Team IATF 7

Codename Irbis – Eine Ära geht zu Ende Leseprobe

1.

Jordan bewunderte Caydens Tattoo, als er sich in die kalten Wellen der San Diego Bay warf. Neben ihm schwamm sein jüngerer Bruder, der das gleiche Tattoo zwischen den Schulterblättern trug. Schon bald würde die Sonne untergehen und Cayden würde seinen Brüdern, Freunden und Teammitgliedern von seinem Entschluss erzählen. Sie wusste nicht, ob es einen besonderen Grund dafür gab, dass er diesen Freitagabend im Juni gewählt hatte, um allen zu sagen, dass er in wenigen Wochen kein SEAL mehr sein würde. 

Sie warf einen Blick zu Seite und sah Harper an, die ebenfalls auf das Meer hinaussah. Jordan machte sich seit einiger Zeit Sorgen um Nathans Freundin. Sie sah müde und abgekämpft aus. Auch war sie davon überzeugt, dass Harper noch mehr abgenommen hatte. Normalerweise war es nicht ihre Aufgabe, sich um so etwas zu kümmern, aber sie fühlte sich wohl in dieser kleinen Familie, die keine war. Das Team der IATF war nicht nur eine Antiterroreinheit. Sie waren eine Art Familie, die alle, die neu dazukamen, mit offenen Armen aufnahmen. 

Das war sicher der Grund, warum ihr Harpers Zustand aufgefallen war und warum sie sich Sorgen machte. Die junge Frau schien wenig oder gar nicht zu essen und auch an Schlaf mangelte es ihr unübersehbar. Harper mied die Nähe aller, die sich in der Villa aufhielten, und kam nur zu ihnen, wenn Nathan dabei war. Irgendetwas stimmte nicht, das sagte ihr der Instinkt als Ärztin. Jetzt stand sie nur wenige Meter von ihr entfernt und doch machte sie keine Anstalten, dass sie zu ihr kommen würde. 

Jordans Aufmerksamkeit wanderte wieder auf das Meer, wo sie die Männer weit draußen im Meer sehen konnte. Sie rangelten wie kleine Kinder.

»Einige werden nie erwachsen«, hörte sie Harper sagen. 

»Es ist nie falsch, sich das innere Kind zu bewahren«, erwiderte Jordan und machte einige Schritte auf Harper zu, um sie besser verstehen zu können, falls sie noch etwas sagen würde. Minutenlang hörte sie nur das Rauschen der Wellen, ehe Harper sich räusperte. 

»Jordan, ich weiß nicht, ob ich das wirklich kann«, brachte sie leise hervor.

»Ob du was kannst? Hast du noch Probleme wegen des Entzugs? Da kann ich dir gerne helfen.« Jordan trat noch näher an Harper heran. Vielleicht war es wirklich noch das Heroin, welches man ihr in der Gefangenschaft gespritzt hatte. Oder es waren die Erfahrungen, die sie gemacht hatte. Jordan begann bereits zu überlegen, welche Kollegen des Balboa Naval Hospital sie um Hilfe bitten könnte, als Harper ihr antwortete. 

»Ich weiß nicht, ob ich eine Beziehung mit ihm führen kann. Wir sind beide gebrannte Kinder. Ich wache jede Nacht vier- oder fünfmal auf, bin durchgeschwitzt und weiß nicht, wo ich bin. Wenn Nath mich dann berührt, würde ich am liebsten flüchten.« Sie schluckte und starrte auf das Meer. »Ich möchte am liebsten alleine sein, mag es ihm aber nicht sagen. Ich genieße seine Nähe, aber ich habe auch Angst vor ihm. Ich habe erlebt, wie er sein kann, wenn er neben sich steht, vielleicht würde er …« Sie stockte und Jordan konnte sehen, wie ihr Tränen in die Augen stiegen.

»Nein, Harper. Ich weiß zwar nicht, ob er immer noch Flashbacks hat, aber er würde dir nie etwas antun. Und dass du Angst vor ihm hast, hat absolut gar nichts mit ihm zu tun.« Jordan stand nun direkt neben der Frau mit den langen, blonden Haaren, der Tränen über die Wangen liefen. »Ich will dir nicht zu nahe treten, aber vielleicht solltest du dir Hilfe holen.« 

Harper hatte zwar einige Sitzungen bei einem Psychologen in Anspruch genommen, aber dann die Therapie von sich aus einfach abgebrochen.

»Könntest du nicht…? Dich kenne ich«, fragend sah Harper sie an. 

»Nein, kann ich leider nicht. Ich kann dir helfen, wenn du ein Bein verloren hast, wenn du körperliche Wunden hast, aber eine Seele kann ich nicht heilen, Harper. Dafür gibt es andere Kollegen und denen kannst du vertrauen. Ich bin in dem Bereich nicht ausgebildet. Soll ich dir vielleicht mal Adressen geben? Es gibt auch ein paar sehr nette Kolleginnen.« Ihr fiel ein, dass Harpers Termine bei einem Mann stattgefunden hatten. Vielleicht fühlte sie sich bei einer Frau wohler und konnte sich dort öffnen.  

