Codename Matumaini New Life

1.

Das Vibrieren seines Handys riss Syrell aus einem Dämmerzustand zwischen schlafen und wachen. Bemüht, sich so wenig wie möglich zu bewegen, während er nach seinem Telefon in der Hemdtasche angelte, behielt er Nayeli, die auf seiner Brust eingeschlafen war, genau im Blick. Ein weiteres Mal spürte er das Vibrieren des Telefons, ehe er es in die Hand bekam. Sein erster Blick galt nicht dem Absender der Nachricht, sondern der Uhrzeit. Knappe zwei Stunden war er weggedöst und hatte die Ruhe des Nichtstuns und die Nähe seiner Tochter genossen.

»Besser als nichts.« Mit sich selbst redend öffnete er die eingegangene Textnachricht, die ihm schon beim Blick auf den Absender klar gemacht hatte, dass seine Auszeit hier auf dem Sofa beendet war. Er hatte Yvonne versprochen, ihr ein wenig Zeit zu verschaffen, in der sie schlafen konnte. Nayeli war in den letzten Wochen zu einem kleinen Nimmersatt geworden und nutzte selbst in der Nacht alle zwei bis drei Stunden die Möglichkeit, zu trinken. Obwohl seine Frau ihm nie sagen würde, dass sie erschöpft war, hatte er es in den vergangenen Tagen bemerkt. Er öffnete die Nachricht, die aus der Base kam und mit Sicherheit an das gesamte Alpha-Team geschickt worden war. Sein Befehl lautete, in einer Stunde vor Ort zu sein. Seufzend schloss er kurz die Augen. Diese Anordnung konnte alles oder nichts bedeuten. Vielleicht wäre er in wenigen Stunden wieder hier, unter Umständen würde es aber auch Wochen oder Monate dauern. Beim Versuch aufzustehen, gab seine Tochter einen kleinen Protestlaut von sich. 

»Pst, schlaf weiter. Ich muss nur kurz die Welt retten.« Eine unergründliche Schwere griff nach ihm, als er Nayeli an sich haltend die Treppe hinauf ging. Er würde Yvonne wecken müssen. »Versprich mir, dass du Mama nicht ärgerst, und sie mal schlafen lässt, du kleines Monster.« Flüsternd gab er seiner Tochter einen Kuss auf die dunklen, feinen Haare. Der Geruch, den sie verströmte, verschaffte ihm immer wieder eine tiefe Zufriedenheit. Er öffnete die Tür zum Schlafzimmer. Yvonne lag mit dem Rücken zu ihm im Bett. Die Decke fast komplett über den Kopf gezogen, hatte sie sich in das Daunenbett gekuschelt. Der Gedanken daran, dass er sie gleich aus dem Land der Träume holen musste, schmerzte ihn. Sie hatten sich zusammen dazu entschieden, dieses kleine Wunder in die Welt zu setzen. Aber auch, dass sie ihrer Arbeit weiter nachgehen wollten, selbst wenn sie dabei Gefahr liefen, dass ein Augenblick wie dieser der letzte gemeinsame sein könnte. Vorsichtig, mit einem Arm seine Tochter haltend, setzte er sich auf das Bett. Auf den Platz, der unter Umständen schon heute Abend verwaist wäre. Er strich Yvonne über den Kopf.

»Hey.« Er wollte sie nicht wecken. Er wollte diese Zeit, die sie als Familie verbrachten, nicht unterbrechen. Selbst dann nicht, wenn diese gemeinsame Zeit hieß, dass er auf dem Sofa lag und sie hier oben. Yvonne murmelte etwas, ehe sie sich zu ihm umdrehte und langsam die Augen öffnete. Für einen Moment versank er in ihren grünbraunen Iriden. 

»Die Arbeit hat sich gemeldet.« 

Sie stieß ein leises Seufzen aus und hob die Decke an einer Ecke an. Er legte Nayeli zu ihr. Yvonne wusste, dass er viel lieber hier bei ihr bleiben und sich gerne zu ihr legen würde. 

»Dann schau nach, was los ist.« 

Nickend beugte er sich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Seine Gedanken kreisten immer noch um die Befürchtung, dass er sie erst in einigen Wochen wiedersehen könnte.

