Changes – Ein Sturm zieht auf

»Poison ist ein echtes Biest, wenn es ums Duschen geht.« Bear wendete bei seiner Erzählung ein Steak und Wesley entging nicht, dass er Yvonne genau im Auge hatte, die mit Karen zusammenstand. »In der Villa hat sie die Dusche immer für sich in Anspruch genommen.«

»Ich stelle mir gerade vor, wie sie dir die Tür vor der Nase zuschlägt und du stundenlang in dreckigen Klamotten davor stehst und wartest, weil Karen dir verbietet, dich zu bewegen.« In Wesleys Gedanken entwickelte sich ein sehr lebhaftes Bild von einem Streit zwischen dem großen, durchtrainierten Mann am Grill und Yvonne, die nicht nur kleiner, sondern auch längst nicht so muskulös war. Ob Bear aber geschickt genug war, um ein Streitgespräch gegen Yvonne zu gewinnen, bezweifelte er. Wahrscheinlich hatte sie ihn jedes Mal in Grund und Boden diskutiert. Oder sie hatte es immer wieder geschafft, schneller zu sein als ihr Kollege, was er ihr durchaus zutraute.

»Er stand nicht stundenlang davor, er hat, wie alle anderen auch, ständig den Dreck durch das ganze Haus geschleppt. Und rate mal, wer es wegmachen durfte.« Karen hatte ihr Gespräch belauscht und ging nun auf ihren Lebensgefährten zu. Prüfend musterte sie das Fleisch auf dem Grill und Wesley war gespannt, ob sie etwas zum Zustand der verführerisch riechenden Steaks sagen würde. Er hatte gelernt, sich nicht in die Grillkünste seines Kollegen einzumischen. Das hätte nur zur Folge, dass man den Rest bekam oder Bear absichtlich etwas Verbranntes oder zu Rohes servierte. Wenn ihr Kollege neben seinem Job etwas in Perfektion beherrschte, war es das Grillen. Und da tat es kein Unterschied, ob es für die Männer deftig war oder vegetarisch angehaucht für die Frauen, welche die bunten Spieße in den Himmel lobten, die Bear in diesem Moment wendete.

»Die brauchen noch ein paar Minuten«, erklärte Bear seiner Lebensgefährtin.

»Ich hab doch gar nichts gesagt.« Karen sah zu Bear auf und richtete dann ihre Aufmerksamkeit mit einem Augenzwinkern auf ihn.

Wesley konnte nicht umhin, zu grinsen, ehe er sich suchend nach seiner Freundin umsah. Sie hatten sich bei Yvonne und Syrell im Garten und auf dem Hof versammelt und wollten den Independence Day standesgemäß feiern. Er hatte es kaum glauben können, als die Gründungsmitglieder der I.A.T.F erklärt hatten, dass sie noch nie ein Barbecue zum Independence Day abgehalten hatten. Das war eine Tradition, die selbst in Bagram stattgefunden hatte, wenn es ihre Möglichkeiten und die Sicherheit vor Ort zugelassen hatten. Auch wenn es an diesem einen Tag in einem Jahr etwas unruhiger gewesen war, da die Terroristen ihren Feiertag hatten stören wollen, hatte man dort daran festgehalten, die Unabhängigkeit der Staaten gebührend zu feiern. Vielleicht war es aber auch der Tatsache geschuldet, dass es in den Auslandseinsätzen selten etwas zu feiern gab. Weihnachten in Afghanistan hatte immer seltsam gewirkt. Sie hatten es gefeiert, aber bei vielen war oft Melancholie aufgekommen, da sie ihre Liebsten vermissten. Weihnachten war für viele Menschen nun mal ein Familienfest und es war dementsprechend nicht leicht, wenn der Weihnachtsmann ein verkleideter Kollege war, der in einem Humvee durch die Gegend fuhr oder mit Kampfstiefeln die Geschenke aus der Heimat in den Unterkünften verteilte. Dazu kam dann die Deko, die das Ganze noch fremder wirken ließ. Kunststofftannen mit bunten Lichterketten auf einem staubigen knüppelharten Sandboden, Lichterketten an den Türen der Unterkünfte, die neben den Feiertagen auch symbolisieren könnten: Schaut her, hier ist euer Ziel.