Jordan schluckte. Sie wusste, dass Harper nun dringend die Notbremse ziehen musste, sonst würde sie an dem zerbrechen, was ihr ein paar kranke Männer angetan hatten. Ihr fiel auf, dass Harpers Blick auf dem Meer lag, wo Cayden und Nathan sich ein Wettschwimmen lieferten. Nervös strich sich die Sechsundzwanzigjährige die Tränen aus den Augen. Wahrscheinlich hatte Nathan noch nicht wirklich bemerkt, wie schlecht es ihr ging. 

»Ich such dir ein paar Nummern raus und spreche mit ein paar Kollegen. Im Gegenzug sprichst du mit Nathan über das, was dir Angst macht. Er wird es verstehen.« Sie sprach einfach weiter, ohne auf eine Antwort zu warten. Jordan stellte Harper vor vollendete Tatsachen. Es war nur ein knappes Nicken, das sie als Bestätigung bekam. 

Der nächste Blick zum Meer machte ihr klar, dass ihr kurzes Gespräch unter Frauen beendet war. Die Männer verließen, nur in Shorts bekleidet, das Wasser und dass Cayden auf sie zugerannt kam, weckte den Fluchinstinkt in ihr. 

»Nein, Cayden Harrison, wag es ja nicht!« Schreiend rannte sie los und hörte noch, wie Harper zu lachen begann. Jordan wusste, dass sie keine Chance hatte. Wenn Cayden sie wirklich fangen wollte, dann würde er das. Und dann würde er sie in ihrem weißen Strandkleid in das Meer werfen. Es wäre nicht das erste Mal, dass er das mit ihr machte. Samira fand dieses Spiel lustig und kreischte jedes Mal vor Vergnügen so laut, dass man sie noch in der Villa hören konnte. Jordan hingegen fand es weniger lustig, mit Kleidung ins Meer geworfen zu werden. Vor allem war das Wasser nicht unbedingt tropisch warm und sie hatte definitiv keine SEAL-Gene.

»Hiergeblieben, meine Maus.« Schon schlangen sich zwei kräftige Arme um ihren Körper und stoppten sie. »Hierbleiben.« Jetzt war es nur ein gehauchtes Wort, das an ihrem Hals entlang strich, als er sie an sich zog. Schnell sickerte das Wasser seines nassen Körpers durch den dünnen Stoff ihres Kleides. 

»Mein Kleid«, jammerte sie, immer noch hoffend, dass er sie nicht ins Meer werfen würde.

»Das trocknet wieder.« Langsam drehte Cayden sie zu sich um und Jordan konnte in seine braunen Augen schauen. 

»Ja, aber dann hab ich nichts mehr anzuziehen hier und müsste nackt zum Grillen.« Vorsichtig strich sie ihm über seinen Dreitagebart.  

»Tja, das könnte ich dann wohl nicht verantworten.« Ein freches Grinsen huschte über sein Gesicht. »Aber ich bin mir sicher, dass Yvonne oder Karen dir etwas borgen würden.« Sein Grinsen wurde breiter und sie befürchtete, dass ihre Ausrede und die Streicheleinheiten nicht helfen würden. 

»Cayden, nein, bitte nicht.« Sie versuchte, sich von ihm zu lösen. Beim Blick über seine Schulter Richtung Meer sah sie, wie Harper Nathan von sich schob. Es war keine liebevolle Geste, es war ein ruppiges Zurückstoßen. Sie ließ sich wieder von Cayden in eine feste Umarmung ziehen, da sie von dem was sie gesehen hatte, abgelenkt war.

»Was ist?« Cayden bemerkte, dass er nicht mehr ihre ungeteilte Aufmerksamkeit hatte. 

»Weiß nicht.« Ihr war nicht mehr zum Scherzen zumute, als sie im Augenwinkel sah wie Nathan versuchte, Harper erneut zu umarmen und sie ihn wieder abwies. 

Cayden entließ sie aus seiner Umarmung und drehte sich um, damit er sehen konnte, was sie so sehr interessierte.

»Was ist bei den beiden los?« Verwundert sah er sie an. 

»Keine Ahnung, also zumindest nicht so richtig. Harper hat vorhin zu mir gesagt, dass sie sich nicht mehr sicher ist, was ihre Beziehung angeht. Ist dir schon aufgefallen, wie schlecht sie aussieht? Sie schläft kaum, weil sie von Albträumen geplagt wird, isst kaum und kann Nathans Nähe nur schwer zulassen.« Jordan seufzte. Sie zweifelte daran, dass es eine gute Idee war, Cayden von dem vertraulichen Gespräch zu erzählen. Aber es betraf auch seinen Bruder. 