»Das glaube ich nicht«, flüsterte Yvonne, seine Gedanken anspielend, während sie Nayeli über die Nase streichelte. 

Syrell erwiderte nichts. Auch er hoffte, dass er in einigen Stunden wieder hier wäre. Bereits jetzt wieder in einen Einsatz zu gehen, fühlte sich fremd an. Er wollte seine Zeit hier verbringen. Wollte seiner Tochter bei ihrer Entwicklung zusehen und seine Frau unterstützen. 

»Nun mach, dass du loskommst.« Yvonne löste ihn aus seiner Starre, in der er gedankenverloren Nayeli beobachtet hatte, die schlafend neben Yvonne lag. 

Nickend stand er auf, zog sich sein Shirt über den Kopf und griff nach dem Hemd seiner Uniform. Auch seine Hose wechselte er, was Yvonne mit einem leisen Pfiff bedachte. Die Stiefel wenig später schnürend, holte ihn ein Gefühl ein, welches er verdrängen wollte. Doch es blieb. Der Blick auf seine Schuhe ließ eine dunkle Ahnung in ihm aufkommen. Er hoffte, dass Yvonne diese Ahnung nicht ebenfalls spürte. Es würde eine lange Zeit vergehen, ehe er diese Stiefel nicht mehr jeden Tag sehen würde. Er meinte sogar, trockenen Staub und Schießpulver zu riechen. 

»Es wird alles gut gehen.« Yvonnes Worte trieben ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Wo auch immer er die nächsten Wochen verbringen würde, es würde anstrengend werden. Nickend erhob er sich, schaffte es jedoch nicht, ihr in die Augen zu sehen, als er das Zimmer verließ. Warum heute? Warum musste ihn jetzt eine solche Vorahnung heimsuchen? Stufe für Stufe schritt er die Treppe hinunter. Irgendetwas war anders, und es war nicht der Umstand, dass Yvonne in diesem Moment nicht hinter ihm stand. Syrell bemühte sich, das Gefühl loszuwerden, als er nach dem Schlüssel seines Ford Ranger griff. Aber die Last, die sich auf ihn gelegt hatte, blieb. Es war ein ungewohntes Gefühl, welches er einfach nicht zuordnen konnte. Die kurze Zeit später hinter ihm ins Schloss fallende Tür machte die Situation nicht besser. Eine ganz leise Stimme in ihm flüsterte ihm, er solle umkehren und zu Yvonne ins Bett gehen. Das, was nun kommen würde, könnte sehr anstrengend werden. Aber diese Stimme war doch schon immer dagewesen, oder? Keiner der Einsätze war ein Sonntagsausflug oder mit Leichtigkeit zu bewältigen. 

Seine Gedanken blieben auch bei seiner Ankunft an der Base schwammig. Er traf auf dem Parkplatz auf Dennis und Willie, die verschwitzt auf ihn zugerannt kamen. 

»Wir sind gleich da.« Die beiden verschwanden noch vor ihm im Inneren der Base. So wie sie aussahen, hatten sie einen längeren Lauf hinter sich, und sich bei der Nachricht, dass sie in die Base kommen sollten, ordentlich ins Zeug gelegt. Im Gebäude entdeckte Syrell Sean, der mit einer ihm unbekannten Uniformierten zusammenstand. Rafael, der mit zwei Tassen aus der Küche kam und direkt auf die Frau und Sean zusteuerte, schien sie hingegen zu kennen. Syrell konnte eine gewisse Aufbruchstimmung verspüren, die von Sean und der Fremden ausging. Sean, Rafael und die brünette Frau kurz grüßend, betrat er das große Konferenzzimmer. Harry, gab ihm mit einer knappen Geste zu verstehen, dass der Platz neben ihm noch frei war, woraufhin Syrell sich zu dem gebürtigen Engländer setzte. 

»Weißt du schon was?« Harrys Frage beantwortete Syrell mit einem Kopfschütteln. 

»Wer ist das da bei Sean?« Vielleicht hatte sich die Fremde seinen Kollegen bereits vorgestellt.

»Keine Ahnung, die hab ich noch nie gesehen.« Harry zuckte mit den Schultern, als Bear den Raum betrat und sich neben ihnen niederließ. 

