nie wieder ein Regierungs-gebäude betreten.
Abgesehen davon ist sie dann arbeitslos und ein schlechter Ruf eilt ihr sicherlich auch voraus.«
Sean gab ein zustimmendes Murren von sich. Er hatte noch keine Ahnung, wie er Clarkson zu Fall
bringen wollte. Er wusste nur, dass er es machen würde, und er würde die Tage hier nun nutzen,
einen Plan dafür zu entwickeln.
»Weiß er schon, was Clarkson von ihm will?« Liv hatte sich vorgebeugt und stellte die Frage
flüsternd, als könnte ihnen jemand zuhören.
»Nein.« Dass er davon ausging, dass Ryan es ihm auch dann nicht gesagt hätte, wenn er schon
wüsste, welchen Auftrag man ihm erteilen würde, verschwieg er. Zumindest würde Sean es so
machen, wenn er an Ryans Stelle wäre.
»Ist alles ok?« Anne löste Ryan aus seinen Gedanken, in denen er die Decke des Schlafzimmers
angestarrt hatte.
»Ja«, log er und mied es, ihr in die Augen zu sehen. Ok war seit einigen Stunden gar nichts mehr,
er hatte nur keine Idee, wie er ihr das erklären sollte. Vielleicht sollte er gar nichts sagen. Sie murmelte
etwas, was er nicht verstehen konnte, und schmiegte sich wieder an seinen nackten Oberkörper. Er
musste sich dazu zwingen, seine Hand auf ihren warmen, weichen, so vertrauten Körper zu legen.
Mit den Fingern begann er, kleine Kreise auf ihrer Haut zu zeichnen, doch seine Gedanken drifteten
erneut ab. Er konnte ihre Nähe gerade nicht genießen. Er konnte sich einfach nicht auf sie einlassen
und war froh, dass sie so müde war und wegdämmerte, ohne erneut Antworten zu fordern. Im Kopf
war er immer noch bei der Beisetzung einer jungen Ärztin, die Opfer eines Anschlags geworden war.
Dieser Anschlag hätte eigentlich einen Freund treffen sollen.
Der Tag war verlaufen, wie Ryan es erwartet hatte: Es waren jede Menge Tränen geflossen und er
hatte viel unterdrückte Wut in den Augen seiner Kameraden sehen können. Derrin Akram, der Mann,
dem das Attentat gegolten hatte, der zum Zeitpunkt der verheerenden Explosion nicht anwesend
gewesen war, hatte lange wie versteinert gewirkt. Erst am späten Nachmittag löste er sich ein wenig
aus seiner Starre und sprach mit den Gästen der Trauerfeier. Das gesamte Team der I.A.T.F, der
Eliteeinheit, in der Ryan diente, war vor Ort gewesen und hatte dem Afghanen Beistand geleistet.
Nicht zuletzt, weil sie mit ihm und der Ärztin befreundet gewesen waren. Das Team war eine
eingeschworene Familie aus Kameraden. Er hatte sich der Einheit vor einiger Zeit angeschlossen und
fühlte sich dieser Gruppe zugehörig und seinem Team gegenüber verantwortlich.
Sein Team.
Er stieß kurz die Luft aus. Er hatte nie eines haben wollen. Er hatte die Verantwortung eines
Captains nicht tragen wollen. Und doch hatte er den Posten seines Vorgängers übernommen. Erst
übergangsweise und dann irgendwie, ohne dass er es wirklich gewollt hatte, dauerhaft. Befehle zu
erteilen war noch nie ein Problem für ihn gewesen. Die Verantwortung, die dieser Posten mit sich
brachte, war zunächst ein Problem gewesen, inzwischen jedoch auch nicht mehr, da er genau wusste,
dass er für alles, was er tat und befahl, die volle Rückendeckung seiner Untergebenen hatte. Er
musste nie die Sorge hegen, dass seine Kameraden seine Worte in Frage stellten. Selbst dann nicht,
wenn etwas schief lief.
Untergeben.
Grinsend sah er kurz zu Anne, die die Augen geschlossen hatte. Niemand war ihm untergeben.
Eigentlich sah er alle im Team auf derselben Höhe. Keiner hatte weniger zu sagen. In Einsätzen
wurde kein Schritt gemacht, den nicht alle als sinnvoll erachteten. Sobald einer ein Problem hatte,
wurde dieses angesprochen und ausgelotet. Es wurde geändert und umgeplant, bis jeder zu hundert
Prozent hinter dem stand, was sie tun mussten.
Sein Team war für ihn wie eine Familie. Nicht nur die Männer und Frauen, mit denen er in
Einsätze ging, zählte er dazu, sondern auch die, die hier in der Heimat blieben. Frauen, Männer,
Kinder. Er war derjenige, der am Schreibtisch die Verantwortung dafür trug, dass jeder ein Gehalt
kassierte, jedem mit Problemen geholfen wurde. Er hatte für jeden jederzeit ein offenes Ohr und
bewegte im Notfall Berge, um zu helfen. Er wurde an höheren Stellen auch unbequem, wenn nicht
die Hilfe kam, die sie benötigten. Denn nur so konnte sein Team unbelastet in Einsätze gehen und
alles geben. Niemand musste sich dann um das Wohl der Zurückgebliebenen sorgen. Alles war
abgesichert und das meist gleich mehrfach. Keiner aus dem Team, kein Angehöriger würde im
schlimmsten Fall alleine dastehen. Mit einem solchen Wissen im Hinterkopf konnten sie ihre Arbeit
weit besser machen, als wenn sie sich sorgen mussten. Die Verantwortung für die Umsetzung der
Aufträge, die sie erhielten, lag bei ihm. Wenn etwas schief ging, war er der Erste, der den Kopf
hinhalten musste und sich zu rechtfertigen hatte.
Diese Absicherung war nun weggebrochen. Seine Einheit, seine Familie, seine Freunde könnten
alles verlieren. Ihren Wohlstand, ihre Wohnungen, einfach alles und das nur weil er vor einiger Zeit
einen Fehler gemacht hatte. Einen, der einigen das Leben gerettet hatte. Und am Ende hatte es dann
doch mindestens eines gekostet, von dem er gedacht hatte, er hätte es gerettet. Alya war tot. Noch
vor kurzem hatte sie sich bei ihm überschwänglich dafür bedankt, dass er geholfen hatte, sie hierher
zu bringen. Selbst Derrin hatte auf seine schüchterne Art durchblicken lassen, dass er froh war, sie
hier zu haben. Alya war eine talentierte, gut ausgebildete Ärztin gewesen, die ihn ebenfalls gerettet
hatte. Der auch er viel zu verdanken hatte.
»Ist wirklich alles ok? Du bist so angespannt«, murmelte Anne an ihn gekuschelt verschlafen und
streichelte über seine Brust.
»Ja, der Tag war nur ein bisschen doof«, flüsterte er und strich durch ihre seidigen Haare, spürte,
wie die Strähnen weich durch seine Finger glitten.
»Verständlich«, wisperte sie und schloss die Augen wieder.