»Hm.« Seine Miene verfinsterte sich. »Es ist mir aufgefallen.« Schweigend beobachteten sie die beiden, konnten aber nicht verstehen, was zwischen dem Paar gesprochen wurde. Jordan atmete erleichtert auf, als Nathan Harper nach einigen Minuten in seine Arme zog und sie ihren Widerstand scheinbar aufgeben hatte. 

»Ich glaube, die beiden haben noch einen langen, harten Weg vor sich.« Cayden legte seinen Arm um Jordans Hüfte und zog sie wieder an sich. Jordan nickte und hoffte inständig, dass die junge Beziehung nicht an dem zerbrechen würde, was Harper erlebt hatte. 

»Lass uns reingehen und schauen, was Sami macht.« Caydens Stimme riss sie aus ihren Gedanken und sie schmiegte sich dicht an ihn. Sie war froh, ihn gefunden zu haben. Dass er nun eine Entscheidung gegen seinen Job getroffen hatte, machte sie auf einer Seite glücklich, auf der anderen Seite wusste sie, dass er das aufgab, was er liebte, um bei ihr und Samira zu sein. Auch wenn sie nun sicher sein konnte, dass sie nie eine Nachricht erhalten würde, dass ihm bei einem Einsatz etwas zugestoßen war.

Seine bisherigen Erfahrungen waren es, die ihn seinen Abschied aus dem Team nehmen ließen. Er wollte nicht, dass sie die schmerzhaften Erfahrungen machen musste, die er bereits erlebt hatte, wenn er Freunde verloren hatte, und er wollte ein guter Vaterersatz für Samira sein. Samira hatte nicht nur Jordans Leben in den letzten Monaten bereichert. Das ganze Team liebte das Mädchen abgöttisch, das nun offiziell in den USA leben durfte. 

»Hey? Träumst du?« Sanft strich er über ihre Hüfte und holte sie so aus ihren Überlegungen. 

»Ein wenig. Bist du dir wirklich sicher, dass du aufhören willst? Also … ich meine, du sollst das nicht nur für uns tun.« Ein letztes Mal wollte sie ihm klarmachen, dass sie mit seinem Job klarkam. Dass sie sich des Risikos bewusst war und dass sie auch für ihn da sein würde, falls ihm etwas zustoßen sollte. Er sollte nicht ihretwegen seinen Traum aufgeben. 

»Jordan, wie oft haben wir das in den letzten Wochen besprochen? Hundert Mal? Ich möchte das so. Ich bin mir ganz sicher und du kannst mich nicht davon abbringen. Ich will nicht, dass du, Sami, meine Brüder und mein Team mich beerdigen müsst. Ich will weder dir, noch jemand anderem zur Last fallen, wenn mir etwas zustößt. Noch habe ich keine Probleme, aber das kann sich mit jedem Einsatz ändern, das weißt du. Ich möchte nicht, dass sich das ändert. Ich möchte mein Leben so behalten, wie es jetzt ist.« Seine Stimme wurde leiser. »Jordan, ich habe Angst, dass ich dir zur Last fallen könnte. Oder dass es mir so geht wie vielen anderen, die keinen Ausweg mehr sehen und nur den Tod als Lösung empfinden. Ich habe meinen Teil für das Land getan, nun sind andere dran. Die Seele eines Menschen ist nur begrenzt belastbar und ich glaube, meine ist an ihrer Grenze, was Krieg und Terror angeht.« 

So hatte er es noch nie formuliert und sie sah eine Träne in seinen Augen glitzern. 

»Ich werde es vermissen, ja, aber ich will für euch da sein.« Er zog sie an sich und seine Lippen berührten ihre. Erst war es nur ein sanfter Kuss, dann ließ er seine Hände über ihren Rücken wandern und seine Zunge drängte zwischen ihre Lippen. Ein warmer, elektrisierender Schauer lief über ihren Rücken. Sie ließ ihre Finger über seinen Rücken gleiten, erkundete die einzelnen Muskeln und strich sanft über seine Schulterblätter, wo er sein Leben als SEAL mit einem Tattoo verewigt hatte. Ihre Zungen tanzten einen wilden Tanz und zu gerne wäre sie nun unbeobachtet gewesen, aber das Wissen, dass Nathan und Harper sie sehen konnten, hinderte sie daran, weiterzugehen. 

»Hey, ihr Turteltauben, wisst ihr, wer angerufen hat?« 

Erschrocken fuhren sie auseinander, als sie die Stimme von Tom vernahmen, der auf sie zukam. 

»Nein, woher auch? Ist das nun so wichtig, dass du extra herkommen musst?«, knurrte Cayden seinen Kollegen an.

»Na, wenn er nicht hergekommen wäre, hättest du Jordan vielleicht aufgefressen.« Lachend lief Nathan an ihnen vorbei. 