Der Independence Day war immer anders gewesen. Es hatten noch mehr Flaggen als sonst auf dem großen Gelände gehangen und man hatte den Eindruck gehabt, dass die Soldaten an diesem Tag noch stolzer gewesen waren, Amerikaner zu sein als an anderen. Dieser Tag hatte immer die Stärke der Truppe symbolisiert und er hatte sich eingebildet, dass dieser Umstand die Terroristen abgeschreckt hatte. Natürlich hatten einige ihn als Grund für Attentate genutzt, aber ob die Afghanen wirklich wegen des für die Amerikaner so besonderen Tages einen Anschlag verübt hatten, hatte er nie in Erfahrung bringen können.

»Wenn wir noch mehr werden, brauchen wir ein eigenes Strandhaus für solche Partys«, meinte Bear nun und schob ein Stück Fleisch zur Seite.

Wesley nickte bestätigend. Sie waren inzwischen so viele, vor allem wenn sie mit ihren Liebsten unterwegs waren, dass es tatsächlich schnell eng wurde. Aber das tat der guten Laune keinen Abbruch. Er war froh, dass die Stimmung im Team sich in den letzten Wochen gebessert hatte. Aidans Tod und die gescheiterte Mission in Indien hatten das gesamte Team belastet. Aber dieser Tiefpunkt schien überwunden. Er selbst war vor einigen Tagen in einem sehr kurzen Einsatz unterwegs gewesen und hatte diesen ohne jegliche Zwischenfälle gemeinsam mit seinen Kollegen abschließen können. Ihre Zielperson hatte sich genau dort befunden, wo sie hatte sein sollen und es hatte nicht einmal tote Gegner gegeben. Sie waren mitten in der Nacht in ein Haus in der Türkei eingedrungen und hatten einen Mann festgenommen, der zu der führenden Riege der Terroristen um Milazim gehörte. Nun saß dieser Mann hier in den Staaten im Gefängnis und würde hoffentlich das ein oder andere Geheimnis preisgeben. Und selbst wenn nicht, wäre es Wesley egal. Er und seine Kollegen hatten getan, was ihnen aufgetragen worden war, und somit war Clarkson, der mittlerweile wie erwartet als Verteidigungsminister vereidigt worden war, hoffentlich mit ihnen zufrieden.

Er konnte diesen Mann nicht leiden. Diese Einstellung teilte er mit den wenigen, die Clarkson bereits live erlebt hatten. Er war ein Mann mit straffen Schultern, immer akkurat sitzendem Anzug oder perfekt sitzender Uniform. Seine Mimik verriet nie auch nur einen Funken Gefühl und seine Stimme besaß schon bei den Worten Guten Tag so viel Autorität, dass es übertrieben wirkte. Sein Vorgänger Scott Mattis hatte zumindest noch Mimik gezeigt, die darauf hatten schließen lassen, dass er Gefühle besaß. Clarkson kam einem Roboter gleich.

Bears Hinweis auf das fertige Grillgut sorgte innerhalb kürzester Zeit für einen Sturm auf ihn, weswegen sich auch Wesley der Schlange am Grill anschloss, nachdem er sich darüber geärgert hatte, nicht direkt mit einem Teller in der Hand bei seinem Kollegen gestanden zu haben. Denn dann hätte er als Erstes eines der saftigen Steaks erhalten. June, mit der er seit einigen Monaten zusammenlebte, stieß zu ihm, kurz nachdem sie sich aus einer Gruppe Frauen gelöst hatte.

»Es werden zwei Jungen«, erklärte sie leise, während sie mit einem leeren Teller neben ihm stand und einen schnellen Blick über die Schulter riskierte, der auf die hungernde Meute hinter ihnen gerichtet war.

»Oh ha.« Wesley sah zu ihr.

»Ich finde das wundervoll«, erklärte sie und ihr Blick wanderte zu Harper, die ihren wachsenden Bauch nicht mehr verbergen konnte. Er hatte über die letzten Stunden bereits mehrfach beobachtet, wie sie ihre Hände schützend auf ihren Bauch gelegt hatte.

Sein Kollege Nathan und dessen Freundin Harper erwarteten Zwillinge. Nathan hatte in kleiner Runde einmal verlauten lassen, dass er sich mindestens ein Mädchen wünschte, da er glaubte, diese seien leichter zu händeln. Sein Bruder Cayden hatte ein Mädchen adoptiert und ihr Kollege Syrell war ebenfalls Vater eines Mädchens. Und da es in diesen beiden Fällen nur sehr selten Klagen gab, ging Nathan wohl davon aus, dass das Leben mit Mädchen einfacher als mit Jungen war.