Er konnte ihr nicht erzählen, was während der Trauerfeier passiert war. Er wusste nicht, wie er ihr
erklären sollte, dass sie alles verlieren könnten. Anne hatte einen guten Job, verdiente vielleicht sogar
ausreichend, um sie beide für den Übergang über die Runden zu bringen. Aber viele seiner
Teammitglieder hatten dieses Glück nicht. Sie waren darauf angewiesen, ihren Sold von der Navy zu
erhalten. Und es würde nicht beim einfachen Verlust des Jobs bleiben. Sie würden in ein mentales
Loch fallen, weil sie nichts Neues finden würden, da sie zum Teil Vorstrafen mitbrachten. Diese
Vorstrafen waren der Hauptgrund, warum Clarkson das Team loswerden wollte und er Idiot hatte
ihm nun ein Druckmittel geliefert. Clarkson hatte außerdem zu verstehen gegeben, dass die I.A.T.F
aufgelöst werden würde, wenn Ryan seinen Rücktritt erklären würde. Ein Captain, der nicht dem
entsprach, was als Bild nach außen geliefert werden sollte, konnte schließlich nur bedeuten, dass das
gesamte Team nicht mehr tragbar war. Clarkson würde, egal welche Formulierungen Ryan finden
würde, es am Ende so aussehen lassen, als würde der Staatsbürger einen Haufen Verbrecher
finanzieren, die mit Waffen unter dem Logo der Navy gegen jede Regel verstießen.
Eine Weile, nachdem er von seinem Alleingang in Afgha-nistan zurückgekehrt war, hatte er
gehofft, dass Clarkson seine Drohung nicht umsetzen würde. Dass es nur heiße Luft gewesen war,
dass die Wut des Ministers verrauchen oder er sie anders kanalisieren würde. Aber er hatte den
Verteidigungs-minister unterschätzt. Vielleicht war es Zufall gewesen, dass er ausgerechnet heute eine
Nachricht von Clarkson erhalten hatte. Womöglich war es auch eiskalte Berechnung.
Ryan hatte eine Textnachricht bekommen, eine simple Nachricht auf dem Handy, wie sie sie
ebenfalls erhielten, wenn ein Einsatz anstand. Er solle in zwei Tagen in Langley erscheinen. Niemand
sollte erfahren, warum er nach Virginia reisen musste. Er sollte sich eine Ausrede einfallen lassen, die
keine Fragen aufwarf. Mehr hatte nicht in der Textnachricht gestanden. Zeitgleich hatte ihn das
ungute Gefühl ereilt, auf das er förmlich gewartet hatte. Clarkson würde ihn wegschicken.
Irgendwohin, wo er den Kopf für irgendeinen Schwachsinn hinhalten musste. Alleine. Ryan war sich
nicht sicher, was ihm mehr Sorge bereitete. Dass er alleine arbeiten sollte oder dass er den Kopf
hinhalten musste. Ihm blieb vorerst nichts anderes, als abzuwarten, was genau Clarkson einforderte.
Dieses Abwarten beschäftigte ihn nun schon den ganzen Tag.
Seine Gedanken kamen nicht zur Ruhe. In den letzten Wochen waren so viele Menschen
umgekommen, die er ge-kannt, geschätzt und zu denen er aufgesehen hatte. Alya, der er bei der
Flucht aus Kabul geholfen hatte, war aktuell die Letzte einer langen Liste gewesen. Er hoffte
inständig, dass ihr niemand mehr folgen würde. Zuvor hatte er sein altes Team verloren. Bei einer
Mission, die Clarkson mit dem Wissen in die Wege geleitet hatte, dass seine ehemaligen Kameraden
einige Infos nicht erhalten hatten. In einem ähnlichen Einsatz war Sean Harrison, der bis vor kurzem
noch das Alpha-Team befehligt hatte, so schwer verletzt worden, dass nicht sicher war, ob er je
wieder den Dienst würde aufnehmen können. Seinen Platz hatte Elijah Kuijers eingenommen. Mit
ihm hatte Ryan über sein Abkommen mit Clarkson gesprochen. Er wusste, dass Ryan vielleicht schon
bald seinen Posten für einige Zeit nicht bekleiden konnte. Sie mussten nach einem Ersatz für ihn
suchen, der nicht erpressbar war. Aber im Team gab es im Prinzip niemanden mehr, der nicht in
irgendeiner Form eine Angriffsfläche für Clarkson bot.
Sein CO Joe Burnett hatte eine lange Liste an Verfehlungen.
Darrel White, der als ehemaliger Major der australischen SASR eigentlich prädestiniert war, wehrte
sich mit Händen und Füßen. Außerdem gab es in seiner Akte ebenfalls etwas, das Clarkson gegen ihn
auslegen würde.
Ryan zerbrach sich den Kopf, warum der Verteidigungs-minister so handelte. Sie hatten ihn nie
enttäuscht. Sie waren nur keine Einheit mit einer blütenweißen Weste. Ryan bezweifelte jedoch, dass
es so eine Einheit irgendwo geben würde. Einige der Teammitglieder, die seit der Gründung der
beiden Einheiten der I.A.T.F dabei waren, äußerten immer wieder den Verdacht, dass Clarkson
einfach nur ein gewaltiges Problem damit hatte, dass das Team mit seinem Vorgänger sehr gut
klargekommen war. Dass dieser per Du mit dem Gründer Paul Redmann ge-wesen war, weil dieser
zusammen mit dem ehemaligen Minister gedient hatte. Sie hatten gemeinsam viel erlebt, da war es
verständlich, dass der private Ton oft freundschaftlich war.
Ryans Überlegungen kreisten um so viele Punkte. Wer leitete das Team während seiner
Abwesenheit? Wie sollte er seinen Kameraden sagen, was los war oder sollte er es verschweigen? Wie
Anne über das aufklären, was er tun musste? Diese Gedanken machten es ihm unmöglich zu
schlafen. Obwohl er Elijah eingeweiht hatte und dieser zugesagt hatte, ihm den Rücken freizuhalten,
sorgte er sich. Elijah war neu, er kannte viele Abläufe nicht so gut wie er und wenn er nicht da war,
konnte er ihn nicht um Rat fragen. Es war absolut verzwickt.
Sein Blick wanderte zu Anne. Sie schlief, der Wecker zeigte inzwischen zwei Uhr in der Nacht an.
Er rechnete die Stunden herunter, bis er bei Clarkson im Büro stehen würde und bis dieser ihn sonst
wohin schickte. Womöglich würde aber etwas völlig anderes passieren. Vielleicht würde er ihn
rauswerfen. Oder, was weit schlimmer werden würde, er könnte das Team auflösen und ihm den
Auftrag geben, diese Botschaft an sein Team weiterzugeben. Wie um alles in der Welt sollte er das
erklären? Was seinen Kameraden sagen? Er konnte ihnen doch nicht gegenübertreten und behaupten,
dass er es hatte kommen sehen. Dass er gewusst hatte, dass das passieren würde. Nein, er hatte es
nicht gewusst. Seine Gedanken begannen, sich schneller zu drehen. Immer düstere Bilder entstanden
in seinem Kopf. Sie würden ihn zurecht anklagen und ihm die Schuld geben.
»Ryan?«
Er schreckte zusammen. Anne lag mit etwas Abstand neben ihm, sie hatte nur eine Hand auf
seiner Brust liegen. Wann sie von ihm abgerückt war, wusste er nicht. Ein eiskalter Schauer durchlief
seinen Körper. Er spürte seinen rasenden Herzschlag und begann zu begreifen, dass er eingeschlafen
und von einem Albtraum heimgesucht worden sein musste.
»Ja, ich bin ok«, murmelte er als Zeichen für Anne, dass ihm bewusst war, wo er sich befand, auch
wenn er nicht wusste, was gerade passiert war. Warum er wach geworden war. Er konnte sich nicht
mehr daran erinnern, wann er eingeschlafen oder was genau sein letzter Gedanke gewesen war. Er
konnte sich nicht einmal an einen Traum erinnern, was selten war. Normalerweise träumte er immer
ein und dieselbe Szene, bis Anne ihn weckte und so von diesem Grauen löste. Sie half ihm, sich von
den Bildern und der Panik zu lösen, die ihn dann heimsuchte. Jetzt war irgendetwas anders. Er drehte
den Kopf auf die Seite und sah auf den Wecker. Vier Uhr. Er musste irgendwann eingenickt sein.