»Banjo ist auf dem Weg nach San Diego. Mit ein wenig Glück ist er früh genug hier und bekommt noch was vom Essen ab.« Tom klang erleichtert. 

Jordan kannte den Australier kaum. Darrel White war ein Teammitglied, hatte sich aber vor einigen Wochen eine Auszeit genommen und war nicht zurückgekommen, als man ihn zurück erwartet hatte. Das Einzige, was er getan hatte, war seinem Team zu sagen, dass es ihm gut ging, er aber nicht wusste, wann er wieder kommen würde, da er etwas zu erledigen hatte. 

»Ein Grund mehr, ein Bier aufzumachen«, rief Cayden dem schlanken, trainierten Mann zu. »Wobei ich nicht glaube, dass ihr euch freuen werdet, wenn ich euch sage, warum ich mit euch reden wollte«, fügte er leiser hinzu. Es war, als wären die Worte nur für ihn gedacht und Jordan konnte die Zweifel hören, die in seiner Stimme mitschwangen. 

»Du musst das nicht.« Auch wenn sie wusste, dass sie ihn nicht umstimmen konnte, so wollte sie nochmals erwähnen, dass ihn niemand zu dieser Entscheidung zwang. 

»Ich will aber«, knurrte er trotzig als kurze Antwort. 

»Cay!« Aus der Ferne kam Samira auf sie zu gestürmt und Cayden löste seinen Arm von ihrer Hüfte, um das Mädchen in Empfang zu nehmen. Die Zwölfjährige warf sich Cayden an den Hals, so dass er einige Schritte zurücktorkelte. 

»Hey, du Wirbelwind.« Er drehte sich einige Male mit dem dunkelhäutigen Mädchen um die eigene Achse, was sie mit einem freudigen Kreischen quittierte. 

Jordan lächelte. Es war ein wunderbares Gefühl, dass sie diesem Mädchen ein neues Zuhause geben konnten und dass sie ihr Leben nun in vollen Zügen genoss. Sie schien vieles aufzuholen, was sie in Nigeria nicht hatte erleben können. Oft machte sie den Eindruck eines achtjährigen Mädchens, aber ihr Verstand war erstaunlich scharf. Sie hatte schnell die englische Sprache gelernt und kam in der Schule gut mit. Sie besaß ein feines Gespür für ihre Mitschüler und auch für die Erwachsenen um sich herum. In letzter Zeit hatte Jordan sie oft beobachtete, wie sie sich mit Syrell und Yvonne unterhielt und sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Da war ein seltsames Gefühl, wenn sie sah, wie Samira sich zu Syrell und Yvonne gesellte, vielleicht war es aber auch einfach nur Eifersucht. 

»Schau, Jordan träumt schon wieder. Ob es ihr was ausmacht, wenn wir uns in Meer stürzen?« Caydens Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

»Nein, Cayden, bitte nicht, das Kleid ist neu.« Jordan sah noch, wie Cayden vor dem Mädchen herrannte. Stöhnend befürchtete sie, dass Samira sich wirklich in das kalte Meer stürzen würde. Verzweifelt schloss sie einen Moment die Augen. »Das schöne Kleid.« Grummelnd öffnete sie ihre Augen wieder, als sie Samiras Kreischen vernahm. 

Gegen die Sonne blinzelnd musste sie feststellen, dass sie sich geirrt hatte. Cayden hatte Samira auf den letzten Metern abgefangen und trug sie nun, wie einen Sack Kartoffeln über die Schulter geworfen, Richtung Villa. 

2.

»Hey, Kleines.« 

Die tiefe, warme Stimme jagte Yvonne einen angenehmen Schauer über den Rücken und sie konnte spüren, wie Syrell näherkam. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis er direkt hinter ihr saß und sie sich an seine warme Brust lehnen konnte. Sein Geruch legte sich betörend auf ihre Sinne und es fiel ihr schwer, sich auf das Rauschen des Meeres zu konzentrieren, als er seine Hände über ihre Oberschenkel gleiten ließ. Sanft legte er sein Kinn auf ihre Schulter und sein warmer Atem strich wie Seide über ihre Wange. Syrell ließ seine Finger weiter Richtung Innenseite ihrer Schenkel wandern und seine Lippen legten sich heiß auf ihren Hals. 

»Was wird das?«, gurrte Yvonne heiser und presste ihren Rücken fester an seine Brust. 

»Entspannung der anderen Art?« Es war mehr eine Frage als eine Feststellung, und während er sprach, strichen seine Finger über ihren Bauch. Schnurrend bot sie ihm mehr von ihrem Hals an, an dem er sich küssend entlang arbeitete. Er begann, in Diné mit ihr zu sprechen. Yvonne schloss die Augen, genoss seine leichten Berührungen, die wie ein Hauch über sie hinwegstrichen. Langsam driftete sie an einen Ort ab, den sie sich vor langer Zeit geschaffen hatten. Einen Ort, an den ihnen niemand folgen konnte. Ihre Oase der Ruhe.

