Vengeance 3 – Retribrution

Leseprobe

1.

Riccardo trat durch die Flughafentür nach draußen. Er atmete tief durch. Es war Nacht und die Luft war im Gegensatz zu der im Flughafen und im Flieger kühl und klar. Er hatte es geschafft und war tatsächlich in San Diego angekommen. Sich umsehend überlegte er, möglichst schnell eine günstige Unterkunft und einen Job zu suchen. Wie er das jedoch ohne Arbeitserlaubnis bewerkstelligen wollte, wusste er noch nicht. Er wusste nur, dass er einen Weg finden würde. Es gab immer einen, nur zeigte er sich nicht immer gleich. 

Mit geschultertem Rucksack ging er auf eines der Taxis zu, nur um dann einen Meter vor dem Wagen stehenzubleiben. Es wäre unklug, sein letztes Geld für ein Taxi auszugeben. Besser schien es, dieses zu sparen, um ein Hotelzimmer bezahlen zu können, oder um eine Nacht länger ein Dach über dem Kopf zu haben. Aber wie sollte er ein Hotel finden? Er konnte ja schlecht einfach die Straße hinuntergehen und suchen. Wieder richtete er seine Aufmerksamkeit auf das Taxi und den jungen Fahrer, der an seinem Wagen lehnte. 

»Entschuldigen Sie.« Riccardo ging auf den Mann zu.

»Wo soll’s hingehen?« Der Mann öffnete bereits die Tür des Wagens. 

»Nirgends. Eigentlich bin ich auf der Suche nach einem günstigen Hotel, wissen Sie da was?« Riccardo war dicht neben dem Wagen stehengeblieben und bemerkte, wie die Miene des Fahrers versteinerte. Er war unübersehbar nicht davon begeistert, dass Riccardo ihm eine solche Frage stellte. Wahrscheinlich wollte der junge Mann lieber einen Fahrgast, als jemanden, der ihm Löcher in den Bauch fragte. Unüberhörbar stöhnend atmete der dunkelblonde Mann aus. 

»Die Straße runter, dann rechts und die dritte links, da ist ein günstiges Motel. ´Ne echte Bruchbude. Ich kann Sie gerne fahren.« 

»Nein danke.« Riccardo ging an dem Fahrer vorbei, der ihm einen Fluch hinterherschickte. Eilig rannte er über die vielbefahrene Straße und schrak mehrfach zusammen, als er das wilde Hupen von Autos vernahm, die ihn um ein Haar erwischt hätten. War es hier normal, dass es vor einem Flughafen keine Geschwindigkeitsbegrenzung gab? Irritiert warf er einen Blick über die Schulter, wo gerade wieder ein Auto wild hupend an ihm vorbeigefahren war. 

»Mann, pass doch auf.« 

Er stieß gegen einen dunkelhäutigen Mann, der drohend die Hand hob. 

»Entschuldigung.« Riccardo nickte dem Mann zu und ging weiter. Überall liefen Menschen geschäftig hin und her, stiegen in Taxis oder überquerten die Straße, um zu den Bussen oder dem Parkplatz zu gelangen. Hier war weit mehr los, als in Padua. Dort kehrte kurz nach Mitternacht meist Ruhe ein. Man traf hier und da noch Menschen, aber es war weitestgehend still. Nicht wie hier. Hier herrschte eine unglaubliche Betriebsamkeit. Die Stadt schien keinen Schlaf zu kennen. Langsam ging Riccardo an der Straße entlang und ließ seine Aufmerksamkeit über das Flughafengebäude wandern. Nach einigen hundert Metern kamen weitere Gebäude in Sicht. An der Straße deuteten Schilder darauf hin, dass sie zu Transportunternehmen gehörten. Er musterte die Menschen, die an ihm vorbeieilten und ihn überhaupt nicht zur Kenntnis nahmen. Niemand grüßte oder nickte ihm auch nur freundlich zu. Alle hasteten durch die Gegend, als würden sie etwas Wichtiges verpassen, wenn sie stehen blieben. Er sah überall Autos und Menschen und selbst mitten in der Nacht brannte in den großen Hallen noch Licht. Es wirkte alles fremd auf ihn. Hier herrschte ein für ihn unfassbares Tempo und er war sich nicht sicher, ob er mithalten konnte.