Sollte er Anne fragen, was passiert war? Die Lampe, welche sie im Flur brennen ließen, warf ein
schummriges Licht in das Schlafzimmer. Anne stützte sich neben ihm ab und musterte ihn.
»Du hast irgendwas gemurmelt«, erklärte sie mit vom Schlaf heiserer Stimme. »Ich hab es nicht
verstanden, wollte dich aber auch nicht wecken. Als ich rübergerutscht bin, bist du aufgewacht. Ist
wirklich alles ok?«
Er strich sich bei ihrer Erklärung über das Gesicht. Er konnte sich nicht erinnern. Und dass Anne
nichts Genaues gehört hatte, war wahrscheinlich sogar gut. Sie würde sonst Fragen stellen. Fragen,
die er nicht beantworten konnte.
»Ja, lass uns weiterschlafen.« Er gab ihr mit einer einladenden Geste zu verstehen, dass sie wieder
an ihn heranrutschen konnte. Dass keine Gefahr von ihm ausging. Sie murmelte etwas, kam seiner
unausgesprochenen Aufforderung aber nach. Sein Gedankenkarussell begann erneut zu kreisen,
obwohl er gehofft hatte, dass es stillstehen würde. Fünf Minuten, zehn, fünfzehn. Sein Herzschlag
wollte sich nicht mehr beruhigen, während sein Augenmerk durchgehend auf dem Wecker lag. Er
musste etwas unternehmen. Er warf einen Blick auf Anne, die seine winzige Bewegung zu bemerken
schien, mit der er vom Wecker zu ihr gesehen hatte. Wahrscheinlich war ihr auch nicht entgangen,
dass er nicht wieder einschlafen konnte.
»Ist ok«, flüsternd rutschte sie von ihm weg. Sie wusste, dass er aufstehen würde, ohne dass er
etwas sagen musste. Vielleicht konnte sie seinen Herzschlag spüren, der sich einfach nicht beruhigen
wollte. Unter Umständen half es auch dieses Mal, wenn er etwas zu tun bekam, um sich ein wenig zu
beruhigen.
»Danke.« Er küsste sie auf die Stirn. »Schlaf noch ein wenig. Ich mach dir später Kaffee.«
Sie bedankte sich murmelnd, als er sich auf die Bettkante setzte. Was er nun machen wollte,
wusste er nicht genau. Nicht mehr im Bett liegen zu müssen fühlte sich in diesem Moment gut an.
Seine Gedanken würden sich zwar nicht abstellen lassen, aber er war nicht mehr gezwungen, still
neben Anne zu verharren.
Sein erster Weg führte zur Toilette, danach ging er ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher
ein. Mit einem Durchatmen ließ er sich auf dem Sofa nieder und suchte nach den Nachrichten der
letzten Stunden. Irgendwo in seinem Kopf war eine Stimme, die der Ansicht war, dass er vielleicht
etwas über das erfahren könnte, was Clarkson von ihm verlangen würde. Aber dort war nichts von
Bedeutung. Auch in den sozialen Medien war ihm nichts ins Auge gefallen. Oft reichten die täglichen
News aus, um Anhaltspunkte zu geben. Politische Krisen, Anschläge oder Entführungen, die kurz in
den News-tickern auftauchten und von denen man anschließend nie wieder hörte. In einigen dieser
Fälle begründete sich das Schweigen der Reporter darauf, dass es eine Nachrichtensperre gab, weil
Einsatzkräfte unterwegs waren. Es ging allerdings auch anders. Immer dann, wenn Berichterstatter
direkt vor Ort waren, wenn sie förmlich live berichteten, was in seinem Job aber fast nie passierte.
Polizisten mussten jedoch sehr häufig diese Er-fahrungen machen und er ärgerte sich immer wieder
darüber, wenn Einsätze live übertragen wurden.
Die soeben angekündigten Sechs-Uhr-Nachrichten ließen ihn aus seinen Gedanken schrecken. Er
hatte Anne versprochen, Kaffee zu kochen. Als er sich erhob und zur Küchenzeile ging, fasste er den
Entschluss, ein reichhaltiges Frühstück zu machen. Er werkelte und stellte zwanzig Minuten später
Speck, Eier, Toast und Müsli auf den Tresen der Küche, an dem sie viel zu selten saßen. Als Anne
auftauchte, war sie bereits für die Arbeit fertig angezogen und hatte sich dezent gestylt. Sie verströmte
einen Duft von Vanille und Haarspray, als sie in ihrem eleganten Zweiteiler mit dem weißen
Einstecktuch, das zum Outfit der Bank gehörte, in die Küche trat.
»Erwarten wir noch Besuch?« Freudig strahlend kam sie näher und küsste ihn, nachdem sie einen
Blick auf das Frühstück geworfen hatte.
»Nicht, dass ich wüsste. Ich dachte, wenn ich schon aus dem Bett flüchte, kann ich die Zeit auch
sinnvoll nutzen.«
2.
Eine halbe Stunde nachdem Anne zur Arbeit aufgebrochen war und er die Reste des Frühstücks
weggeräumt hatte, schloss er die Haustür hinter sich. Er hatte einen Entschluss gefasst, den er
hoffentlich nicht bereuen würde. Er wollte zu Sean Harrison und anschließend in sein Büro fahren
und dort gegebenenfalls nochmals unter vier Augen mit Elijah Kuijers sprechen. Er musste sein
Team in guten Händen wissen und würde Sean Harrison bitten, das Training seiner Einheit zu
übernehmen, auch wenn er aktuell außer Dienst war und sich bisher nicht entschieden hatte, ob er
aktiv weiter machen wollte. Ryan wusste allerdings nicht genau, ob Sean überhaupt gesundheitlich in
der Lage war, zumindest vorübergehend an seinen Posten zurückzukehren. Er wollte jedoch sein
Glück versuchen und ihn darum bitten, ihn ein paar Tage zu vertreten. Zumindest beim Training,
denn wenn es um Trainingseinheiten ging, gab es keinen Besseren. Auch bei Missionen konnte
Harrison punkten, aber Ryan erwartete nicht, dass Sean eine solche Planung übernahm oder sich gar
in einen Einsatz begab, sollte er länger weg sein. Aktuell gab es keine geplanten Operationen und für
den Fall einer spontanen Mission würde sich sicher ein Weg finden.
Er wusste nicht, wie lange er weg sein würde. Ein paar Tage, eine Woche oder vielleicht sogar
länger. In einem solchen Fall würde Kuijers sich hoffentlich bereit erklären, auch das Bravo-Team
anzuführen und Joe und Darrel bei der Planung und Ausführung unterstützen. Auch wenn Ryan sich
sicher war, dass die beiden diese Aufgaben ohne Probleme ohne Kuijers bewältigen würden.
Als er eine knappe halbe Stunde später bei Sean und seiner Lebensgefährtin Emelie vorfuhr,
schloss Emelie gerade die Tür hinter sich. Sie trug eine Ledertasche bei sich, was Ryan vermuten ließ,
dass auch sie zur Arbeit aufbrach. Sie betreute Kinder, die im Leben wenig Glück gehabt hatten und
schwer zu händeln waren. Emelie war eine temperamentvolle Frau mit langen, pechschwarzen
Haaren und rehbraunen Augen, die ihm nun, wo er ausgestiegen war, interessiert entgegensah. Ryan
beeilte sich, seinen Traverse zu verlassen. Die Frau hatte ihre Tasche in ihren silbernen Ford
geworfen, stand aber immer noch an der Fahrerseite ihres Wagens und sah ihm voller Erwartungen
entgegen.