Er deutete am Grill angekommen auf ein Steak, welches Bear ihm auf den Teller legte. June hatte sich kurz zuvor einen Spieß mit Gemüse und wenigen Fleischstücken ausgesucht und stand nun an einem Tisch, der vor Beilagen und Salaten nur so überquoll. Am Ende des Tisches lag der dunkle Hund von Yvonne und Syrell und überwachte das Treiben mit einer stoischen Gelassenheit.

»Als ich Kind war, gab es einen Hund in der Nachbarschaft, der hätte bereits den Tisch abgeräumt und würde jetzt bei jedem stehen und betteln. Schoki ist wirklich klasse«, erklärte June am Ende der Salattheke angekommen, als sie sich zu ihm drehte. Dann deutete sie auf Rod und Will, die sich erst jetzt am Grill einfanden. »Wo kommen die denn her?«

»Die haben Feuerwerk gebastelt«, erklärte er seiner Freundin und dirigierte sie zu einem Sitzplatz. Normalerweise war Rod einer der Ersten, wenn es ums Essen ging. Wenn er allerdings Sprengstoff in die Finger bekommen konnte, wurde das Essen wie bei Will zur Nebensache. Die beiden hatten andere Prioritäten als die meisten normalen Menschen.

Bis zum Sonnenuntergang verstrich die Zeit mit durchgehend guter Stimmung. Sie war gelöst wie lange nicht mehr und Wesley war glücklich, June immer wieder bei den anderen Frauen und seinen Kollegen zu sehen. Hier war jeder Willkommen und gerade in der Riege der Frauen wurde jede ohne Vorbehalte aufgenommen. Die laute Musik übertönte erste Feuerwerke bei Anbruch der Dämmerung, und als Will und Rod schließlich ankündigten, das selbst hergestellte zu zünden, war die Spannung riesig. Sie versammelten sich vor dem Haus und stießen auf den gelungenen Abend an, als die Raketen den dunklen Himmel erhellten. June stand neben ihm und lehnte sich an ihn, während ihr Blick auf den Himmel gerichtet war, der rot, blau und weiß beleuchtet wurde. Wesley bemerkte, dass die Nachbarn von Yvonne und Syrell ebenfalls in ihren Gärten standen und der Show, die Rod und Will ausgetüftelt hatten, zusahen. Nach neun Minuten folgte ein gewaltiges farbenfrohes Finale, bis schließlich einige Sekunden Stille einkehrte, ehe die Künstler ihren wohlverdienten Applaus bekamen.

»Wow, das war … ohne Worte.« June sah ihn mit großen Augen an. »Und die beiden sorgen sonst dafür, dass nichts explodiert?«

»Na ja, die können auch die Wohnungstür so aufmachen, dass du nicht zwingend eine neue brauchst, wenn du deinen Schlüssel verlegt hast.« Er gab June einen Kuss und spürte plötzlich ein leichtes Beben unter den Füßen. Auch June schien es gespürt zu haben, denn sie löste sich von ihm und sah sich um.

»Was war das?« Auf ihrer Stirn zeichneten sich Sorgenfalten ab.

Noch während sie die Frage stellte, ertönte ein dunkles Grollen, durch das sich seine Nackenhaare aufstellten.

»Scheiße, was war das?« Selbst Rods entgeisterte Frage machte deutlich, dass dieses Beben außergewöhnlich war.

»Gleich kommen die Aliens.«

Wesley schmunzelte über Nuyens Erklärung für das Geräusch, allerdings war nur Sekunden später das Heulen von Sirenen zu hören.

»Das waren wohl keine Fachmänner.« Rods Einwurf hatte nichts mehr von dem vorher noch amüsierten Unterton. Nicht nur Wesley versuchte in diesem Moment, in der Ferne zu erkennen, was gerade passiert war. Es dauerte allerdings einige Augenblicke, ehe sie in Richtung der San Diego Bay eine Rauchwolke erahnen konnten. Zudem färbte sich diese durch die Lichter der sich nähernden Feuerwehren und sicher auch anderer Rettungskräfte rot-blau.