Ein verführerischer Duft erinnerte ihn daran, dass die letzte Mahlzeit schon viel zu lange her war. Ein Schnellimbiss erregte seine Aufmerksamkeit. Er ging direkt auf die weit geöffnete Eingangstür zu. Es war, als würde ihn etwas in dieses Gebäude ziehen. Der Duft von fettigen Pommes und Burgern stieg ihm in die Nase. Mit der Zunge strich er sich über die Lippen. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass er wieder das Verlangen verspürte, einen Burger zu essen. Noch vor kurzem hatte er bei Burgern nur an gepresstes Fleisch, viel Fett und pappige Brötchen gedacht und den Vergleich zu einem Fladenbrot gezogen, welches ihm dann lieber gewesen wäre. Jetzt regte sich in seinem Magen tatsächlich der Appetit, als ihm der Duft in die Nase stieg. Der Schnellimbiss war gut besucht und niemand interessierte sich für ihn. Er blieb in einiger Entfernung vom Verkaufstresen stehen und musterte das gelistete Angebot an der Wand. Die Auswahl war riesig. Unsicher zog er seine Geldbörse aus seiner Hosentasche. Es waren nur noch wenige Dollar übrig. Aber sein Hunger war so groß, dass er sich für zwei Burger, Pommes und eine große Cola entschied, als er an den Tresen trat. Die Bedienung nickte ihm freundlich zu, kassierte und reichte ihm wenig später die Mahlzeit auf einem Tablett. 

»Danke.« Er nickte der jungen Frau knapp zu und setzte sich auf einen Sitzplatz in der Ecke des Imbisses. Er schob sein Tablett über den Tisch und setzte sich. Den Burger essend, beobachtete er die Menschen, die wie er in ihre Mahlzeiten vertieft waren. Sie schienen sich nur für ihr Essen zu interessieren. Wo er bei jedem Hupen vor der Tür erschrocken hinaussah, hoben sie nicht einmal den Blick. Ebenso wenig interessierten sie sich für die Menschen, die in das Gebäude kamen. Er achtete bei jedem Einzelnen darauf, ob er angesehen wurde oder ob es vielleicht sogar Ballot war, der ihn suchte. Riccardo wurde klar, dass er jederzeit damit rechnen musste, den Agenten der CIA zu sehen. Ballot würde ihn verhaften, so wie er es angedroht hatte. Er musste auf der Hut sein. Ab jetzt musste er seine Aufmerksamkeit überall haben und vor allem musste er verschwinden, falls die CIA wirklich auftauchen sollte. Nur wie konnte er die Mitarbeiter der Agency erkennen? Sie würden kaum in schwarzen Anzügen vor ihm stehen und ihn freundlich um seine Mitarbeit bitten. Jeder, der hier saß, konnte von der CIA sein. Dieser Gedanke jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. 

Viel länger als er es sich vorgenommen hatte, blieb er in der Ecke des Imbisses sitzen und beobachtete die Menschen und die Straße. Er versuchte, die Menschen so zu beobachten, dass sie es nicht bemerkten. Gleichzeitig bemühte er sich, sich ihre Gesichter einzuprägen. Warum er das tat, wusste er selber nicht. Es wurde eine Art Spiel. Er beobachtete die Menschen so lange, bis sie bemerkten, dass er sie ansah. 

»Entschuldigen Sie. Sie müssten noch etwas kaufen, wenn Sie noch bleiben wollen.« Ein Mann mittleren Alters kam auf ihn zu und blieb neben seinem Tisch stehen. 

»Nein danke, ich gehe.« Riccardo nickte dem Mann zu und ihm fiel auf, wie dieser erleichtert ausatmete. Der Mann mit der fettverschmierten Schürze schien damit gerechnet zu haben, dass Riccardo nicht einfach so gehen würde. 