»Ist was passiert?« Sie legten den Kopf prüfend auf die Seite. Sie sah aus, als wolle sie ihn, sollte er
schlechte Nachrichten haben, am Betreten des Hauses hindern.
»Nein.« Ryan winkte ab. Noch vor kurzer Zeit hatte er sich mit Sean ein Büro geteilt und ihn
häufiger mitgenommen. »Ich wollte nur mal vorbeischauen«, log er und hoffte, dass sie nun einfach
ihrem normalen Tagesablauf folgen würde und er die Möglichkeit bekam, in Ruhe mit Sean zu
sprechen.
»Keine Base heute?«
Er konnte die Skepsis in ihren Augen erkennen, wollte ihr jedoch nichts von seinem Anliegen
sagen. Er fürchtete, dass sie Sean davon überzeugen würde, abzulehnen. Der ehemalige Captain des
Alpha-Teams hatte seine Verletzung längst nicht verwunden, worüber Ryan sich sehr bewusst war
und doch benötigte er seine Hilfe. Nur hatte er keine Idee, wie er Emelie genau das klarmachen
wollte. Durch ihre Arbeit war es schwer, sie mit Argumenten auszutricksen. Sie hatte ein fantastisches
Gespür für Lügen und Halbwahrheiten, was mit seinem Anliegen in diesen Sekunden alles andere als
günstig war. Das Beste wäre, wenn sie nun einfach in ihren Wagen stieg und an die Highschool fuhr,
an der sie arbeitete.
Emelie kniff ein Auge zu. Sie versuchte ganz offensichtlich, in ihn hineinzuschauen, als hätte sie
schon die Fährte aufgenommen und ahnte, was er hier wollte.
»Später dann. Ich dachte ich schau mal nach, ob er das frühe Aufstehen noch drauf hat.« Er
bemühte sich, nicht so zu klingen als verbarg er etwas.
»Mhm.« Nun bildeten sich tiefe Falten auf ihrer Stirn und er fürchtete, dass sie ihm gleich sagen
würde, er solle Sean nicht zu irgendetwas überreden, was ihm nicht guttat. »Na gut, ihr macht eh, was
ihr wollt. Viel Spaß.« Sie richtete sich kurz auf, setzte sich dann auf den Fahrersitz und zog die Tür
zu, wobei sie ihn nicht aus den Augen ließ. Dass sie mit ihren Worten klang, als würde sie mit einem
Teenager sprechen, sprach er nicht aus. Er war froh, als sie ihren Wagen von der Einfahrt lenkte. Ihr
nachsehend machte er sich auf den Weg zur Haustür, die sich öffnete, ehe er die Klingel betätigen
konnte und just in dem Augenblick, in dem er nochmals über die Schulter gesehen hatte, da er
fürchtete, Emelies Augen lägen immer noch auf ihm.
»Welche Frage soll ich dir als Erstes stellen? Die, ob sie dich gefressen hat oder was du willst?«
Sean öffnete mit mies-gelauntem Tonfall die Tür. Er trug nur eine Shorts und stand mit nacktem
Oberkörper vor ihm. Ryan zwang sich, seinen Blick von der Narbe zu lösen, die sich über die
Schulter bis zum Hals zog und rosa hervorstach.
»Da ich hier stehe, hat sie mich nicht gefressen. Ich will mit dir reden«, beantwortete er die Fragen
und zwang sich, Sean ins Gesicht zu schauen.
»Über die Arbeit?« Sean verschränkte die Arme vor der Brust und machte keine Anstalten, ihn
einzulassen. Ein Verhalten, welches er hätte kommen sehen müssen.
»Ja.« Zu lügen hätte keinen Sinn gehabt. Sean würde ihn durchschauen. Jedoch konnte Ryan in
diesen Sekunden nicht erkennen, wie sein Gegenüber antworten würde, da der immer noch mit
verschränkten Armen und undurchdringlicher Miene vor ihm stand und sich nicht von der Stelle
bewegte.
»Was für Arbeit?«, murrte er schließlich, als ihm bewusst zu werden schien, dass Ryan nicht gehen
würde.
»Können wir das drinnen besprechen?«
»Was für Arbeit?«, wiederholte Sean und sein Gesicht schien sich noch weiter zu verfinstern.
»Bitte.« Es gefiel ihm nicht, Sean anzubetteln, aber er hatte keine andere Möglichkeit. Er wollte
das Team vor Clarksons Launen schützen und Sean war durch seine Launenhaftigkeit und seine harte
Art prädestiniert dafür, sich mit Clarkson anzulegen und so Zeit zu schinden.
Sean atmete durch und hustete. »Komm rein. Kaffee ist in der Küche, ich komm gleich.« Sean trat
zur Seite und deutete ins Haus.
»Danke.«
Ryan ging an Sean vorbei und betrat wenige Meter weiter die Küche. An der Kaffeemaschine griff
er in den darüber hängenden Schrank und nahm sich eine Tasse, während Sean in einem anderen
Zimmer verschwand. Da er davon ausging, dass auch Sean eine Tasse wollte, griff er eine zweite.
Einen Augen-blick musterte er die Möglichkeiten des Vollautomaten, dann schob er seine Tasse unter
den Auslauf und drückte auf eine der Tasten. Die Maschine erwachte zum Leben, ein Mahlwerk zer-
kleinerte Bohnen und er roch, wie sich der Duft der Kaffee-bohnen aromatisch im Raum verteilte.
Wasser wurde aufgebrüht und kurz darauf floss sein Überlebenselixier in die schwarze Tasse.
»Was soll es für dich sein?«, rief Ryan Sean zu.
»Schwarz«, kam die knappe Antwort nur Sekunden, ehe Sean in der Küchentür auftauchte. Er
hatte sich ein Hemd übergeworfen und eine Jeans angezogen. Ohne ihn anzusehen, knöpfte er das
Hemd zu und sah Ryan dabei zu, wie er eine weitere Tasse Kaffee zubereitete. Um die Füße seines
Kame-raden schmiegte sich eine schneeweiße Perserkatze, die bei ihren Runden Ryan genau im Auge
behielt. Es wirkte, als wolle sie Sean beschützen und als würde sie ihn schon beim kleinsten falschen
Atemzug zerfleischen. Wie es ihr gelang, ihn nicht eine Millisekunde aus den Augen zu lassen,
verwunderte Ryan einen Moment so sehr, dass er seinen Blick nicht von dem gepflegten Tier nehmen
konnte.
Schließlich deutete er auf die Kaffeemaschine. »Sollten wir auch anschaffen. Dann muss nicht
immer einer die Kanne im Auge haben.« Er schaffte es, seinen Blick von Queen zu lösen, die für ihre
Abneigung Männern gegenüber berüchtigt war. In diesen Sekunden musste er sich eingestehen, dass
er nicht alleine mit ihr in einem Raum bleiben wollte.
»Dafür Wasser, Bohnen, Trester und so weiter. Glaub mir, eine normale Maschine ist mir lieber.
Das Teil kann wahr-scheinlich auch Atome spalten.« Sean deutete auf die Kaffee-maschine.
Ryan schmunzelte, als Sean näher kam und den fertigen Kaffee entgegennahm. »Also, was für
Arbeit? Was ist los?« Sean wirkte entspannter als noch vor einigen Minuten und deutete nun auf die
Stühle, die an dem Tresen standen, der als Küchentisch diente. Ryan witterte seine Chance.
»Ich hab da ein kleines Problem mit Clarkson.« Würde es helfen, wenn er den
Verteidigungsminister sofort erwähnte? Schließlich konnte Sean Clarkson ebenso wenig leiden wie sie
alle.