An der langgezogenen Bay versammelten sich zum Independence Day jedes Jahr tausende Menschen, um zu feiern und am Abend das vom Wasser aus gezündete Feuerwerk zu bewundern. Viele Bootsbesitzer nutzten ebenfalls die Chance auf einen guten Ausblick, waren jedoch angehalten, der Plattform, auf der sich die Feuerwerksraketen befanden, nicht zu nahe zu kommen. Soldaten, die in Coronado stationiert waren, kamen so ebenfalls in den Genuss eines Feuerwerks, auch wenn sie die Base oder das Schiff, auf dem sie sich befanden, nicht verlassen durften.

Was auch immer dort schiefgegangen war, sorgte in diesen Minuten für einen abrupten Abbruch der guten Stimmung. Die ersten seiner Kollegen machten sich auf den Weg in das Haus, wo sie sicher den Fernseher einschalten würden. Es würde nicht lange dauern, ehe es Berichte geben würde. Er legte seinen Arm um June und wollte sie ebenfalls ins Gebäude dirigieren, als er ein Gespräch auf dem Nachbargrundstück aufschnappte, in dem es um einen Unfall in New York ging. Anstatt zum Haus zu gehen, trat er zu den Nachbarn an den Zaun, die sich um eine Frau gescharrt hatten.

»Entschuldigung, ich möchte nicht neugierig sein, aber Sie sagten gerade etwas von New York?« Wesley stand direkt am Zaun und hielt immer noch Junes Hand, als er die Gruppe ansprach, die wie sie draußen das Feuerwerk angeschaut hatten.

»Ja, es gab auf dem Times Square eine Explosion.« Die brünette Frau, die das Handy hielt, wandte sich ihm zu. »Da ist das absolute Chaos ausgebrochen. Schauen Sie.« Nun hielt sie ihm das Handy hin und er konnte auf dem kleinen Display Bilder sehen, die vom dort herrschenden Chaos zeugten. Menschen liefen planlos umher, Polizei und Krankenwagen waren vor Ort. Er konnte im Banner, welches unter dem Bild entlang lief, lesen, dass es wohl Tote gegeben hatte und dass die Ursache der Explosion noch unbekannt war.

»Danke.« Wesley nickte der Frau zu, die sich wieder zu ihren Freunden drehte. »Lass uns reingehen.« Ein ungutes Gefühl griff nach ihm, als er in Richtung Bay sah. Mehr als die aufblinkenden Signallampen der Rettungskräfte und die sich langsam auflösende Rauchwolke war jedoch nicht zu erkennen. Es lagen einige Straßenzüge zwischen dem Haus und dem Strand. Am Tage hätte man wohl nur die Rauchwolke gesehen und die immer noch kreischenden Sirenen gehört. Das Lichtspiel, welches er den Fahrzeugen der Rettungskräfte zuordnete, hielt den auf ihm liegenden Druck zusätzlich aufrecht.

Als sie das Haus betraten, scharrten sich alle bereits um den Fernseher. Die herrschende Stille machte deutlich, dass es sich scheinbar nicht um einen Unfall gehandelt hatte. In den Nachrichten wurde von der Explosion am Times Square berichtet und von einer in einem Casino in Las Vegas. Es gab bisher mehr als ein Dutzend Tote und unzählige Verwundete und Vermisste. Nur wenige Sekunden später verkündete die Sprecherin sichtlich schockiert, dass es eine weitere Detonation an der San Diego Bay gegeben hatte.

»Das war kein Zufall«, erklärte nun Rafael, der mit seinem Handy in der Hand aus dem Haus verschwand. Dass June sich an ihn klammerte, registrierte Wesley erst, als sie leise fragte: »Wer tut so etwas?«

»Arschlöcher«, war seine geflüsterte Antwort.

Noch hatte die Sprecherin nicht erwähnt, dass es sich um Anschläge handelte, aber in seinen Augen gab es keine andere Möglichkeit. Immer wieder wurden Bilder eingeblendet, die in diesen Minuten zum großen Teil von Zivilisten und nicht von Reportern stammten. Durch die sozialen Medien gelangten diese ersten Aufnahmen ungefiltert nach außen. Panische Gesichter, nervöse Polizisten und hektisch wirkende Rettungssanitäter waren auf ihnen zu sehen und immer war das Weinen von Menschen zu hören. Oft waren die Worte der Filmenden kaum zu verstehen. Viele wollten mitteilen, was geschehen war, andere hatten nur die Absicht, ihren Familien zu sagen, dass ihnen nichts passiert war.

2.