»Einen schönen Abend noch.« Er nickte dem Mitarbeiter zu, stand auf und verließ den Imbiss. Allerdings prägte er sich nochmals die Gesichter ein, an denen er vorbeikam. War unter ihnen ein Agent? Zögernd setzte er seinen Weg fort und ertappte sich immer wieder dabei, dass er Passanten abschätzend musterte. Auch wenn er sich immer wieder zur Ordnung rief und sich klar machte, dass Ballot nicht überall sein konnte, und bestimmt noch nicht wusste, dass er hier war, verfiel er immer wieder in das gleiche Muster. Jeder, der ihm entgegenkam, wurde genau betrachtet und Riccardo versuchte, sich markante Merkmale einzuprägen. Dichter Bart, buschige Augenbrauen, dicke Nasen und Tattoos bei den Männern und bei den Frauen waren es tätowierte Augenbrauen, eine hohe Stirn oder der teilweise bei einigen sehr auffällige dürre Körperbau. 

Als er endlich das vom Taxifahrer am Flughafen erwähnte Motel erreichte, hatte sich der penetrante Kopfschmerz wieder bei ihm eingenistet und er musste nicht nur wegen des Hämmerns in seinem Kopf tief durchatmen. Auch der Anblick des Motels ließ ihn scharf ausatmen. Die Fassade war verdreckt, der Parkplatz glich einer Müllhalde. Die Eingangstür war mit Graffitis versehen und die Beleuchtung zuckte verdächtig. Und hier wollte er seine Nacht verbringen? Er drehte sich um. Gab es vielleicht noch eine andere Möglichkeit? Das Gebäude wirkte wenig einladend auf ihn. Aber wahrscheinlich hatte er kaum andere Möglichkeiten, um die Nacht günstig irgendwo unterzukommen. Er könnte auch unter freiem Himmel auf einer Parkbank schlafen, aber dann lief er sicher Gefahr, von der Polizei aufgegriffen zu werden, die wiederum vielleicht das CIA auf den Plan rief. 

Nochmals durchatmend machte Riccardo sich auf den Weg zum Eingang. Als er die Tür aufzog, schlug ihm der Geruch von Alkohol, Rauch und Schweiß entgegen und ein ungepflegter Mann Mitte fünfzig sah kurz von seiner Zeitung auf. Am liebsten wäre Riccardo wieder gegangen. Aber er hatte keine Lust, möglicherweise noch Stunden nach einer Alternative zu suchen. 

»Haben Sie noch freie Zimmer?« Er blieb vor dem Tresen der Rezeption stehen und wagte es nicht, die dunkle Fläche zu berühren. Wenn die Zimmer ebenso versifft waren, könnte er auch draußen schlafen. 

»Möglich.« Der Mann sah nicht von seiner Zeitung auf. 

»Wenn Sie heute nichts mehr verdienen wollen, müssen Sie schließen.« Riccardo konnte spüren wie sein Puls sich beschleunigte. 

»Fünfzehn Dollar die Nacht«, murrte der Mann über die Zeitung schielend. 

Riccardo grübelte kurz und entschied sich dann dazu sein letztes Geld hier zu lassen, auch wenn er Gefahr lief, dass er irgendwo zwischen Kakerlaken und anderem Getier leben müsste. 

»Dann nehme ich ein Zimmer für vier Nächte.« Riccardo schob dem Mann sechzig Dollar zu und bemühte sich weiterhin, nicht direkt den Tresen zu berühren. Noch nie hatte er sich wirklich vor etwas geekelt, aber dieser Tresen und der Mann dahinter hatten etwas an sich, was dafür sorgte, dass die Mahlzeit in Riccardos Magen nach Auslass verlangte. Wie konnte ein Mensch nur so heruntergekommen aussehen und warum war hier nicht geputzt? Selbst in Afghanistan, wo es kaum Möbel gab und die Böden meistens aus hartem Lehm bestanden, war es in den Hütten sauberer. Er bereute es bereits, dass er sich für diese Unterkunft entschieden hatte. Sein Blick wanderte in sein Portemonnaie. Wie er jedoch mit zwölf Dollar vier Tage über die Runden kommen sollte, war ihm noch nicht klar. Und erst recht wusste er nicht, wie es nach diesen Tagen weitergehen sollte, an denen er nun wenigstens ein Dach über dem Kopf hatte. Aber er würde einen Weg finden. Das war ihm bisher immer gelungen. Und wenn er in Kabul überlebt hatte, würde er es hier auch. Hier konnte es kaum schwieriger sein. Schließlich wurde hier nicht an jeder Ecke auf ihn geschossen und er musste nicht befürchten, einem Sprengsatz zum Opfer zu fallen. Allerhöchstens Ballot könnte zu einer Gefahr werden. 