»Wer ist das?« Ihr Kollege deutete mit dem Kopf auf die Tür und spielte ebenfalls auf die vollschlanke Frau in olivgrüner Uniform an. 

»Keine Ahnung. Hab sie auch noch nie gesehen«, erklärte Syrell nun und Harry hob einmal mehr ratlos die Schultern, als Bear ihn ansah. Bear gab ein leises Brummen von sich. Wer auch immer die Fremde war, sie würden es hoffentlich gleich erfahren. Nicht einmal das Whiteboard verriet etwas über ihre Mission. Ab und an fanden sie dort bereits Landkarten, Luftbilder oder Fotos ihrer Zielpersonen. Heute war es leer

»Guten Morgen die Herren.« Als hätte sie geahnt, dass man von ihr gesprochen hatte, betrat die Fremde den Raum und zog sofort die Aufmerksamkeit aller auf sich. Sie löschte das Licht und schaltete per Fernbedienung den Beamer ein. Direkt nach ihr kam Sean in das große Zimmer. »Sind wir vollzählig?« Sie musterte die Anwesenden und dann Sean, der den Kopf schüttelte. 

»Zwei Männer fehlen, die werden sicher gleich da sein.« 

»Alter, hat die ihren Daumen auf ihm liegen? Der klingt wie ein Schoßhund.« Harrys geflüstertes Erstaunen fasste die Verwunderung in Worte, die auch Syrell empfand. Wer war sie? Es machte den Eindruck, als sei sie diejenige, die gleich Befehle erteilen würde. Erneut trat Stille ein, während sie auf Dennis und Willie warteten. 

»Das gefällt mir nicht«, raunte Bear nach einigen Minuten. Kurz darauf betraten Dennis und Willie den Raum. Die Kollegen salutierten und setzten sich auf zwei freie Stühle. 

»Dann können wir ja beginnen.« Wieder übernahm die Fremde das Wort und Sean trat schweigend an ihr vorbei nach vorne und deutete dann auf sie.

»Leute, das ist Agent Thornton, sie hat einen Auftrag für uns, den sie uns jetzt erläutern will.« Sean setzte sich und gab der Agentin mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie beginnen sollte. 

Das Foto eines dunkelhäutigen Mannes mit ungepflegter Frisur und Bart wurde an die Wand projiziert. Dann tauchte eine topografische Karte auf.

»Das ist Boussora«, raunte Harry mit einem interessierten Unterton.

»Wie Officer Flynt gerade richtig bemerkt hat, handelt es sich bei dem Mann auf dem Bild um Ali Sayyid Boussora. Er ist aktuell der führende Kopf einer kenianischen Gruppe von Terroristen, die sich Milazim anschließen wollen. Sie terrorisieren die Gegend im Nordwesten Kenias seit Monaten. Aktuell nehmen die Anschläge zu, und der letzte Anschlag in Mogadischu geht einem Bekennerschreiben zufolge ebenfalls auf das Konto dieser Gruppe. Wir nehmen an, dass sie mit diesen Anschlägen dafür sorgen wollen, Milazims Anerkennung zu erhalten. Um weitere schwere Ausschreitungen und Angriffe zu verhindern, wollen wir ihn ausschalten.« 

Während Thornton gesprochen hatte, hatte sie verschiedene Landkarten präsentiert und Bilder des attackierten Hotels in Mogadischu, die sie zum Teil aus den Nachrichten kannten.

»Es gab bisher fünfzehn ausländische Opfer, da Boussora sich unbedingt Milazims Zelle anschließen will, ist damit zu rechnen, dass er weitere Opfer in Kauf nimmt.« 

»Milazim wird ihn nicht in seinen Reihen aufnehmen, da kann er machen, was er will«, warf nun Dennis ein. 

»Wie kommen Sie darauf?« Thornton sah Dennis abschätzend an. 

»Weil er den Tod von Islamisten billigend in Kauf nimmt. Bei dem Anschlag in Mogadischu sind mindestens fünf Männer umgekommen, die nachweislich streng gläubig waren.«

Thornton nickte anerkennend. »Da hat jemand seine Hausaufgaben gemacht. Aber diese Tatsache ändert nichts daran, dass von Boussora und seinen Männern eine extreme Gefahr ausgeht. Zudem wird gemunkelt, dass er sich Sprengstoffwesten angeeignet hat, die Milazim gehörten und die wir bisher nicht finden konnten. Deswegen ist nicht auszuschließen, dass die beiden Parteien aufeinandertreffen.« 

»Dann sollten wir sie sich gegenseitig abschlachten lassen.« Lexis Einwurf wurde von Sean mit einem rügenden Blick bedacht. 