Die Bilder in den Nachrichten rissen nicht ab und die drückende Stille wurde nur ab und an durch kurze Gespräche gebrochen. Dass diese Feier so enden würde, hatte sich niemand träumen lassen. Geschockt verfolgte Trisha die Meldungen, während sie bei Harry stand, der ebenso fassungslos war, wie sie alle. Es war doch der Tag, an dem Amerika seine Freiheit feierte. Und nun kam irgendjemand und sorgte dafür, dass dieser Tag so schrecklich endete.

Seit sie mit dem Elitesoldaten neben sich liiert war, genoss sie die großen Treffen mit allen sehr. Dadurch, dass sie selbst für die I.A.T.F arbeitete, fand sie nur selten Zeit, sich mit den anderen Frauen zu treffen. Umso glücklicher war sie gewesen, als sich alle dazu entschieden hatten, den Independence Day gemeinsam zu feiern.

Was sie nun aber in den Nachrichten sah, war so grauenvoll, dass sie noch keine Worte hatte. Die Zahl der Toten stieg mit jedem neuen Bericht weiter. Die Bilder wechselten zwischen den drei Schauplätzen hin und her und überall sah sie die gleichen schrecklichen Dinge. Es spielten sich Szenen ab, die sie nur aus Einsätzen kannte. Szenen, die immer weit weg von der Heimat zu sein schienen. Verletzte, geschockte Menschen. Krankenwagen, Polizei und Feuerwehr, die versuchten, Ordnung in die aufgebrachte Menschenmasse zu bekommen. Immer noch war der Grund der Explosionen, die sich inmitten der Feiernden zugetragen hatten, unbekannt. Trisha war sich ziemlich sicher, dass sie nicht genannt werden sollte. Es war eine knappe Stunde vergangen, seit sie das dumpfe Beben an den Füßen gespürt hatte, welches dem gewaltigen Krater am Strand zuzuordnen war, der nun immer wieder gezeigt wurde. Ihr Handy vibrierte und sie bemerkte, dass es nicht nur ihres war, das Aufmerksamkeit verlangte. Gefühlt jeder sah auf das Display eines Mobiltelefons. Auch Harry, der dann ihre Hand nahm. Sie wurde in die Base bestellt, von einer Nummer, die keinem ihrer Kollegen gehörte. Es war eine Nummer, die nur selten auftauchte. Alle, die aktuell stationiert waren, wurden hiermit an ihre Posten beordert. Sie sah zu Harry, dessen Mimik versteinert wirkte, als er seinen Blick kurz umherschweifen ließ. Diese Nachricht war das, was sie befürchtet hatten, von der sie aber doch gehofft hatten, sie nicht zu erhalten. Ihr fiel auf, dass Rafael nicht wieder zurückgekommen war, seit er mit dem Handy in der Hand das Haus verlassen hatte und dass Liv, die etwas abseits stand, noch angespannter wirkte, als alle anderen.

»Dann lass uns.« Harrys wenige Worte, der keine Verabschiedung an die folgte, die hier zurückbleiben würden, benötigte keinerlei weitere Reaktion.

Ein Anschlag am Unabhängigkeitstag war das wohl Hinterhältigste, was man sich hatte einfallen lassen können. Beim Verlassen des Hauses sah sie, wie Yvonne ihre Tochter an Karen weiterreichte, also würde das Team wirklich komplett zur Base fahren. Wenn sie Glück hatten, würde die Alarmbereitschaft in den nächsten Tagen einfach aufgelöst werden und wenn sie Pech hatten, würden weitere Anschläge folgen. Ob sie Jagd auf die Attentäter machen würden, wusste sie nicht. Aber sie bezweifelte es. Das war die Aufgabe der Polizei, zudem würde das FBI und die CIA sich ebenfalls einbinden. Erst im Auto wandte sie sich Harry zu, der mit versteinerter Miene auf den Verkehr konzentriert war. Trisha sprach ihn nicht an, obwohl sie seine Einschätzung gerne gehört hätte. Aber die Stimmung verbot es ihr. Es war fast klar, dass diese Anschläge von Milazim inszeniert worden waren. Vielleicht war es auch nur ein Mittelsmann seiner Vereinigung gewesen. Aber der Umstand, dass es zeitgleich an drei Orten zu Detonationen gekommen war, ließ auf gute Absprachen schließen. Auf dem Weg kamen ihnen dutzende Krankenwagen entgegen oder sie wurden von ihnen überholt. Auch Polizei und Feuerwehr waren unterwegs. Die gesamte Stadt war in Alarmbereitschaft.