»Zimmer fünfundzwanzig. Aus der Tür, links, und dann das dritte Zimmer auf der linken Seite.« Der Mann griff sich gierig das Geld und schob Riccardo einen Schlüssel zu. 

»Danke.« Riccardo bemühte sich um einen freundlichen Gesichtsausdruck, als er nach dem Schlüssel griff und spürte, dass der Schlüssel klebrig war. Das hier war definitiv weit ekelhafter als alles, was er je gesehen und erlebt hatte. Mit einem prüfenden Blick auf die Tür, auf die der Mann gedeutet hatte, machte er sich auf den Weg. Damit rechnend, dass der Türgriff sich ebenfalls wie ein angelutschter Lolli anfühlte, drückte er ihn mit dem Ellenbogen hinunter. Sein Weg führte ihn an einer Treppe vorbei, die in die erste Etage des Motels führte. 

Nur wenig später öffnete er die Tür seiner Unterkunft und war zumindest für den ersten Moment positiv überrascht. Das Zimmer wirkte sauber. Er hatte mit einem verdreckten Raum gerechnet. Die Tür hinter sich schließend atmete er aus und ließ seinen Rucksack zu Boden gleiten. Er warf einen kurzen Blick aus dem Fenster auf den Parkplatz. Die Autos, die er sah, waren alle älteren Baujahres. Nein, er schüttelte den Kopf. Ballot war nicht hier. Er musste sich von dieser wahnwitzigen Vorstellung lösen, dass er von irgendwem verfolgt wurde. Der Agent fuhr sicher irgendeinen schwarzen, auf Hochglanz polierten Wagen. Selbst wenn der Wagen nicht schwarz sein sollte, passte Riccardos Ansicht nach keines der Fahrzeuge, die er dort stehen sah, zu einem CIA-Agenten. Und doch ließ er seinen Blick ein weiteres Mal über die Autos und Menschen schweifen. 

Eine Stunde später saß er auf seinem Bett und starrte den Fernseher an. Es gab nur zwei Sender, die er kostenfrei schauen konnte. Auf einem liefen Serien, auf dem anderen Kinderfilme. Riccardo blieb bei den Serien hängen und begann sich irgendwann zu fragen, wie er weitermachen wollte. Er wollte den Soldaten finden, der Miguel umgebracht hatte, nur was sollte er tun, wenn er ihn gefunden hatte? 

Er musste an Geld kommen und dann an eine Waffe, und wenn es nur ein Messer war.

Rache war das, was Riccardo wollte. Niemand brachte einfach so seinen Bruder um. Zumindest war das das, was Ballot ihm eingeredet hatte. Riccardo grübelte über seine wahren Emotionen. Wenn er den Soldaten wirklich töten wollte, benötigte er Geld, wenn er hierbleiben wollte ebenfalls. Nur, wie und wo sollte er hier an einen Job kommen? Er könnte eine Bank ausrauben. Sollte man ihn jedoch dabei erwischen, würde sein restlicher Plan verrauchen. Es musste einen anderen Weg geben. Vielleicht sollte er versuchen, den Soldaten zu finden, um eine Erklärung zu bekommen. Wenn Ballot ihm nun etwas erzählt hatte, was nicht der Wahrheit entsprach, könnte es sein, dass er einen Unschuldigen tötete. Das wollte er jedoch nicht, auch wenn in ihm eine unglaubliche Wut aufkam. Aber warum sollte Ballot ihn anlügen? Bisher war alles die kalte grausame Wahrheit gewesen. Seine Freunde hatten sich als Terroristen entpuppt, genau wie der Agent es gesagt hatte. Warum sollte er ihn dann, was seinen Bruder anging, anlügen? 

Anstatt sich Gedanken über sein weiteres Vorgehen zu machen, sorgten Riccardos hämmernde Kopfschmerzen dafür, dass er sich von dem TV-Programm einlullen ließ. Schon nach kurzer Zeit hatte er keine Ahnung mehr, was er vor wenigen Minuten gesehen hatte. Er starrte einfach die bewegten Bilder an, ohne den Darstellern zuzuhören.