»Sergeant Walker, wenn dieses Abschlachten mitten im Nirgendwo stattfindet, spricht sicher nichts dagegen, aber Sie kennen die Arbeitsweise von Milazim und seinen Anhängern.« 

Lexi seufzte. Sie alle kannten dessen Vorgehensweise. Milazim liebte die große Bühne. Er würde niemanden im Nirgendwo abschlachten. Er wollte im Rampenlicht stehen, zeigen, wozu er in der Lage war, und wie sehr er Menschen mit christlichen Grundlagen verachtete. 

»Okay, dann sagen Sie uns, was wir tun sollen.« Wieder war es erstaunlicherweise Dennis, der nach mehr Informationen verlangte. 

»Sie fliegen nach Malindi und unterstützen in Dif die dortigen Kräfte und die regierungstreuen Einheiten bei der Sicherung der Dörfer. Sie führen Kontrollen durch und sprechen mit der Bevölkerung.« 

Nathan lachte auf, woraufhin Agent Thornton erneut ihrer Erklärungen unterbrach und ihn scharf musterte. 

»Regierungstreu, wenn ich das schon höre. Die Typen schießen dir ungefragt in den Rücken, wenn sich ihnen die Gelegenheit bietet.« Nathan schüttelte amüsiert den Kopf.

»Mister Harrison, da liegen Sie sicher nicht falsch. Deswegen schicken wir Ihre Einheit. Sie haben ausreichend Erfahrung und kennen die Vorgehensweise von Milazims Anhängern mit am besten.« Agent Thornton lehnte sich an den Tisch. 

»Toll! Kanonenfutter für ein paar Idioten«, murrte Nathan zähneknirschend. »Wann soll der Spaß denn losgehen?« Seine Frage war sicher daran angelehnt, dass in zwei Tagen der Jahreswechsel anstand und er bestimmt beabsichtigte, diesen mit seiner Freundin zu verbringen, da er Weihnachten nur zur Hälfte bei ihr hatte sein können.

»Das wird Captain Harrison Ihnen mitteilen, sobald wir Kontakt mit unserem Informanten vor Ort haben. Er ist erst vor wenigen Tagen dort eingetroffen und lebt sich wohl gerade ein.« 

»Wenn es Gab ist, wird er bis zum neuen Jahr warten«, raunte Nathan leise. »Sonst zieh ich ihm ´ne volle Flasche Whisky über seinen Dickschädel.« 

Die Art, wie Agent Thornton Nathan nun ansah, ließ den Schluss zu, dass wirklich Gabriel Hall irgendwo in Kenia unterwegs war. Somit hatten sie eine zusätzliche Person, auf die sie irgendwie aufpassen mussten. Syrell hatte bisher kaum Kontakt zu dem Mann gehabt, der von Bear bereits als einsamer Wolf bezeichnet worden war. Nathan hatte einen Teil der Weihnachtsfeiertage damit zugebracht, Gabriel in Kanada zu suchen und ihn davon zu überzeugen, als Informant für die CIA zu arbeiten. Nur so konnte er seiner Strafe entkommen. 

»Ich habe eine Liste von Personen zusammengefasst, die wir aus dem Verkehr ziehen wollen. Ob lebendig oder tot überlasse ich Ihnen. Captain Harrison, Sie haben das Wort.« Agent Thornton trat zur Seite und ließ sich auf einem freien Stuhl nieder. 

»Danke Agent Thornton.« Sean rief weitere Bilder auf. Neben weiteren topografischen Landkarten zeigte er Bilder von Gebäuden. Es gab zwei kleine Schulen, die ländlich lagen und ein Krankenhaus, das von einer internationalen Gruppe von Ärzten betreut wurde. Außerdem zeigte er ihnen wichtige Straßen und mögliche Anschlagsziele in einigen größeren Städten.

»Das ist verdammt viel Land, auf das wir da aufpassen sollen«, warf Nick ein.