Vor der Base staute sich der Verkehr. Jedes Auto wurde genauestens in Augenschein genommen. Sean, der zwei Wagen vor ihnen war, stieg sogar kurz aus, verschwand mit den Soldaten in ihrem Häuschen und tauchte erst Minuten später wieder auf. Sie schluckte, als sie kurz darauf ihren Ausweis an den wachhabenden Offizier reichte, der auch Harrys entgegennahm und kontrollierte. Währenddessen wurde ihr Wagen mit Hilfe von Spiegeln von weiteren zwei Männern nach Sprengstoff abgesucht.

»Das ist ernst«, erklärte Harry hörbar angespannt, als er das Signal zum Weiterfahren bekam.

»Vielleicht hätten wir …« Sie wollte das Radio einschalten.

»Nein, lass es aus. Das ändert auch nichts mehr. Alles, was wir wissen müssen, werden wir gleich erfahren.« Harry schüttelte den Kopf. »Die wiederholen eh nur, was wir schon gesehen haben. Oder glaubst du, dass es bereits was Neues gibt?« Er klang beinahe abweisend.

Wenig später fanden sie direkt neben Seans Stingray einen Parkplatz, allerdings war von Sean nichts mehr zu sehen, obwohl er nur kurz vor ihnen angekommen war. Auf dem Parkplatz herrschte Hochbetrieb, die aktuell noch leeren Flächen würden sich sicher sehr bald füllen. Als Trisha aus dem Wagen gestiegen war und auf das Gebäude zuging, in dem sie sich gleich treffen wollten, griff Harry unvermittelt nach ihrer Hand. Das war eine Geste, die er meist nur nach Feierabend machte. Während der Arbeitszeit waren sie Kollegen und kein Paar. Jeder von ihnen musste dann professionell seinen Job machen. Trisha war froh, dass ihre Aufgabe wesentlich ungefährlicher war, als Harrys. Sie musste nur an einem Schreibtisch sitzen, Gespräche führen und Informationen sammeln, um diese dann weiterzugeben. In Einsätzen musste sie den Funk überwachen. Harry hingegen riskierte jedes Mal sein Leben vor Ort. Wenn sie direkt mit ihm zusammenarbeiten müsste, würde sie sich einfach nicht richtig konzentrieren können. Sie würde sich viel zu sehr sorgen.

Harry zog die Tür auf und der Lärmpegel von vielen Gesprächen in Küche und Flur empfing sie.

»In fünf Minuten im großen Konferenzzimmer«, erklärte Ryan, an ihnen vorbeieilend und in seinem Büro, das er mit Sean gemeinsam nutzte, verschwindend.

Trisha warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war kurz vor Mitternacht. Sie verspürte jedoch keine Müdigkeit, wie normalerweise um diese Uhrzeit. Der Geruch von Kaffee lag in der Luft, aber sie entdeckte niemanden, der welchen trank. Die Eingangstür öffnete sich und Rafael ging großen Schrittes an ihnen vorbei, ihm folgte nur eine Sekunde später Liv, die wie er mit starrer Miene an ihnen vorbeieilte.

»Komm.« Harry drückte ihre Hand und löste sie so von ihren Beobachtungen. Sie folgte ihm zum Konferenzzimmer, welches nur von einer Lampe am Whiteboard beleuchtet wurde. In ihr kam die Befürchtung auf, dass sie nicht nur ein kurzes Briefing bekommen würden. Vielleicht würden sie die nächsten Tage hier auf der Base verbringen, ohne dass sie nach Hause konnten. Das war ihr in der gesamten Zeit, seit sie hier arbeitete, noch nicht passiert. Sie folgte Harry und ließ sich neben ihm nieder. Das Konferenzzimmer war von Gesprächen ihrer Kollegen erfüllt. Überall gab es Spekulationen über einen möglichen Einsatz und darüber, wie dieser dann aussehen würde.

Mit dem Erscheinen von Ryan und Sean wurde es ruhiger. Als schließlich Rafael mit einer Tasse Kaffee in der Hand zu ihnen stieß und den Platz am Whiteboard einnahm, kehrte gespannte Stille ein.