»Und deswegen tauchst du hier um diese Zeit auf? Jhesus, auch wenn wir nicht immer einer
Meinung sind und du im Moment wohl froh bist, dass ich nicht da bin … Eine
Meinungsverschiedenheit mit Clarkson ist nicht der Grund, warum du hier bist. Mit dem kommt
niemand klar. Und ich glaube nicht, dass du mich darum bitten wirst, ihn direkt umzubringen, auch
wenn ich das wahrscheinlich sogar machen würde.« Sean atmete schwer durch und nahm einen
Schluck Kaffee, woraufhin die Katze auf seinen Schoss sprang und es sich dort unter Seans Streicheln
gemütlich machte.
»Weißt du noch, die Sache mit Derrin in Kabul?« Ryan hielt die Tasse mit beiden Händen und
musterte sein Gegenüber intensiv. Sean wirkte blass und erschöpft. Schon beim Sprechen war ihm
aufgefallen, dass er schnell außer Atem zu sein schien.
»Als ob man das vergessen würde.« Sean hielt seinem Blick stand. »Wenn man dich hätte
rauswerfen wollen, hätte man es da machen müssen. Dass du überhaupt gedacht hast, dass du das
alleine durchziehen kannst …« Sean schüttelte den Kopf und schmierte ihm seine Denkfehler
förmlich unter die Nase. Wobei es kein Denkfehler gewesen war. Die Konsequenzen waren ihm zu
dem Zeitpunkt klar gewesen, nur hatte er sie ausgeblendet.
»Hätte er können«, begann Ryan, ohne auf seine Fehler einzugehen. »Das will er jetzt nachholen.«
Er bemerkte, wie Seans Augenbrauen nach oben wanderten und sich in den grün-braunen Augen
seines Kollegen die unausgesprochene Auffor-derung abzeichnete, weiterzusprechen. »Er hat mir die
Pistole auf die Brust gesetzt. Wenn ich nicht springe, sprengt er das Team. Dann sitzen wir alle auf
der Straße. Und ich befürchte, dir geht er dann auch noch ans Geld.«
An Seans erschrockenem Ausdruck konnte er erkennen, dass er nun Zeit hatte, um alles zu
erläutern und seine Gedanken offen zu legen. Diese Erklärung zog sich in die Länge, da er vor allem
immer wieder erwähnte, dass er nicht wollte, dass man das Team auflöste. Zum ersten Mal, seit er im
Team war, sprach er seine Gefühle offen aus. Erklärte Sean, wie wohl er sich fühlte, und dass ihm die
Verantwortung, die er trug, deutlich bewusst war. Dass er gewillt war, zu Clarksons Spielball zu
werden, damit alle anderen im Team weiterhin das machen konnten, was sie alle sich hart antrainiert
hatten. Sean saß ihm die gesamte Zeit schweigend gegenüber, ohne dass Ryan auch nur den Ansatz
einer Idee hatte, was sein Gegenüber dachte. Als er geendet hatte, lagen seine Finger immer noch an
der halbvollen Kaffeetasse und zwischen Seans Augenbrauen bildete sich eine tiefe Zornesfalte.
»Dieser verdammte Hurensohn«, knurrte Sean und hatte die Hände zu Fäusten geballt. »Der
glaubt echt, er kann das alles durchziehen, oder? Irgendwann muss er doch auf die Schnauze fliegen.«
»Denk an Zimmer. Die sitzt immer noch ein und keiner weiß wann und ob er sie wieder rauslässt.
Er hat ihr soviel Mist in die Schuhe geschoben, dass es ewig dauern kann, bis sie raus-kommt. Ob sie
es wirklich getan hat, oder ob das alles ein riesen Fake ist, scheint niemand zu kontrollieren«, gab er
zu bedenken. »Cheese kann ihn auch nicht leiden. Ich weiß aber nicht genau, was zwischen ihnen
vorgefallen ist. Kann mir aber vorstellen, dass er nur hier ist, weil Clarkson das wollte.« Ryan konnte
sich nicht daran hindern auf Agent Zimmer, die von Clarkson ins Gefängnis gebracht worden war,
und Elijah Kuijers anzuspielen.
»Man sollte zum Präsidenten gehen«, raunte Sean mit hörbarem Zorn in der Stimme.
»Und du meinst, der glaubt uns, sofern wir überhaupt angehört werden?« Ryan konnte sich nicht
vorstellen, dass der Präsident ihnen ohne weiteres Glauben schenken würde. Sie mussten etwas
Handfestes liefern. Etwas, das Clarkson nicht widerlegen konnte. Etwas, das so hieb- und stichfest
war, dass selbst der Verteidigungsminister niemanden mehr fand, der ihn aus seiner Misere rettete.
Bisher gelang ihm nämlich genau das immer noch.
Sean murrte etwas Unverständliches und starrte einen Moment in seine Tasse, ehe er seinen Blick
wieder hob.
»Jetzt zur Arbeit. Was erwartest du von mir?«
Ryan hatte erwähnt, dass er am kommenden Tag in Langley sein musste und somit noch an
diesem Abend aufbrechen würde. Auch hatte er davon gesprochen, dass er fürchtete, dass Clarkson
ihm einen Auftrag geben würde, nur hatte er bisher nicht gesagt, was er sich von Sean erhoffte.
»Trainier das Team, halt sie am Laufen und sorg dafür, dass kein Mount Everest auf dem
Schreibtisch entsteht.« Ryan lehnte sich zurück. »Bitte.«
Sean schwieg, seine Miene war undeutbar.
»Bitte. Clarkson wartet nur darauf, dass Joe einen falschen Schritt macht oder dass er Darrel das
Leben zur Hölle machen kann.«
»Und was macht er mit mir?« Nun stierte Sean ihn an und Ryan meinte den Protest im Grünbraun
seiner Iris sehen zu können. Ryan schloss die Augen. Diese Frage hatte er sich ebenfalls schon gestellt
und keine befriedigende Antwort darauf gefunden.
»Keine Ahnung, aber du kannst ihm die Stirn bieten.«
»Können die anderen auch. Und wenn er das Team auflösen will, dann macht er das, egal ob
jemand Protest einlegt oder nicht.«
Ryan schloss die Augen. Er hatte keine Ahnung, wie er Sean, der seinen Stuhl zurückschob,
woraufhin die Katze fauchend von seinen Beinen sprang, von seiner Idee überzeugen konnte.
»Komm schon, der Typ will alles kaputt machen, was wir, was ihr und gerade auch du aufgebaut
habt, weil er irgendwelche Launen hat. Du sagst doch selbst, dass das Team mehr als Kameraden
sind. Alter, das ist Familie, verdammt. Hier hält jeder den Kopf für den anderen hin und nebenbei
retten wir die Ärsche von Leuten irgendwo da draußen. Ich will nicht, dass dieser Idiot, der in seinem
Leben noch nie wirklich was gerissen hat, das kaputt macht. Ich will, dass er seinen Posten räumen
muss. Für immer. Ich habe keine Lust, noch mehr Freunde und Kameraden zu verlieren, weil er
denkt, wir sind ersetzbare Figuren in seinem verdammten Spiel.« Nun war auch er aufgestanden und
lehnte sich am Tresen an, während Sean erneut zur Kaffeemaschine gegangen war. Ryan spürte nicht
nur seinen steigenden Blutdruck, sondern ebenfalls Zorn gegen Clarkson aufkochen. Dieser Mann
sollte nicht länger über die Geschicke irgendwelcher Soldaten entscheiden.
Minutenlang stand Sean einfach nur da. Ryan starrte den Rücken des ehemaligen Captains des
Alpha-Teams an, dann drehte der sich zu ihm um.