»Deswegen schauen wir mal, was wir für Informationen von unserem Mann vor Ort bekommen. Dann können wir uns genauere Pläne machen.« Sean machte eine Pause, ehe er Syrell direkt ansah. Syrell seufzte. Er wusste, was Sean sagen wollte und spielte mit dem Gedanken, abzulehnen. 

»Syrell übernimmt das Kommando vor Ort. Nick, Dennis, Nathan, Aidan und Will gehen mit. Ihr klärt vor Ort auf und greift gegebenenfalls ein. Bear übernimmt das Backupteam hier. Sollte die Lage vor Ort es erfordern, reist der Rest nach. Also bleibt Team Alpha bis auf Weiteres auf Rufbereitschaft. Wegtreten.« Sean gab ihnen mit einer Geste zu verstehen, dass sie gehen könnten.

»Indy, auf ein Wort.« 

Als Syrell sich erhoben und ein Teil seiner Kollegen den Raum schon verlassen hatte, forderte Sean ihn auf, zu ihm zu kommen. Durchatmend ging er auf Sean zu, der an seinem Tisch lehnte. 

»Ich weiß, dass du wahrscheinlich lieber hier bleiben willst, aber ich …« 

»Du kannst nicht anders, schon klar. Wobei mir wohler wäre, wenn du direkt mitkommst und nicht als Backup vom Backup hier bleibst.« So offen hatte er seine Bedenken nicht äußern wollen. Als CO dem Team vorzustehen, würde gleich in mehreren Punkten viel Verantwortung mit sich bringen. Nicht nur, dass er die Verantwortung für alles tragen würde, was sie unternahmen. Er würde die Gespräche mit den Einheimischen leiten und ebenso die Kooperation mit den örtlichen Einheiten. Solche Zusammenarbeiten konnten schnell zu großen Problemen führen, wenn es zu einem Gerangel um die Kompetenzen kam. Er bezweifelte, dass vorstehende einheimische Offiziere ihm ohne weiteres das Kommando überlassen würden. Vielleicht könnte er auch einfach als zweiter Mann fungieren. So könnte er sich ebenfalls das Vertrauen der Menschen vor Ort erarbeiten und an Informationen kommen. 

»Ich hab hier noch einiges zu erledigen. Wenn die Hütte bei euch brennt, kommen wir zu euch. Rede mit Yvonne. Wenn sie dagegen ist und sich nicht umstimmen lässt, übernimmt Bear. Du übernimmst dann das Backupteam.« 

»Warum schickst du nicht gleich ihn?« Syrell musterte Sean und konnte den Spot, den er gleich ernten würde, bereits spüren. Bear war seit einigen Wochen oft geistig abwesend. Er war mit irgendetwas beschäftigt, was er bisher nicht ausgesprochen hatte. 

»Du weißt es. Da ist aber noch was, was ich dir sagen muss. Da ihr einen Übersetzer braucht und ich irgendwie bei der ganzen Sache ein ungutes Gefühl habe, habe ich Thornton davon überzeugen können, dass wir keinen örtlichen Sprachmittler nehmen.« 

»Du schickst Darrel mit? Das hättest du uns ruhig sagen können. Meinst du, er hat wieder einen klaren Kopf?« Syrell hatte ein paar Tage nicht mehr mit seinem Kollegen gesprochen, der ein wahres Sprachwunder, aber durch diverse Schicksalsschläge der letzten Monate mental angekratzt war. In diesem Moment sah er den Grund nicht, warum Sean nicht erwähnt hatte, dass Darrel sie begleiten würde.

»Nicht Darrel. Ihr nehmt Derrin mit.« 

Syrell konnte seinen überraschten Gesichtsausdruck nicht verhindern. »Weiß Nathan das schon?« Der Gedanke, dass Nathan sich während des Einsatzes vielleicht mehr um Derrins Wohl als um sein eigenes oder das des Teams sorgen würde, hinterließ ein ungutes Gefühl in seiner Magengegend. 

»Nein, das wollte ich ihm später erklären.« Die Art, wie Sean die Luft ausstieß, ließ erahnen, dass auch er die Probleme sah, die möglicherweise entstehen könnten. 