Die folgenden Minuten erfuhren sie, was sie schon wussten. An der Bay in San Diego inmitten einer feiernden Menschenmasse, in New York am Times Square mitten im Konfettiregen und in Las Vegas in einem Casino hatte es verheerende Explosionen gegeben. FBI und CIA gingen bereits jetzt von Selbstmordattentätern aus, da es erste Hinweise darauf gab. Es gab auch bereits Filmmaterial, das von einem Opfer aus dem Casino stammte. Dieses Video wurde ihnen auf der Wand neben dem Whiteboard gezeigt. Der Filmende hatte seine Kamera auf eine Gläserpyramide gerichtet, die befüllt wurde, als das Kreischen einiger Frauen dazu führte, dass die Kamera gedreht wurde. Stimmen riefen, man solle flüchten, aber noch in diesem Moment gab es eine Explosion, die auch den Filmenden von den Beinen riss. Minutenlang war dann nur ein Teil des Bodens zu sehen und Menschen, die am Boden lagen. Von anderen konnte man die Füße sehen, während sie versuchten zu fliehen, dann wurde dem Filmenden von einem jungen Mann aufgeholfen, der selbst verletzt war. An dieser Stelle endete das Video. Was genau passiert war, konnte man nicht erkennen, aber Rafael erklärte, dass man gerade die Liste möglicher Attentäter durchgehen würde, um zu sehen, welcher der Schläfer überwacht wurde, wer nicht und wo sich die Personen aufhielten. Man befürchtete weitere Anschläge. Trisha war bewusst, dass nur wenige der Gefährder durchgehend beobachtet wurden und man nur von einem kleinen Teil wusste, wo sie sich aufhielten. Von vielen gab es im Prinzip nur Namen und einen Vermerk, dass sie in Verbindung mit Extremisten standen. Dann war nicht einmal sicher, ob sie gefährlich waren oder nicht. Schließlich könnten es auch unbescholtene Bürger sein, die durch einen in Zufall Kontakt mit Terroristen gekommen waren und ansonsten nichts mit dem radikalen Gedankengut dieser Personen zu schaffen hatten.

»Wir bleiben auf Abruf hier«, erklärte Sean mit Blick auf Ryan. »Wir rechnen damit, dass wir ganz bald irgendein Arschloch einfangen müssen. Richtet euch hier ein.« Sean sah zu Yvonne. »Du kannst natürlich nach Hause fahren. Wenn wir dich brauchen, melden wir uns. Aber deinen Mann musst du uns ausborgen.«

Yvonne nickte als Bestätigung knapp. Ihnen allen war klar, dass diese Anschläge nicht ungesühnt bleiben konnten. Nach wenigen Minuten wurde das kurze Briefing aufgelöst. Sie hatten kaum neue Informationen erhalten. Wahrscheinlich würde sich das erst in einigen Stunden ändern, wenn die Behörden mehr Infos hatten und diese auch an sie weitergeben durften. Bis dahin mussten sie sich mit dem begnügen, was auch die Bevölkerung über die Nachrichtensender erfuhr.

»Lass uns oben schauen, wie die Zimmer aussehen.« Harry griff nach ihrer Hand.

»Staubig«, warf Lexi ein.

»Wir hätten sie mal fertig machen sollen«, erklärte nun Liv, die mit Rafael in das Büro gegenüber des Konferenzzimmers verschwand. Es gab immer noch einige Zimmer und die oberste Etage, die nach wie vor mit den Hotelmöbeln bestückt war. Den Umbau hatte die I.A.T.F in die Wege geleitet, allerdings nur für die Menge an Bewohnern, die tatsächlich immer hier waren. Für alle anderen gab es zwar Betten, aber diese waren wahrscheinlich ebenso alt wie das Gebäude. Und der Staub in der obersten Etage lag bereits seit einigen Jahren dort.

Sie folgte Harry, der schweigend die Treppen emporstieg. Im obersten Stock betätigte er einen Lichtschalter und die alten Deckenlampen tauchten den Flur in ein schummriges Licht. Eine der Glühbirnen erlosch schon Sekunden später wieder. Langsam schritt er, ihre Hand haltend, den Flur entlang und machte erst am letzten Zimmer auf der linken Seite halt.

»Warum hier hinten?« Sie verstand nicht, wieso er nicht einen der anderen Räume gewählt hatte. Trisha ging davon aus, dass die Zimmer hier oben so gut wie nie genutzt wurden. Ab und an übernachtete jemand hier, aber sie war sich sicher, dass es immer dasselbe Zimmer war, welches dann belegt war.

