Brandheiße Weihnachten

Leseprobe

1.

Bear grub seine Finger hinter seinem Rücken in den warmen Sand des Strandes. So abgestützt legte er den Kopf in den Nacken, blendete einen kurzen Moment die vielen Stimmen aus und genoss die Sonnenstrahlen ebenso wie das Rauschen des Meeres. Einfach nur hier sitzen und nichts tun. 

Er wollte seinen Urlaub genießen, wollte seine ausgelaugten Batterien wieder aufladen, die in den letzten Monaten seit dem BUDs, den Lehrgängen und den ersten Missionen, ihre letzte Energie verloren hatten. Jetzt war er weit weg von seiner Arbeit und von seinen Kollegen. 

Sehr weit weg. 

Weiter ging nicht mehr. 

Sicher, er hätte auch in San Diego Urlaub machen können, aber dort würde er nie zur Ruhe kommen. Dort lief er Gefahr, abends seine Kollegen in einer Bar zu treffen, sich sinnlos zu besaufen und anschließend in eine Schlägerei verwickelt zu werden. Und spätestens danach würde er seinen Vorgesetzten früher wiedersehen als ihm lieb war. Perth mit seinen weißen Stränden war ein Traum und bei Nacht verwandelte sich die Stadt in ein Meer aus Lichtern wie in tausendundeiner Nacht. 

Hier würde ihm kein Kollege über den Weg laufen. Und hier wäre es nicht so schlimm, wenn er sich sinnlos betrank. Wobei die Strafen hier weit härter waren als in den USA und er war sich nicht sicher, was ihm dann lieber war. Ein tobender Vorgesetzter in San Diego oder schwedische Gardinen in Down Under. 

Er war mit der Hoffnung hergekommen, hier dem Weihnachtstrubel entgehen zu können. Ganz so, wie er gehofft hatte, würde das dann doch nicht klappen. Auch hier war der Wahnsinn rund um das Fest der Feste ausgebrochen. Der von Coca Cola erfundene Santa Claus hatte es doch wirklich um die ganze Welt geschafft. Auch hier tobte der vorweihnachtliche Wahnsinn. Die ganze Stadt war festlich geschmückt, überall gab es Girlanden und Weihnachtsbäume. Und an jeder Ecke standen Weihnachtsmänner. Lebende, die um Spenden baten. Mit Luft aufgeblasene, die auf Tankstellen standen und meilenweit zu sehen waren, oder mit Kissen ausgestopfte Puppen, die als Weihnachtsmänner die Schaufenster der Geschäfte zierten. Menschen rannten hektisch von einem Laden zum anderen. Vollgepackt mit unzähligen Taschen sah man die Männer, ihren Frauen hinterher schlurfen. Jeder wollte noch die letzten Geschenke ergattern, schließlich war in zwei Tagen Weihnachten. 

Er wusste schon, was er an Heiligabend machen wollte. Er folgte, wie alle anderen auch, einem festen Weihnachtsritual, nur war seines komplett anders, als dass der meisten anderen Menschen. Er würde sich betrinken, bis er nichts mehr von der festlichen Stimmung um sich herum wahrnahm. 

Igor Tarrasow tat jedes Jahr zu Weihnachten das Gleiche. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Gott, wie er diesen Namen hasste. Sein eigentlicher Name war das Einzige, was ihm aus seiner Vergangenheit geblieben war. Sein Name und die Erinnerungen, die ihn jedes Jahr zu Weihnachten wieder einholten, ertränkte er mit reichlich Whisky, wahlweise auch Wodka.

In seiner Einheit der SEALs in San Diego hatte er sich den Spitznamen Bear hart erarbeitet und inzwischen gehörte dieser Name mehr zu ihm als sein Geburtsname. Auch wenn der Umstand, dass seine Kollegen ihm diesen Namen zum Teil wegen seiner ungewöhnlich starken Körperbehaarung gegeben hatten, nicht unbedingt ein Lob war. Seine Kraft hatte ebenfalls dazu beigetragen, dass man ihn mit einem Bären verglich. 

Doch das war nicht immer so gewesen. Mit sechs Jahren war er an Weihnachten von daheim geflohen. Alleine, mitten in der Nacht, hatte er sich auf einen Weg ins Ungewisse gemacht, um seinem Vater zu entgehen. Von da an hatte er täglich um sein Leben kämpfen müssen. 