»Nichts gegen Derrin, aber meinst du, das ist wirklich so schlau?« Konnte er noch an Seans Gewissen appellieren? Würde es einen Weg geben, um seinen Captain von diesem Entschluss abzubringen? »Darrel könnte ja mitkommen. Er übernimmt dann keinerlei Verantwortung, abgesehen von der als Sprachmittler.« Syrell wurde schon beim Sprechen klar, dass auch dieser Weg problematisch wäre. Darrel würde sich nutzlos fühlen, wenn er wirklich nur zum Übersetzen dabei sein würde. Und für alles andere war er unter Umständen noch nicht bereit. Die Art, wie Sean ihn ansah, sorgte dafür, dass er keine Antwort mehr erwartete. Sean schien ähnliche Gedanken gehabt zu haben wie er und er hatte seine Entscheidung, wenn auch zögernd, gefällt. 

»Uns fehlen echt ein paar Leute, die ein bisschen mehr können außer den üblichen Standartworten in fünf Sprachen.« Sean griff nach einer Mappe, die Agent Thornton liegengelassen hatte. »Hoffen wir, dass Gabriel seinen Job vernünftig macht und wir nicht ewig warten müssen.« 

»Und uns keiner in den Rücken schießt.« Auch Syrell hatte noch Zweifel an der Tauglichkeit von Gabriel Hall als Informant. »Bear sagt, der denkt nur an sich.« Diese Aussage seines Kollegen hatte sich tief in sein Gedächtnis gefressen. Er wollte mit niemandem zusammenarbeiten, der nur an sich selbst dachte. Sie mussten immer an andere denken. An ihre Kollegen, an die Bevölkerung und ganz zuletzt auch an sich selbst. Wenn man nur sich im Sinn hatte, passierten Fehler und Tote waren nicht auszuschließen. 

»Na ja, baut er Scheiße, geht er in den Bau. Ihm blüht lebenslänglich …« 

»Wenn man nichts zu verlieren hat, ist einem das auch egal«, unterbrach er Sean.

»Mann, hör auf. Schwarzmaler hab ich genug hier.« Sean trat an ihm vorbei. »Wir sehen uns.« 

»War das jetzt alles?« Syrell konnte kaum fassen, dass Sean ihn einfach so hier stehen ließ.

»Probleme lösen wir, wenn sie da sind. Jetzt welche heraufzubeschwören, bringt nichts.« Sean erreichte die Tür und trat auf den Flur. Syrell blieb alleine zurück und spürte den Druck der Verantwortung, der sich langsam auf ihn legte. Er würde sich in den nächsten Stunden mit topografischen Karten und den Gebäuden rund um ihren Einsatzort vertraut machen. Und er würde sich näher mit seinen möglichen Gegenspielern beschäftigen. Gerade Dennis schien ihm in diesem Punkt bereits weit voraus zu sein. 

2.

»Schau mal, was ich heute gefunden habe. Ich musste es einfach mitnehmen.« Karen rauschte an Yvonne vorbei ins Haus. Sie hatte ihr kurz einen Strampler vor die Nase gehalten, den Yvonne nur als grauen Schatten wahrgenommen hatte. 

»Ähm ja.« Sie ging hinter Karen her, die bereits den Stubenwagen von Nayeli erreicht hatte. 

»Meine kleine Prinzessin, schau mal, was ich dir mitgebracht habe.« Karen beugte sich über Nayeli, die brabbelnde Laute von sich gab. 

Erst jetzt, als Yvonne sich näherte, konnte sie erkennen, um was für einen Strampler es sich handelte. Ein grauer Strampler aus Nickistoff, passend für das aktuell kühle Wetter, mit einer Anleitung, welches Bein und welcher Arm wohin muss und den Worten: Papa, du schaffst das. Yvonne schmunzelte. 

»Meinst du, er nimmt mir das übel?« Karen hängte den Strampler über den Rand des Stubenwagens und drehte sich mit einem fragenden Gesichtsausdruck zu ihr um. Sie schien Zweifel zu haben, ob Syrell ähnlich amüsiert reagieren würde wie sie.

Yvonne schüttelte immer noch grinsend den Kopf. »Ich denke nicht und wenn doch, beschützen wir dich.« Sie zwinkerte ihrer engsten Vertrauensperson zu.