»Damit derjenige, der uns Bescheid gibt, möglichst weit laufen muss.« Sprechend hatte er die Tür geöffnet und atmete hörbar aus, als er einen ersten Blick in den Raum warf, ehe er eintrat.

Trisha wurde von einem Geruch empfangen, der sich aus einer Mischung aus Alter, Mottenkugeln, Staub und einer gewissen Luftfeuchtigkeit zusammensetzte. Sie wechselte einen skeptischen Blick mit ihrem Lebensgefährten, der mit den Schultern zuckte.

»Fenster auf, die alte Bettwäsche raus und dann einen Kaffee«, entschied sie laut denkend und schluckte die Bemerkung, dass sie die anderen Zimmer noch in Augenschein nehmen könnten, hinunter. Wahrscheinlich sahen die Räume alle ähnlich aus. Sie zog die Tür des Bades auf. »Ach du …« Trisha drehte sich zu Harry um, der zu ihr trat. Allerdings fiel seine Reaktion anders aus, als ihre. Lachend zog er sie an sich.

»Rosa ist doch auch ganz hübsch und du kannst dir die Hände waschen, während du auf dem Klo sitzt.« Er löste sich von ihr und Trisha fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Hellblaue Fliesen zierten die Wand, das Waschbecken und die Toilette hingegen waren aus rosafarbener Keramik. Die Spülung war ein großer Kasten mit einer Kette und die rosa Duschwanne wurde von einem zerfledderten Vorhang vom Rest des winzigen Zimmers getrennt. Nun war klar, warum man unten aus je zwei Räumen einen, plus ein zusätzliches Bad gemacht hatte.

»Nach dem Kaffee ein Bier oder doch lieber gleich Bier, in der Hoffnung, dass wir dann schon wieder nach Hause können?« Harry sah sie mit einem Blick an, der Bände sprach. Er wollte nach Möglichkeit genauso wenig in diesem Raum übernachten wie seine Lebensgefährtin. Auch das Bad zu benutzen hatte bei beiden nicht oberste Priorität, und doch trieb die Neugier Trisha an den Wasserhahn des Waschbeckens. Zaghaft drehte sie daran. Ein Gluckern verriet das Kommen des Wassers, ehe eine braune Brühe in den Abfluss floss.

»Oder so viel Bier, dass es uns egal ist«, murmelte sie und stellte das Wasser wieder ab, als es klar war. Damit, dass sie eine solche Brühe in der Wasserleitung vorfinden würde, hatte sie nicht gerechnet. Ihr schob sich die Vorstellung in den Kopf, dass der Kaffee, den sie hier sonst mit Genuss trank, aus einem ähnlichen Wasser war. Bei dem Gedanken lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Dass er aus der Luft gegriffen war, musste sie sich mit Kraft einreden, als sie an das Fenster trat. In dem Augenblick, in dem sie den Fensterflügel aufzog, rieselte Staub von der oberen Kante auf sie hinab. »Nee, so geht das nicht.« Angewidert schüttelte sie sich, ehe sie sich umdrehte und den Raum verließ. Trisha wollte hier nicht schlafen, aber sie würde nicht darum herumkommen.

»Wo willst du hin?« Harrys Rufen erreichte sie auf dem Flur.

»Eimer und Lappen holen, irgendwas Sinnvolles müssen wir ja mit der Zeit anfangen. Und wenn die Bude sauber ist, kannst du Bier holen.«

»Wir?« Harry klang nicht begeistert von ihrem plötzlichen Anfall von Putzwut.

»Ja, wir. Es sei denn, du willst woanders schlafen.« Mit einem Grinsen im Gesicht erreichte sie den außer Betrieb befindlichen Fahrstuhl.

Trisha hatte sich in den Kopf gesetzt, den Raum so weit zu reinigen, dass sie mit ruhigem Gewissen dort schlafen konnte. Normalerweise sollte es ihr nichts ausmachen, auch im dicksten Dreck zu nächtigen. Schließlich war sie Soldatin. Aber der Gedanke daran, dass sie in den Staaten war und ihre Kollegen nur wenige Meter entfernt saubere Zimmer hatten, nagte an ihr. Sie würde die kommenden Stunden damit verbringen, das alte Hotelzimmer von seinem altertümlichen Mief zu befreien. Selbst wenn das hieß, dass sie erst in den Morgenstunden Schlaf fand oder dieser ganz ausfiel.