Plötzlich stand er mit einem verführerischen Lächeln vor ihr auf einer weiten Sandebene und wartete darauf, dass sie zu ihm kam. Schritt für Schritt näherte sie sich ihm und konnte seine Wärme schon spüren, ehe sie bei ihm war. Doch dann war es, als würde sie auf der Stelle laufen. Ihr Herz begann zu rasen und auch Syrells Gesichtsausdruck änderte sich. Das Lächeln machte einem besorgten Ausdruck Platz. Anstatt näherzukommen, entfernte sie sich immer weiter von ihm. Jeder Schritt nach vorne bewirkte, dass sie sich zwei Schritte von ihm entfernte. Selbst als sie hektisch atmend stehen blieb, glitt er weiter zurück. Die Landschaft veränderte sich. Die weite Ebene des Reservats machte einer anderen Platz.

Was geschah hier? 

Syrell verschwand hinter Bäumen und Büschen. Sie kannte die Umgebung und verband nichts Gutes mit ihr. Diese Gegend gehörte zum Hindukusch und sie war alleine. Es wurde mit jedem Herzschlag schwerer nicht zu vergessen, dass das hier nicht real war, dass es sich nur in ihrem Kopf abspielte. Nur, warum passierte das? Sie machte einige Schritte und stand plötzlich vor einer steilen Klippe, die Sekunden vorher noch nicht da gewesen war. Unten brannte etwas und sie bildete sich ein, dass sie den Ruß  schmecken konnte. Sie vernahm panische Schreie. Es waren Stimmen, die sie kannte. Ihr Herz raste und etwas nahm ihr die Luft zum Atmen.

»Ivy, hey, komm zu dir, bitte.« Syrells Stimme drang zu ihr durch und es fiel ihr schwer, die Augen wieder zu öffnen. Immer noch hämmerte ihr Herz wild in ihrer Brust und sie hatte Mühe, ruhig zu atmen. Sie war noch am Strand, saß auf dem tiefschwarzen Felsen und Syrell hielt sie fest umklammert in seinen Armen. »Was ist passiert?« Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht, als sie langsam ihren Kopf zu ihm drehte. 

»Ich weiß nicht. Du warst plötzlich weg. Ich war am Hindukusch an einer Klippe. Irgendetwas hat gebrannt und Menschen haben geschrien.« Yvonne versuchte verzweifelt alles zu erwähnen, was sie gesehen hatte, ehe es ihr wieder völlig entglitt. 

»Seltsam.« Syrells Stimme vibrierte in seiner Brust. »Du bist in einem Nebel verschwunden und ich hab mir eingebildet, Rauch zu riechen«, murmelte er und sie konnte seine Verwunderung und Sorge fühlen. 

Irgendetwas war anders als in den Visionen, die sie sonst hatte. Es war das erste Mal, dass auch Syrell etwas Ähnliches erlebt hatte. Was hatte es mit diesem Rauch auf sich? Nur langsam beruhigte sich ihr Herzschlag wieder und auch bei Syrell schien der erste Schreck abzuebben. Visionen, die sie bisher erlebt hatte, hatten sich auf das bezogen, was in den nächsten dreißig Minuten geschehen würde. Waren die Bilder die sie gesehen hatte ein Zeichen dafür, dass sie bald wieder einen Einsatzbefehl für Afghanistan erhalten würden? Nur schwer konnte sie sich von den Bildern trennen und wieder in ihre friedliche Traumwelt abtauchen. 

Bei Sonnenuntergang stieg ihnen erneut ein rauchiger Geruch in die Nase und sie vernahm das Knurren ihres Magens. 

»Hey, ich glaube, Bear hat das erste Steak auf den Grill gelegt.« Syrells Stimme holte sie langsam in die Realität zurück. Stück für Stück sortierte sie, was geträumt und was Vision gewesen war. Als sie sich erhob, griff Syrell nach ihrer Hand. 

»Dann schnell hin, sonst ist die Meute vor uns da.« Trotz ihrer Worte hielt sie Syrell kurz fest und zog ihn an sich. »Ich hab dir heute aber noch nicht gesagt, dass ich dich liebe.« Sie wusste nicht warum, aber sie war der Meinung, dass es sehr wichtig sein würde, dass sie ihm genau das jetzt in diesem Moment sagen würde. Es war ein eigenartiges Gefühl, beinah als wäre es das letzte Mal, dass sie die Möglichkeit bekommen würde, es ihm zu sagen. Eine Träne suchte sich einen Weg aus ihren Augen und es war Syrells Daumen, der den salzigen Tropfen auffing. 