»Ist er auch an der Base? Bear schrieb, dass es spät werden könnte.« Karens belustigte Miene hatte sich verändert. Obwohl sie damit zurechtkam, dass ihr Lebensgefährte und ihre Freunde über Wochen in gefährlichen Einsätzen steckten, sorgte sie sich jedes Mal aufs Neue. Auch bei Yvonne machte sich seit einiger Zeit immer wieder ein Gefühl breit, dass sie vorher so nicht gekannt hatte. Zuvor war es eine gewisse Anspannung gewesen, die sie lediglich kurz vor den Einsätzen heimgesucht hatte. Jetzt stellte sie sich häufiger die Frage, ob sie Syrell wiedersehen und ob er unverletzt heimkommen würde. Und was noch schlimmer war, sie legte sich bereits jetzt Worte zurecht, um ihrer Tochter all das zu erklären.

»Ja, scheint dieses Mal was Ernstes zu sein.« Viele Male zuvor waren Einsätze zwar besprochen worden, aber am Ende hatte man sie abgesagt oder anderen Einheiten zugeschoben. »Kaffee?« 

»Ja.« Karen nickte. »Ich glaube, daran gewöhne ich mich nie.« Karen spielte mit Nayelis Fingern, die neugierig nach allem griffen, was sie fassen konnten. Yvonne ließ Karens Satz unkommentiert. Sie hatten das Thema schon oft besprochen und sie wusste, dass Karen in diesem Augenblick keinen Kommentar oder tröstende Worte erwartete. Sie kannten beide die Risiken, mit denen sie und ihre Partner leben mussten. Schweigend bereitete Yvonne zwei Tassen Kaffee zu und beobachtete währenddessen Karen, die sich gedankenverloren mit Nayeli beschäftigte. 

»Was planst du für die nächsten Tage?« Karen sah zu ihr.

»Wir wollten ins Reservat. Aber jetzt …« Sie zuckte mit den Schultern. Ob sie auch ohne Syrell fahren würde, wusste sie noch nicht. 

»Ich denke, dass Sy es dir nicht übel nimmt, wenn du trotzdem fährst. Du hast doch ein gutes Verhältnis zu seiner Mutter. Und hier würde dir die Decke auf den Kopf fallen. Wer weiß, wie lange sie weg sind«, erwiderte Karen. 

»Na ja, ich will euch hier auch nicht alleine lassen.« Ihr war der Gedanke, alleine zu fahren, zwar gekommen, aber sie hatte ihn verworfen, da sie bei ihren Freundinnen und den Männern des Teams sein wollte, falls …

»Wir sind doch nicht alleine.« Karen schüttelte amüsiert den Kopf. »Da muss ich mir eher Gedanken darum machen, ob du nicht alleine bist.« 

Yvonne konnte spüren, dass Karen sich über den zweiten Satz ärgerte. 

»Also, ich meine ja nur …«, fügte Karen hinzu. 

»Ich weiß schon. Aber ich bin da nicht alleine. Syrells Mom ist eine wundervolle Frau und ich denke, dass noch mehr aus seiner Familie vorbeischauen werden, weil sie alle neugierig auf das neue Familienmitglied sind. Ich wäre nur gerne mit Sy gefahren.« Sie hatte sich einige Tage als Familie im Reservat gewünscht. Irgendwann würden sie sicher auch nach Deutschland fliegen, damit ihre Eltern ihr Enkelkind und ihr Bruder seine Nichte kennenlernen konnten. Aber diesen Besuch hatten sie erstmal in die Zukunft verschoben. Für eine solche Reise mit einem Säugling fühlte sie sich noch nicht bereit. 