Tag für Tag musste er etwas zu Essen und einen Platz zum Schlafen finden, an dem er nicht überfallen, oder von dem er nicht vertrieben wurde. In einer Gegend der Welt, wo Geld, Lebensmittel und, wie es ihm damals schien, Liebe, rar waren. Die ersten Jahre hatte er sich seine Lebensmittel zusammengestohlen. Ein Apfel hier, eine geräucherte Wurst dort. Ein Liter Milch direkt von der Kuh, ein Brot aus dem Abfall des Bäckers war alles, was ihn am Leben gehalten hatte. Schlafplätze gab es in Scheunen, unter Brücken, im Sommer auch oft unter dem Sternenhimmel. Später hatte er sich mit kleinen Jobs das erste Geld verdient. Aber nie hatte es gereicht, um wirklich zu leben. Es war immer zu viel gewesen, um zu sterben und zu wenig um zu leben. 

So war er von einem Ort zum anderen gewandert, immer in der Hoffnung etwas Besseres zu finden, als dass was er gerade hatte. Mit elf kam er in Wladiwostok an. Selten hatte ihn eine Stadt so gefesselt. Er kannte Bahnhöfe und war oft mit Zügen gereist. Irgendwo zwischen den Gütern gab es immer einen Platz, um seine Reise angenehmer zu gestalten und heimlich mitzufahren. 

In Wladiwostok sah er das erste Mal in seinem Leben die großen Tanker vor Anker liegen. Schiffe kannte er bis dahin nur aus Büchern, die er Jahre zuvor bei seinen Brüdern gesehen hatte. Fasziniert und in der Hoffnung endlich das Land verlassen zu können, das ihn so sehr hasste, heuerte er auf einem Öltanker an, der den Pazifik in Richtung USA überquerte. 

Diese Überfahrt hatte sich einschneidend in sein Gedächtnis eingebrannt. Er hatte gehofft, dass er an Deck des riesigen Schiffes das Meer und die Ruhe genießen könne, aber es kam anders. Als Schiffsjunge landete er in der Kombüse. Die Monate der Überfahrt waren die Hölle. Bear war nichts Besseres als ein Spucknapf gewesen. Schläge standen auf der Tagesordnung. Von früh bis spät hatte er in der Kombüse gearbeitet. Kartoffeln schälen, Töpfe schrubben, Tische abwischen, Böden wischen. Monatelang verbrachte er unter Deck bei dem Koch, der ein argwöhnischer, brutaler Jähzorn war. 

Der Kochlöffel saß locker und Bear musste meist mehrfach am Tag Schläge einstecken, so dass er froh war, wenn er am Ende des Tages hinter dem Kartoffellager auf eine alte Decke sinken und dort schlafen konnte. Tageslicht und frische Luft gab es für ihn nicht. Schon bald hatte er nur noch einen einzigen Wunsch. Raus aus diesem kleinen Raum des Horrors. Nur wo sollte er hin? Mitten auf dem Pazifik gab es keine Fluchtmöglichkeit. Also musste er wieder einmal in seinem Leben kämpfen und durchhalten, bis sich ihm eine Gelegenheit bot, um sich aus dieser Situation zu befreien, in die er sich selbst hineingebracht hatte. 

Als das Schiff endlich wieder anlegte, verließ der Koch mit den Worten, dass er Vorräte kaufen wolle, die Küche. Bis zu diesem Tag wurde die Kombüse immer abgesperrt. Dieses Mal gelang es Bear, die Küche und das Schiff zu verlassen und sich an Land zu schmuggeln. Er versteckte sich in einer der vielen unübersichtlichen Ecken, zwischen riesigen Containern, hoffend, nicht gefunden zu werden. Doch schneller als ihm lieb war, wurde er von Hafenmitarbeitern entdeckt, die ihn an die Polizei übergaben, welche ihn wiederum in ein Kinderheim brachte.

Dort traf er auf Walter Barclay, den Heimleiter. Der zweiundfünfzigjährige, große Mann mit den breiten Schultern war, aus Bears Sicht, für sein Alter sehr gut durchtrainiert. Die sanften, braunen Augen des ehemaligen Navy SEALs konnten unglaublich wütend funkeln, wenn man etwas ausgefressen hatte. Und das hatte Bear oft, sehr viel öfter als die anderen Kinder im Heim. Auch wenn Walter unglaublich laut und wütend werden konnte, so rutschte ihm nie die Hand aus und Bear nahm die Strafen, die Walter ihm auferlegte, ohne Proteste hin. 

Der ehemalige Soldat war es auch, der schnell bemerkte, dass Bear neben festen Strukturen auch etwas benötigte, wo er seinen unbändigen Zorn auf die Menschheit in Bahnen lenken konnte, die weder ihm noch anderen gefährlich werden konnten. Walter brachte Bear das Boxen bei und wurde zu einer Vaterfigur mit einer strengen Hand, aber einem unglaublich weichen Herzen. Von ihm lernte Bear alles, was er zum Leben benötigte. 

2.

In Gedanken versunken beobachtete er das Meer. Die Wellen rollten sanft an den Strand, färbten den Sand dunkel und zogen sich dann langsam wieder zurück. 