»Hey, alles okay, und ich liebe dich auch. Was auch immer das für eine Vision war, sie wird uns nicht auseinander bringen, okay?« Seine Lippen legten sich auf ihre Stirn und dann auf ihren Mund. Beruhigend strich er über ihren Rücken und sie vergrub kurz ihr Gesicht an seinem Hals, wo sie mehrfach tief Luft holte. »Besser?« Sanft schob er sie von sich.

»Ich denke, ja.« Yvonne sah tief in seine braunen Augen und versuchte, ihren eigenen Worten Glauben zu schenken. Lächelnd schüttelte Syrell den Kopf. Er wusste, was in ihr vorging, sagte aber nichts weiter, wofür sie ihm dankbar war. 

Langsam gingen sie am Strand entlang und entdeckten die große, blaue Öltonne brennend am Strand, die sie sonst nur sehr selten nutzten. Ihre Freunde hatten Stämme um ein Lagerfeuer gelegt und Syrell murmelte leise etwas davon, dass es seltsam sei, dass sie nicht auf der Terrasse grillen würden. Bear schwor doch immer darauf, dass das Fleisch vom Grill viel besser war als das, welches sie über der Tonne grillten. Yvonne nickte bei seinen Worten. Auch Karen war meist nicht begeistert, wenn sie ihr Essen direkt am Strand zu sich nahmen, da sie ihre Salatschüsseln schlecht dort abstellen konnte. Dann entbrannte immer wieder eine wilde Diskussion, ob man wirklich einen Tisch am Strand benötigte, um Schüsseln, Ketchup und Dressings abzustellen. 

»Da kommen die Turteltauben ja.« Bear, der mit einer Grillzange neben der Tonne stand, lachte auf. 

»Wie kommt es, dass wir hier dinieren und nicht auf der Terrasse? Womit hast du Karen bestochen?« Yvonne ließ ihren Blick über die Anwesenden gleiten und blieb an Samira hängen, die sich dicht an Jordan gekuschelt hatte. 

»Sami hat darauf bestanden, damit sie so noch ein wenig an dem Gebilde da weiterbauen kann«, erklärte der große SEAL und deutete auf eine Sandburg. »Und nachdem Darrel angerufen hat, war irgendwie jeder der Meinung, dass wir ihn mit einem Barbecue am Strand empfangen müssen. Als ob der, weil er wieder kommt, ein romantisches Feuer am Strand braucht«, murrte Bear weiter, als er mit einem Zischen ein weiteres Stück Fleisch auf den Grillrost legte.

Interessiert beobachteten sie zu dritt, wie Cayden Samira an die Hand nahm und gemeinsam mit ihr begann, Fenster und Türen in den Sand zu ritzen. 

»Als Papa macht er sich auch ganz gut«, raunte Syrell, ohne den Blick von der friedlichen Szene zu lösen. 

»Gleich verlangt er, dass Karen ihm Stofffetzen für die Gardinen bringt«, warf Bear amüsiert ein und wurde im selben Moment von Samira mit großen Augen angeschaut. 

»Damals hatten die noch keine Gardinen“, belehrte sie ihn und begann, einen Wassergraben auszuheben. 

»Klugscheißer«, flüsterte Bear leicht beleidigt und Yvonne musste sich ein Auflachen verkneifen. Als er einen leisen Fluch ausstieß, richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihn und Syrell, der amüsiert grinste, als Bear ein Steak umdrehte, das deutlich dunkler als vorgesehen war.   

»Wann kommt Darrel an?« Sie sah dem Russen ins Gesicht.

Tief grollend über seine Unaufmerksamkeit, legte er das Steak zur Seite.

»Er wollte in knapp zwei Stunden hier sein, aber bei dem Verkehr können es auch drei werden.« 

Yvonne war froh, dass der Australier endlich zurückkam. Sie hatte ihn vermisst. Seine ruhige Art wirkte sich immer auf alle aus. Außerdem gehörte er inzwischen wie alle anderen zu ihrem Team und zu ihrer Familie.

»Yvonne, kommst du mal?« 

Yvonne drehte den Kopf zur Villa, wo Liv mit einer riesigen Schüssel aus der Tür kam und Jamain mit Harry einen Tisch von der Terrasse tragen wollte.

»Ja«, rief sie der rothaarigen Agentin zu und drehte sich zu Bear. »Ich bin gleich wieder da. Halt mir ein Steak fest.« Sie warf Bear noch einen Blick zu, der die Fleischstücken auf dem Grill musterte. 

Nach zwei Stunden saßen sie alle mit vollen Mägen auf den Baumstämmen und genossen die Wärme des lodernden Lagerfeuers. Karen hatte sich wieder einmal viel Arbeit mit Beilagen gemacht, deren Reste nun auf dem Tisch standen, den die Männer am Strand aufgestellt hatten. Nun waren die Schüsseln mit Folien abgedeckt und sie warteten darauf, dass Darrel ankam. Cayden wollte ihnen etwas mitteilen, hatte aber angekündigt damit zu warten, bis alle da waren. Aber ihr australischer Kollege hatte sich entweder verfahren oder nahm jede rote Ampel in dreifacher Ausführung mit.