»Ok, du gehst nach Langley, ich geh ins Büro, nebenbei spreche ich mit Paul und Mike und dann
machen wir einen Plan, wie wir dieses korrupte Arschloch da wegbekommen.«
»Danke Mann.« Er ging auf Sean zu und wollte ihm die Hand reichen.
»Dank mir nicht zu früh, vielleicht geht das nach hinten los und am Ende sind trotzdem alle
arbeitslos.« Sean lehnte die Geste ab und trat an ihm vorbei.
»Du warst es doch, der vor ein paar Wochen noch gesagt hat, dass Blut dicker ist als Wasser und
du ihn gerne zu Fall bringen willst.« Ryan hatte lange damit gewartet, Sean an diese Worte zu
erinnern, die er ausgesprochen hatte, als er das erste Mal nach seiner schweren Verletzung wieder in
der Base gewesen war. Schon damals hatte er Clarkson den Krieg erklärt, nur hatte ihm
wahrscheinlich bis jetzt die Kraft und vielleicht auch die Motivation gefehlt. Wenn Clarkson weniger
Wert auf seine politischen Geschäfte und mehr auf seine Soldaten gelegt hätte, wäre Sean nicht
verletzt worden und Ryan hätte nicht viele alte Kollegen verloren. Sie mussten darauf hoffen, dass der
Minister irgendwann einen entscheidenden Fehler machte oder sie ergriffen die Initiative und sorgten
für den Fall von Asher Clarkson.
»Ich weiß«, murrte Sean, ging aber nicht weiter auf seine eigenen Worte ein, sondern schwieg
einen Augenblick, ehe er ihm wieder in die Augen sah. »Eine Frage noch.«
Ryan hob interessiert die Brauen. Was war offengeblieben? Was nicht geklärt?
»Wer erklärt Emy das?«
»Sorry, da bin ich raus.« Er hob die Hände. »Ich muss in naher Zukunft zum Flughafen.«
»Du könntest sie an der Schule besuchen.«
Ryan verzog das Gesicht, als Sean diese Möglichkeit an-sprach und ihn so indirekt aufforderte,
genau das zu machen.
»Mich bringt sie um. Ich hab ihr versprochen, dass ich mich noch ein paar Wochen schone, dann
mit dem Training anfange und eventuell zurück ins Büro gehe, aber nicht mehr. Die alten Knochen
wollen nicht mehr da raus«, spielte Sean auf einen möglichen Einsatz an.
»Die Knochen oder Emy?« Ryan stellte die Frage, ehe er wirklich darüber nachgedacht hatte. Das
Letzte, was er wollte, war die Absprachen des Paares zu kritisieren. Aber in ver-gangener Zeit hatte er
immer mal wieder auch durch Erzähl-ungen von Nathan das Gefühl gewonnen, dass Emelie die
Hand über Sean hielt und so verhinderte, dass der tat, was er wollte. Oft hatte es so geklungen, als
bemuttere Emelie Sean.
»Beide.« Sean atmete schwer durch. »Nochmal überleb ich das nicht. Ich fühl mich, als wäre ich
um dreißig Jahre gealtert. Meine Pumpe macht auch nicht mehr ganz so zuverlässig, was sie soll. Emy
hat recht, wenn sie mir Knüppel vor die Beine schmeißt«, erklärte er leise, was Ryan nicken ließ.
Bisher hatten sie nie wirklich offen über Seans mögliche Beweggründe, warum er nicht mehr
zurückkehren würde, gesprochen. Dass dieses Gespräch dringend notwendig war, wurde ihm nun
bewusst.
»Also, du Schule und ich Büro?« Sean musterte ihn mit einem herausfordernden Ausdruck.
»Auf keinen Fall alleine, die bringt mich um.« Ryan schüttelte den Kopf. Emelie würde ihm
selbigen waschen und es unter Umständen schaffen, dass er einknickte. Aber dann hatte er keinen
Ausweichplan. Vielleicht waren seine Chancen größer, wenn sie beide mit ihr sprachen und
zusammen versicherten, dass Sean den Posten nur kurzfristig einnehmen und auf keinen Fall in einen
Einsatz gehen würde. Sie mussten doch eigentlich nur die passenden Argumente finden, um ihr klar
zu machen, dass es nur darum ging, dass nach außen hin jemand auf dem Posten des Captains war,
der diesen mit der nötigen Kompetenz bekleiden konnte.
3.
»Ich mache es so oder so«, erklärte Sean, in einem Flur in der Weill C. Crawford High School
stehend. Emelie, die die Hände in die Hüften stemmte, an ihm vorbei zu Ryan sah und ganz
offensichtlich überlegte, wen von ihnen sie als Erstes töten sollte, stieß empört die Luft aus und klang
dabei ein wenig wie eine Giftschlange. Ihr erster Fehler, der zu dieser schlechten Laune geführt hatte,
war der, dass sie Emelie während des Unterrichts gestört hatten. Ihr zweiter war der gewesen, dass sie
Emelie ohne Umschweife gesagt hatten, was sie geplant hatten. Jetzt schwebten sie in einer nicht zu
unterschätzenden Gefahr. Emelie würde ihnen nun den Gegenwind liefern, den sie überwinden
mussten. Denn Sean wollte Ryan gern den Gefallen tun, um den er ihn gebeten hatte. Nur die in
Emelies Mimik aufziehenden dunklen Unwetterwolken machten klar, dass es nicht leicht werden
würde, sie zu überzeugen.
»Du sollst dich erholen.« Sie warf einen schnellen Blick über die Schulter durch das kleine Fenster
der Tür, hinter der sich ihre Klasse befand. Noch war es dort still, aber es war nicht auszuschließen,
dass die Schüler bald die Abwesenheit ihrer Lehrkraft ausnutzen würden. Und dass das ihre Laune
und Kooperationsbereitschaft bessern würde, bezweifelte er.
»Ich schwöre dir, dass ich keine Bäume ausreiße, dass ich das Land nicht verlasse und dass ich es
langsam angehen lasse.« Er bemühte sich, dieses Versprechen glaubhaft rüber zu bringen.
Dass Ryan ihn nun seltsam ansah, ignorierte er. Er klang sehr wahrscheinlich wie ein Kind, das die
Zusage bei seiner Mutter abgeben musste, pünktlich heimzukommen. Wenn er ehrlich zu sich selbst
war, wurde er im Augenblick genau so behandelt. Er liebte die Frau, die ihn nun strafend ansah, aber
er war nicht mehr gewillt, nur auf dem Sofa zu sitzen und seine kleinen Physioeinheiten zu
absolvieren. Alleine der Gedanke, noch Wochen zu warten, ehe er wieder mit dem intensiven
Training beginnen konnte, das er jeden Tag absolviert hatte, nervte ihn. Ihm war bewusst, dass sein
Leben sich radikal geändert hatte, aber er wollte sich nicht mehr verkriechen und in irgendeine
Opferrolle verfallen.
»Ich kenne dich, Sean Harrison.« Ihre Augenbrauen schoben sich nach oben, als sie ihn
durchdringend ansah.