Nachdem sie den Kaffee getrunken und Nayeli ihren Hunger gestillt hatte, machten sie gemeinsam einen Spaziergang, da Karen darauf bestanden hatte den Kinderwagen einzuweihen. Es war zwar nicht das erste Mal, dass sie mit dem Wagen unterwegs war, aber das erste Mal, dass Karen Nayeli mit einem breiten Grinsen durch die Straßen schob. Es fühlte sich immer noch fremd an. Vor Nayelis Geburt war sie zwar auch schon hier spazieren gegangen, kannte viele Nachbarn aber nur vom Sehen. Nun kam es vor, dass sie sich mit ihren Nachbarn unterhielt, wenn sie mit dem Kinderwagen unterwegs war. Die meisten waren nett und sie ärgerte sich, dass sie den Kontakt zuvor nicht gesucht hatte. Es gab eine Dame, die mindestens einmal am Tag ihre Rosen kontrollierte. Eine Familie mit zwei Kleinkindern, die sie gefragt hatten, ob sie noch Kleidung benötigte und einen seltsamen älteren Herren, dessen Frau Yvonne bisher nur flüchtig gesehen hatte. Er grüßte immer nett, aber Yvonne hatte sich geschworen, nie ungefragt sein Grundstück zu betreten. Egal wann sie vorbeikam, war er im Garten damit beschäftigt, Laub vom Rasen aufzulesen oder etwas, was sie nicht sehen konnte, von den gepflasterten Flächen zu fegen. Selbst die Büsche wirkten auf Yvonne, als hätten sie Angst, in die falsche Richtung zu wachsen. Der Rasen war immer akkurat geschnitten und es gab auf der Einfahrt und der Beeteinfassungen kein einziges Stängelchen Unkraut. Wenn man einen Garten als steril beschreiben konnte, dann war es wohl der, an dem sie gerade vorbeikamen. 

»Schick.« Karen nickte bewundernd, als sie die Blumen musterte. Nur Augenblicke nach ihrer Bemerkung öffnete sich die Tür, und der grauhaarige Mann betrat seinen Garten mit einem schwarzen Eimer und bückte sich nach nur wenigen Schritten. Was genau er aus dem Rasen riss, konnte Yvonne nicht sehen, wohl aber hörte sie einen abschätzenden Laut von Karen. »Ah, so einer. Da müssen die Tiere erst fragen, ob sie den Rasen betreten dürfen oder um eine Überfluggenehmigung bitten.« 

»Die sie sicher nicht erhalten«, fügte Yvonne flüsternd hinzu, nachdem sie dem Mann zugenickt hatte, der freundlich grüßend die Hand gehoben hatte. 

»Wenigstens grüßt er«, raunte Karen ihr zu.

»Hoffentlich lädt er mich nie ein. Ich wüsste gar nicht, wie ich mich bei ihm verhalten darf. Vielleicht muss man da sogar Anträge stellen, um zu atmen.« Sie hatten das Grundstück passiert, als Yvonne ihre Bedenken äußerte.

 »Mit Kind lädt der dich sicher nicht ein.« Karen grinste sie von der Seite an. »Wo wir bei einladen sind. Das war eigentlich der Grund, warum ich vorbeigekommen bin, dann hat mich der Strampler aber hinterhältig angesprungen. Wir dachten, es ist an der Zeit für ein Neujahrsbarbecue. So mit allen.« Fragend musterte Karen sie von der Seite. 

»Warum nicht. Was brauchst du? Wobei soll ich dir helfen? Und für wann hast du es geplant?« Yvonne hätte kein Problem damit, alle Freunde und Kollegen zu treffen. Es war lange her, dass sie das letzte Mal in großer Runde zusammengesessen hatten. Die vergangenen Feiertage hatte irgendwie jeder für sich und mit den Familien verbracht, was sicher der allgemeinen, nicht immer guten, Stimmung zuzuordnen war. 

»Eigentlich am Wochenende in zwei Wochen. Aber wenn Bear dann schon weg ist, ist es auch blöd. Er hat geschrieben, dass sie schon in ein paar Tagen losmüssen. Meinst du, wir schaffen das morgen?« Wieder sah Karen sie von der Seite an und Yvonne konnte spüren, dass Karen inständig hoffte, dass die Männer dann noch im Land wären und Zeit hätten. 

»Dann aktivieren wir mal alle.« Sie zückte das Handy. Es gab eine Messengergruppe, in der alle Frauen der Teamkollegen vertreten waren. In diese war sie erst vor kurzem aufgenommen worden, da alle mit Recht davon ausgingen, dass es noch eine Weile dauern würde, bis sie wieder in den aktiven Dienst wechseln würde. Sie schickte die Nachricht ab, als sie wieder auf die Straße bogen, in der Yvonne und Syrell wohnten. Nayeli schlummerte selig und so könnte sie Karen ungestört bei der groben Organisation helfen.