»Leute, hört mal. Auch wenn der Grillabend auf Snipes´ Mist gewachsen ist, so möchte ich kurz um eure Aufmerksamkeit bitten.« Paul war aufgestanden und an das Feuer getreten. Er sah jeden von ihnen an und holte tief Luft. »Was ich euch jetzt sage, werde ich Banjo auch noch sagen, wenn er da ist. Ich habe meinen Abschied eingereicht.« 

Ein Raunen ging durch die Anwesenden. Damit hatte niemand von ihnen gerechnet. Sie hatte gedacht, dass Paul mit seinem neuen Job zufrieden war. Dass er glücklich damit war, nun nur noch am Schreibtisch zu arbeiten und nicht mehr über den Parcours zu hetzen oder sein Leben in den Einsätzen zu riskieren. 

»Ich möchte meinen Posten nun komplett an John und Sean übertragen. Die beiden haben in meinen Augen ihren Job bisher sehr gut gemacht. Versteht mich nicht falsch, ich liebe meinen Job, aber langsam werde ich zu alt dafür. Außerdem habe ich ein Leben neben meinem Job, welches die letzten sechzehn Jahre viel zu kurz gekommen ist. Es ist an der Zeit, dass ich mich genau um dieses Leben kümmere. Wenn ich euch ansehe, weiß ich, dass ich ein Team gefunden habe, das sich in jeder Situation zurechtfinden wird. Egal, ob ich da bin oder nicht. Ein Team, das weiter wachsen wird. Ein Team, das jeden neuen Kollegen in seiner Mitte aufnehmen wird, als wäre er nie woanders gewesen. Ihr habt hier ein tolles Zuhause, auch wenn der Platz nicht für alle reicht.« Pauls Blick wanderte zu Nuyen Sato, für den kein Platz mehr in der Villa war. Allerdings war er in jeder freien Minute da. »Hier an diesem Strand und in der Villa hinter uns schlägt das Herz der IATF. Ich bin nicht aus der Welt und ich denke, dass ich ab und an auf einen Kaffee vorbeikommen werde.« Paul schluckte hörbar. »Ihr seid auch ohne mich ein tolles Team und eine tolle Familie. Besseren Kaffee als den von Karen finde ich ohnehin nirgends.« 

Ein kurzes Schweigen trat ein. Keiner von ihnen hatte mit dieser Offenbarung gerechnet. 

»Hooyah, Captain Redman.« Roderick brach mit seiner tiefen Stimme die Stille. Auch wenn sie immer wieder Probleme mit Paul gehabt hatten, so war es doch ihr Captain, der ihr Team zusammengeschweißt hatte.

»Hooyah, Captain Redman!«, stimmten sie alle lautstark ein. 

»Paul, damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet, aber wenn es dein Wunsch ist, müssen wir den so akzeptieren.« John ergriff deutlich heiser das Wort.

»Hey, was macht ihr dahinten?« Eine Stimme ließ sie Richtung Villa sehen.

»Banjo, du bist genau fünf Minuten zu spät«, rief Roderick dem Schatten zu, der von der Villa her auf sie zukam. 

Yvonne rutschte näher an Syrell heran, der einen Arm um sie gelegt hatte. Jetzt waren sie wieder komplett und doch würde es nie wieder so sein wie in diesem Moment. Beim nächsten Mal würde Paul nicht mehr ihr Vorgesetzter sein. Er wäre einfach nur ein Freund, ein Besucher. 

»Ich kann doch nicht wissen, dass ich hier noch erst Paketbote spielen muss.« Lachend kam Darrel White auf sie zu.

»Paket?« Karen klang verwirrt. 

»Ja, deine Bestellung ist angekommen. Ich hab unterschrieben und kann nichts dafür, wenn das, was da drin ist, nun nicht so ist, wie du es wolltest. Ich hab nicht reingeschaut. Der Karton steht auf dem Tisch im Flur.« Darrel begrüßte bereits Bear mit einer überschwänglichen Umarmung, als er weitersprach. Yvonne sah schmunzelnd zu Jordan, die wohl die selben Gedanken hegte. Karen hatte sicher etwas vergessen, weil das Paket mal wieder mehr als zwei Wochen unterwegs gewesen war. 