»Genau deswegen sollte dir klar sein …«
»Versteh doch endlich, dass ich mir Sorgen mache. Dass ich Angst habe.« Ihre Stimme begann zu
zittern, als sie ihn unterbrach. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah zu Boden, um ihm
nicht mehr in die Augen schauen zu müssen. Als sie wieder den Kopf hob, konnte er Tränen in ihren
Augen sehen. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie Ryan seinen Blick abwandte. »Ich will dich
nicht verlieren, ich will das nicht nochmal, Sean. Das kann ich nicht. Ich liebe dich und ich weigere
mich, dich wegen deines Dickkopfes zu verlieren. Es gibt noch mehr als dein Team. Und ob du es
glaubst oder nicht, man kann dich da ersetzen. Ich will aber nicht, dass man dich ersetzen muss, weil
du tot bist, verstehst du?« Ihre Stimme bebte leicht, als sie ihre Gedanken aussprach. Ob diese Worte
nun schlimmer waren als die Tränen in ihren Augen, wusste er nicht. Allerdings spürte er, wie sein
Wille, für das Team und seine Familie in der Base zu kämpfen, ins Wanken geriet, da ihr Gesagtes
den Kern trafen. Er war ersetzbar. Die Zähne aufein-anderpressend rang er mit sich.
»Er muss nicht wieder raus. Niemand würde ihn gehen lassen. Er soll nur das Training
überwachen, ein oder zwei Papiere unterschreiben und überarbeiten. Aber er wird nicht in einen
Einsatz gehen, das verspreche ich dir.« Ryan trat näher an sie heran. »Es ist nur übergangsweise.
Versprochen. Ich beeile mich, damit ich schnell wieder hier bin. Clarkson sucht nun mal nach Fehlern
und Sean ist nun mal Sean. Der wird sich von diesem Idioten nicht ins Boxhorn jagen lassen. Emelie
bitte, ich brauche seine Hilfe. Ich brauche deine Hilfe.«
Emelie wich ihren Blicken mit einem Augenrollen und einem Seufzen aus und Sean war gespannt,
ob und wie lange sie ihren Bitten standhalten konnte. Ihr Blick wanderte von Ryan zu Sean und
wieder zurück, um Ryan dann intensiv in die Augen zu schauen.
»Versprichst du mir, dass er hierbleibt?« Ihre Stimme zitterte immer noch, als sie Ryan anstarrte.
»Hoch und heilig.« Ryan hob die Hand zu einem Schwur.
»Nur dieses eine Mal?«
Erst nachdem Ryan genickt hatte, richtete sie ihr Augenmerk wieder auf ihn.
»Ich kann dich nicht aufhalten, oder?«
»Nein.« Den Kopf schüttelnd legte er seine Hände an ihr Gesicht und strich eine Träne fort, die
sich aus ihren Augen gestohlen hatte. »Sie sind genauso Familie für mich, wie du es bist. Aber gerade
will einer diese Familie zerstören. Außerdem weißt du, dass ich eh zurückgegangen wäre und wenn es
nur zum Putzen wäre. Ich kann nicht anders. Irgendwo in meinen Genen ist der Mist vorgemerkt.«
Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn, was sie langsam nicken ließ, weswegen er ihr ein Danke
zuflüsterte. »Ich verspreche dir, dass ich es anderen überlasse, irgendwelche Arschlöcher zu jagen und
zu fangen, aber lass mich wenigstens Kaffee für meine Freunde kochen.« Er zwang sich zu einem
schiefen Grinsen.
»Und wehe, du brichst dein Versprechen.« Sie deutete mit einem gequälten Ausdruck auf Ryan.
»Ich hetz die Katze auf dich.«
»Okay, das nenne ich mal eine Drohung.« Ryan hob, sich ergebend, die Hände.
Sean ignorierte, dass Ryan Emelie genau beobachtete. Bisher hatte sie nur wenige Male ihre
Ängste ausgesprochen, dabei waren, abgesehen von der Zeit in der Klinik, nie Tränen geflossen. Er
war der Meinung gewesen, dass sie, seit er zuhause war, damit konform ging, was er tat oder plante.
Dass er seine Rückkehr in die Base nun in Worte gefasst hatte, schien an ihr zu nagen. Unter
Umständen hatte sie wirklich geglaubt, dass er zuhause bleiben würde. Dass er in den Ruhestand
gehen oder sich einen anderen, ungefährlicheren Job suchen würde. Aber dieser Gedanke war so
fremdartig, dass er ihn nicht einmal richtig beenden konnte. Er gehörte in die Base, zu seinen
Kameraden. Er hatte seinen Kameraden das Versprechen gegeben, Clarkson zu Fall zu bringen.
Emelie war sogar dabei gewesen, als er diesen Schwur ausgesprochen hatte.
»Geht, ich muss hier noch ein paar Kindern etwas beibringen. Sonst überlege ich mir das doch
anders.« Sie lächelte, als sie den Flur entlang deutete, über den sie gekommen waren.
Einlass hatten sie nur erhalten, weil der Hausmeister Sean erkannt hatte. Normalerweise konnten
sie nicht einfach so in die Schule gelangen. Selbst Eltern mussten einen guten Grund vorweisen und
angemeldet sein. So sollten die Kinder nicht nur vor möglichen Attentätern geschützt werden. Auch
davor, dass Eltern sie hier besuchten, denn nicht jeder dieser Besuche verlief so, dass die Kinder sich
am Ende noch mit einem guten Gefühl in die Schule begaben, wie Emelie ihm vor Monaten erklärt
hatte. Dass seine Eltern nie auf den Gedanken gekommen waren, ihn oder seine Brüder in der Schule
zu besuchen, hatte er verschwiegen. Ihre Eltern waren nur aufgetaucht, wenn es Probleme gegeben
und die Lehrer sie um einen Besuch gebeten hatten. Das war allerdings nicht selten der Fall gewesen.
Ihre Eltern hatte man häufig in die Schule bestellt. Heute kamen viele Eltern auch, weil sie der
Ansicht waren, dass ihre Kinder von den Lehrkräften nicht fair benotet wurden. Vieles schien sich in
den letzten Jahrzehnten verändert zu haben. Diese Zeit hatte ganz offensichtlich nicht nur eine
exorbitante Vermehrung der Helikoptereltern hervorgebracht, sondern auch eine Jugend, die
irgendwie anders tickte.
All das war einer der Gründe, warum er sich hin und wieder älter fühlte, als er war. Die Zeiten
hatten sich rapide verändert und er bezweifelte, dass diese Änderungen gut waren.
Zwei Stunden später hatte Ryan sich verabschiedet und er saß auf dem Stuhl, auf dem Ryan sonst
immer gesessen hatte, als sie sich dieses Büro noch geteilt hatten. Auf seinem alten Platz saß ein
blonder, blauäugiger Mann, der öfter über den Bildschirm des PCs zu ihm sah als auf das, was er
gerade dort eintippte. Bisher war er Elijah Kuijers nur kurz begegnet und Nathan hatte sich in den
ersten Tagen sehr abwertend über den neuen Captain des Alpha-Teams geäußert. Nach einem ersten
Einsatz war aus dieser negativen Bewertung zumindest eine neutrale geworden. Obwohl Sean nun die
Gelegenheit gehabt hatte, einige Worte mit Elijah zu wechseln, konnte er den Mann, der sich
während des Gesprächs mit Ryan ebenfalls sehr vernichtend über den Verteidigungsminister geäußert
hatte, immer noch nicht genau einschätzen. Sean wusste nicht, ob es weitere Punkte geben würde, in
denen sie sich einig waren, oder ob es nur Clarkson sein würde, bei dem sie konform gingen. Wobei
es nicht schwierig war, den Verteidigungsminister nicht zu mögen. Dieser Mann konnte einen nur
leiden, wenn man exakt seiner Ansicht war und das war schwer. Clarkson hatte vor einigen Wochen
einen Rüstungsdeal mit dem Grund abgeschlossen, die amerikanischen Soldaten seien durch die Bank
mies ausgestattet und vor allem schlecht ausgebildet. Hierbei handelte es sich schlichtweg um eine
Lüge. Ausrüstung konnte nie neu und gut genug sein, aber zu behaupten, dass ihre Männer und
Frauen schlecht ausgebildet seien, war in Seans Augen eine Unterstellung, die schlimmer nicht sein
konnte. Außerdem formte diese Beschuldigung ein Außenbild, dass keinem gefallen konnte.