Etwas Hartes traf ihn am Kopf und ein kurzer stechender Schmerz folgte, ehe er den Übeltäter entdeckte. Eine rote Frisbeescheibe lag neben ihm im Sand. Beim Blick über die Schulter entdeckte er eine Gruppe Jugendlicher, die in ihren Bewegungen verharrten als er sie ansah und ein Mädchen mit feuerrotem Haar und ebenso rotem Kopf, das auf ihn zugerannt kam.

»Verfluchte Scheiße, könnt ihr nicht besser aufpassen? Verdammte Rotzgören!« Er wandte sich wieder dem Meer zu, konnte aber nicht lange die Aussicht genießen. 

»Oh Gott, das tut mir leid. Mein Freund hat nicht aufgepasst. Haben wir dich verletzt?« Das Mädchen mit den roten Haaren fiel vor ihm im Sand auf die Knie.

Ehe er auch nur im Ansatz etwas sagen konnte, fuhr sie sanft über die Stelle an seinem Kopf, welche die Frisbeescheibe mit voller Wucht getroffen hatte.

»Das gibt eine dicke Beule, aber Gott sei Dank keine Platzwunde.« Die federleichte Berührung und die hervorsprudelnde Fürsorge des Teenagers ließ seine Wut verrauchen. Skeptisch, nicht wissend, was er von der Art des Mädchens halten sollte, kniff er ein Auge zu und sah der jungen Frau ins Gesicht. Meergrüne Augen sahen ihn aus einem herzförmigen Gesicht voller Sorge an. Die Lippen hatte sie zu einem schmalen weißen Strich zusammengepresst und eine steile tiefe Falte lag zwischen ihren Augenbrauen. 

»Ist alles Okay bei dir? Hast du Schmerzen? Sollen wir einen Arzt rufen? Mann, nun sag doch mal was.« Der schnelle Wechsel von Sorge zur Ungeduld brachte Bear zum Lachen. Das Mädchen riss von seiner Reaktion überrascht die Augen auf.

»Ja, alles in Ordnung. Entschuldige, dass ich nicht sofort geantwortet habe. Ich habe zwar nun einen Brummschädel, aber das legt sich wieder.« 

Erleichtert aufseufzend sank die Kleine – wobei klein war sie nicht, Bear schätzte sie auf sechzehn vielleicht siebzehn Jahre – zurück in den Sand.

»Oh man, du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt. Darf ich dich auf einen Kaffee und einen Eisbeutel einladen? Als Wiedergutmachung für die Beule?« 

Bear sah fasziniert in ihre Augen. Die Lachfältchen darum gaben ihrem Gesicht etwas Verschmitztes.

»Das musst du nicht, ehrlich.« 

Inzwischen war er von einer Schar Teenager umgeben, die alle zu dem Mädchen gehörten und sich nun ebenfalls überschwänglich und lautstark bei ihm entschuldigten.  

»Stopp!« Durch seine tiefe, autoritäre Stimme verstummten die Jugendlichen augenblicklich und starrten ihn an. Ihre Gesichtsausdrücke ließen ihn schmunzeln. 

»Macht doch nicht so ein Drama aus der Sache. Ich bin nicht aus Porzellan und so ein kleiner Hieb haut mich nicht um.« Bear nahm das Frisbee aus dem Sand und reichte ihn an einen jungen Mann mit blonden Haaren weiter, der kein Wort über die Lippen brachte, sondern ihm nur kurz zunickte. »Hier, geht weiterspielen, aber achtete darauf, wo ihr das Ding hinwerft. Nicht, dass ihr heute noch jemanden abschießt.« 

Mit weiteren gemurmelten Entschuldigungen entfernten sich die Kids wieder, nur die Rothaarige blieb vor ihm im Sand sitzen. Immer noch war er fasziniert von dem Farbton ihrer Haare. Ein solch intensiv leuchtendes Rot, welches nicht künstlich wirkte, hatte er noch nie gesehen. Ihre Haare fielen in leichten Wellen über ihre Schultern und endeten wohl kurz über dem Steißbein. Wie eine flammende Mähne schoss es ihm durch den Kopf. Sie war wirklich hübsch, aber zu jung für ihn, das musste er sich in diesem Moment mehrfach sagen, um nicht auf Gedanken zu kommen, die ihn in Schwierigkeiten bringen würden.

»Was ist nun? Kaffee?« Sie riss ihn aus seiner kurzen Träumerei. 

»Du lässt auch nicht locker, oder?« Er zog eine Augenbraue tadelnd hoch und lächelte sie an. Amüsiert beobachtete er, wie ihre Wangen sich rot färbten und sie kurz auf den Sand sah, ehe sie ihre freche Art wiederfand.

»Ach, komm schon Teddybär, ist nur ein Kaffee, ich will ja nicht mit dir ins Bett.« 

Verblüfft riss Bear die Augen auf und schnappte kurz nach Luft. Ein solch keckes Mädchen war ihm noch nie untergekommen. 

»Sag mal, wie alt bist du Frechdachs eigentlich?« Irgendwie fand er Gefallen an der Plänkelei mit der Kleinen.

»Siebzehn und ich heiße nicht Frechdachs, sondern Leyla.« Sie hatte sich, während sie sprach, etwas aufgerichtet, um ihre Verletzlichkeit zu kaschieren. Sie wollte eindeutig erwachsener wirken, als sie es war. 

»Also, Leyla.« Er legte den Kopf zur Seite. »Ich heiße auch nicht Teddybär, sondern nur Bear.« 

Sie riss ihre mandelförmigen grünen Augen weit auf. Ihre Hand schnellte zu ihrem Mund, um das Lachen, das eindeutig in ihr hochstieg, zu verstecken. Allerdings gelang ihr das nicht. Nach nur wenigen Sekunden gab sie auf und prustete schallend los.

»Das ist nicht dein Ernst. Du kannst nie im Leben nur Bear heißen. Deine Eltern müssen dich ja sehr gehasst haben, wenn sie dir diesen schrecklichen Namen gegeben haben.«

Ein stechender Schmerz zuckte durch Bears Brust. Ja, seine Eltern hassten ihn, aber seinen Namen hatte er seinen Freunden und Kollegen zu verdanken. Menschen, die für ihn alles riskieren würden, ebenso wie er für sie. Menschen, die ihr Leben geben würden, um ihn zu schützen und nicht wie seine Eltern ihn mit Füßen treten und ihm den Tod wünschten. Seine Freunde waren das genaue Gegenteil von seinen Eltern und diesen Namen hatten sie ihm gegeben und er war stolz darauf. Er war stolz ein Teil dieser Familie zu sein, die er an der Naval Base gefunden hatte. 

Boah, du bist so blöde. Da sitzt ein Typ vor dir, der von einem Michael Stokes Kalender sein könnte und du laberst so einen Müll daher. Leyla hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Sie konnte beobachten, wie der Gesichtsausdruck von Bear bei ihren Worten versteinerte. Ihr Mundwerk war einfach wieder einmal schneller gewesen als ihr Verstand. Sie hatte diesen muskelbepackten Mann mit den markanten Gesichtszügen mit ihren Worten verletzt. 

»Oh mein Gott, Bear, es tut mir leid. Natürlich hassen deine Eltern dich nicht. Es tut mir leid.« Sie sah ihn an. »Manchmal ist mein Mund schneller als mein Verstand, es tut mir wirklich leid«, fügte sie leiser hinzu und versuchte so die verfahrene Situation zu retten. Vorsichtig beugte sie sich vor und berührte seinen Arm. Seine blaugrünen Augen wirkten plötzlich stumpf. Es war, als wäre er in Gedanken gerade weit weg von diesem Ort, an dem ihr Freund ihm die Frisbeescheibe an den Kopf geworfen hatte. Während sie ihn beobachtete, schossen ihr Hunderte Fragen durch den Kopf. Wo kam er her und was hatte er erlebt, dass ihre Worte ihn so hart getroffen hatten? Warum war er, nicht wie andere Urlauber hellhäutig oder rot, wie ein gekochter Hummer, sondern wirkte mit seinem leicht braunen Teint, als wäre er von hier? Und warum um alles in der Welt war sie so fasziniert von seinen Brustmuskeln, die sie unter der starken Brustbehaarung gebannt beobachtete? Ley, verdammt er ist ein Mann und kein Tier, ein wahnsinnig gut aussehender dazu. Schalt sie sich selbst und riss sich so aus ihren Gedanken. Aber Bear mit diesem steinernen Gesichtsausdruck vor sich zu sehen, machte ihr Angst. 

»Bear? Bitte, es tut mir leid, verzeih mir.«

Die federleichte Berührung von Leyla an seinem Arm riss ihn aus seinen Erinnerungen. Löste ihn von Bildern, die er so sehr verfluchte. 

»Ich muss gehn.« Er stand auf, ohne sie anzusehen. Er musste hier weg. Mit einer einzigen Bewegung griff er nach seinem Shirt und seinen Schuhen und verließ fluchtartig den Strand. 

Er brauchte ein Bier, oder auch zwei. 

Nein, besser noch einen doppelten Whiskey um seine Vergangenheit dorthin zu spülen, wo sie hingehörte. Er achtete nicht auf seine Umgebung und nahm auch nicht wahr, dass Leyla immer wieder seinen Namen rief. Er folgte seinem Instinkt und ließ sich von seinen Füßen dorthin tragen, wo er das Gesuchte finden würde.