Was genau der Minister mit diesem Bild erreichen wollte, wusste wohl nur er. Denn dadurch
waren die Preise seiner Einkäufe wahrscheinlich nicht gesunken. Zu dritt hatten sie hinter der
verschlossenen Tür darüber gesprochen, dass man Clarkson aus dem Amt drängen musste.
»Also Harrison, wie machen wir es? Ich muss gleich raus.« Kuijers war von seinem Platz
aufgestanden und stellte einen Ordner in eines der Regale, während er ihm die Frage gestellt hatte.
Einen Moment über seine Antwort nachdenkend, beobachtete er den neuen Captain des Teams. Er
hatte genau die Frage gestellt, auf die Sean noch keine zufriedenstellende Antwort gefunden hatte.
Wie brachte man einen der mächtigsten Männer des Landes zu Fall, der die Rückendeckung des
Präsidenten genoss?
»Ich habe noch keine Ahnung, aber es muss irgendwo einen Punkt geben, an dem er einen Fehler
gemacht hat. Den müssen wir finden«, forderte Sean, ohne zu wissen, wie er diese Forderung
umsetzen wollte.
»Oder er muss ihn erst machen.« Kuijers war an die Tür getreten. »Ich geh aufs Gelände, soll ich
White oder Burnett irgendwas ausrichten?«
»Nein, danke, ich spreche später selbst mit ihnen. Ich werde mal zu Bishop und den anderen
gehen.« Er hatte nicht erwartet, dass Kuijers ihm sofort eine Lösung für ihr Problem lieferte, war sich
aber sicher, dass der gebürtige Niederländer ihre Problematik den gesamten Tag im Kopf haben und
auf der Suche nach einer Lösung sein würde.
Mit einem bestätigenden Nicken verschwand Kuijers aus dem Büro. Sean widerstand dem
Wunsch, ebenfalls rauszugehen und sich dem Training der Teams anzuschließen. Sein Körper würde
ihm sehr schnell zeigen, dass er noch nicht so weit war und vielleicht auch nie wieder an diesen Punkt
kommen würde. In den kommenden Tagen würde er das Training begleiten und darauf achten, dass
zumindest das Bravo-Team nicht aus der Form kam. Unter Umständen konnte er dann auch einen
Blick auf die Methoden von Kuijers werfen. Ansonsten würde sein Platz hier sein. An einem
Schreibtisch mit seinen Erzfeinden: Papier und Stift. Er würde Formulare ausfüllen, Berichte
schreiben und, und das war der einzige Lichtblick, wenn er an die Aktenberge dachte, Clarkson
durchleuchten. Der Umstand, dass der Präsident nach der Pfeife des Verteidigungsministers tanzte,
gefiel ihnen allen nicht. Der oberste Staatschef war bisher nicht eine Sekunde auf die Idee gekommen,
das Handeln seines Ministers zu hinterfragen. Bis heute hatte er ihm immer Recht gegeben und
schien glücklich zu sein, wenn er nicht mit, in seinen Augen, belanglosen Dingen belästigt wurde.
Sean erhob sich langsam und ließ seinen Blick einen Moment über die Schreibtische und
Aktenordner schweifen. Es hatte sich nicht wirklich etwas verändert. Es fühlte sich an, als wäre er nie
weggewesen. Und doch fühlte er sich unwohl in seiner Haut. Als wenn da jemand wäre, der ihm
sagen wollte, er gehöre nicht mehr hierher. Er strich sich mit den Fingern durch den Bart. Er hatte
geschworen, Clarkson zur Verantwortung zu ziehen. Vielleicht sollte er, wenn er diesen Kampf hinter
sich gebracht hatte, den Dienst quittieren. Nur in einem Büro zu sitzen – in dem er sich schon jetzt
unwohl fühlte – würde ihn wahnsinnig machen. Alleine der Gedanke, sich immer wieder mit
Menschen unterhalten zu müssen, die ähnlich wie Clarkson tickten – nein. Auch wenn er sich
wünschte zurückzukommen, es wäre nicht mehr wie vorher.
»Sean?«
Wenige Minuten später traf er auf Liv, die ihn entgeistert ansah, nachdem er an die Bürotür
geklopft hatte und eingetreten war.
»Schön, dass du mal reinschaust.« Sie hatte kurz von ihrem Bildschirm aufgesehen und tippte nun
noch einige Sekunden, ehe sie sich ein Stück mit dem Stuhl von ihrem Schreibtisch entfernte und ihn
interessiert ansah. »Was ist los?« Dass ihr schnell klar werden würde, dass er nicht hier war, weil er
irgendwem einen Besuch abstatten wollte, hätte ihm bewusst sein müssen. Nun war es an ihm, die
Agenten des Teams einzuweihen und am Ende dafür zu sorgen, dass sie sich im Notfall dumm
stellten und sagten, dass sie keine Ahnung hatten. Niemand sollte in irgendeiner Form Verdacht
schöpfen. Er war nur hier, um Ryan zu vertreten, der nach offizieller Aussage nur einige Tage in
Langley für Besprechungen verweilen würde. Sean bezweifelte allerdings, dass Ryan nur wenige Tag
nicht hier sein würde, und war gespannt, welche Ausrede es geben würde, sollte der eigentliche
Captain des Bravo-Teams nun wochenlang nicht vor Ort sein. Sie würden bestimmt von weiter oben
eine Order bekommen, in der unter einem Vorwand mitgeteilt wurde, warum Ryan nicht länger in
Langley bleiben würde als angekündigt. So würde auch in offiziellen Unterlagen alles aussehen, als
wäre alles legitim und nichts würde auf die Druckmittel hindeuten, die Clarkson nutzte.
»Ryan muss nach Langley und ich pass ein paar Tage auf seinen Schreibtisch auf. Clarkson schickt
ihn auf eine Solo-mission, aber das hast du nie gehört.«
»Langley?« Liv atmete schwer durch. »Droht er damit, hier den Rotstift anzusetzen?«
»Sieht so aus.« Sean bejahte und sank auf den freien Stuhl, auf dem sonst Rafael saß. Sie nickte
knapp, ehe sie zur Tür blickte.
»Das muss ein Ende haben«, befand sie und sah ihm direkt in die Augen.
»Deswegen bin ich auch hier. Wir müssen einen Weg finden, diese Machenschaften zu beenden.«
Er verschränkte die Arme vor der Brust.
»Dir ist klar, dass Clarkson schon ganz andere zum Schweigen gebracht hat, oder? Zimmer wird
wohl bald auf freien Fuß kommen, aber sie kann nie wieder ein Regierungs-gebäude betreten.
Abgesehen davon ist sie dann arbeitslos und ein schlechter Ruf eilt ihr sicherlich auch voraus.«
Sean gab ein zustimmendes Murren von sich. Er hatte noch keine Ahnung, wie er Clarkson zu Fall
bringen wollte. Er wusste nur, dass er es machen würde, und er würde die Tage hier nun nutzen,
einen Plan dafür zu entwickeln.
»Weiß er schon, was Clarkson von ihm will?« Liv hatte sich vorgebeugt und stellte die Frage
flüsternd, als könnte ihnen jemand zuhören.
»Nein.« Dass er davon ausging, dass Ryan es ihm auch dann nicht gesagt hätte, wenn er schon
wüsste, welchen Auftrag man ihm erteilen würde, verschwieg er. Zumindest würde Sean es so
machen, wenn er an Ryans Stelle wäre.