»Ich hab nichts bestellt. Bist du dir sicher, dass es für mich ist? Vor ein paar Tagen war schon mal einer da. Das Paket sollte zu …« 

Eine gewaltige Explosion zerriss die entspannte Runde. Die folgende Druckwelle warf nicht nur sie von dem Baumstamm, auch Syrell kippte nach vorne in den Sand. Yvonnes Herz raste. Da war er wieder dieser Geruch von Rauch, den sie schon in ihrer Vision wahrgenommen hatte. Es dauerte einige Sekunden, bis sie sich traute, ihren Kopf zu heben. Syrell hatte sich bereits neben ihr aufgesetzt. Suchend sah sie sich um, um sicher zustellen, dass niemandem etwas passiert war. Auch wenn sie nur das Pfeifen in ihren Ohren hören konnte, so konnte sie sehen, dass Samira, die in Caydens Armen lag, schrie. Yvonne wollte nicht über ihre Schulter in die Richtung sehen, in die Karen starrte. Und doch drehte sie ihren Kopf Richtung Villa. Was sie sah, brachte ihr rasendes Herz ins Stocken. Eine gewaltige Rauchsäule stieg von dem Ort auf, an dem sie lebten. Flammen schlugen aus den Fenstern und dort, wo die Terrassentür einmal gewesen war, klaffte ein gewaltiges Loch. 

Torkelnd erhob sie sich und starrte fassungslos zur Villa. Eine Berührung an ihrer Schulter ließ sie zusammenzucken. Syrell deutete ihr, in Deckung zu gehen. 

Dutzende Gedanken schossen ihr durch den Kopf, als sie sich wieder auf den Boden fallen ließ und sie beobachtete, wie Bear Karen zu Boden drückte und Cayden Samira am Boden hielt, während Darrel sich darum kümmerte, dass Jordan ebenfalls flach auf dem Boden liegen blieb. Ihr Blick wanderte suchend zu Paul, der Roderick und Sean mit Gesten zu verstehen gab, dass sie ihm folgen sollten. John war bereits geduckt bei Paul angekommen. Syrell, der neben ihr lag, verlangte erneut durch eine Berührung ihre Aufmerksamkeit. Sie wusste, was er ihr mit den Gesten sagen wollte, die er ihr gab. Sie sollte hier bleiben und auf die anderen aufpassen, während er die Umgebung sichern wollte. Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht, dass er mit den anderen zur Villa ging. Was, wenn dort noch jemand war, der es auf sie abgesehen hatte? Kurz berührten seine Lippen ihre Stirn, ehe er sich erhob und gemeinsam mit den anderen zur Villa rannte.  

Minuten verstrichen, ehe das Pfeifen endlich nachließ und sie die Stimmen ihrer Kollegen wieder vernahm. Auch wenn es sie beruhigte, dass scheinbar niemand verletzt war, so stand doch jedem der Schreck ins Gesicht geschrieben. Karen lag weinend in Bears Armen, der nicht in der Lage war, die dunkelhaarige Frau zu trösten. Samira hatte aufgehört zu schreien und weinte still in Jordans Armen. Cayden und Darrel waren zu ihr gekommen und beobachteten an einen der Stämme gelehnt die Villa. Flammen schlugen aus den Fenstern der oberen Etage und tauchten alles in einen zerstörerischen Feuerschein. Irgendwann konnte sie das Geräusch von Sirenen vernehmen und entdeckte die Silhouetten von Syrell und den anderen, die wieder auf sie zukamen. 

Auch wenn das Pfeifen in ihren Ohren immer noch markant war, konnte sie hören, wie Paul verkündete, dass sie niemanden gefunden hatten. Syrell sank neben ihr auf den Boden und zog sie an sich. Sie konnte spüren, dass er sie schützen wollte, aber es gelang ihm nicht. Sie fühlte sich schutzlos. Da halfen auch die starken Arme von Syrell nicht. Sie hatte gerade ihr Zuhause verloren. All das, was sie sich aufgebaut hatte, brannte lichterloh hinter ihr. Der Ort, an dem sie sich geborgen gefühlt hatte, war zerstört.

Erst mitten in der Nacht verließen sie als geschlossene Gruppe den Strand. Die Villa wurde von Scheinwerfern hell erleuchtet und überall waren Feuerwehrmänner, Polizei und Soldaten. Selbst das NCIS war vor Ort. Es herrschte das absolute Chaos. Sie sammelten sich an den Wagen, die in der Einfahrt der Villa standen. Die Autos waren bis jetzt das Einzige, was noch brauchbar war. Sie hatten die Villa noch nicht betreten und würden es wohl auch erst können, wenn die Feuerwehr und das NCIS ihre Arbeit beendet hatten.

»Hey, alles okay? Du hast noch kein Wort gesagt.« Syrell legte seine Arme um sie und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. Hatte sie wirklich die letzten Stunden nicht gesprochen?

»Keine Ahnung«, brachte sie heiser hervor. Der Schock saß tief und nur langsam wurde auch ihr klar, was den Männern wohl schon länger klar war. Wenn sie auf der Terrasse gewesen wären, würden sie nun nicht an den Autos stehen, um in die Base zu fahren. Auch dass sie wahrscheinlich fast alle persönlichen Gegenstände verloren hatten, begriff sie nur langsam. 

»Hey, wir sind alle am Leben, das ist das Wichtigste. Alles andere wird sich klären.« Sanft strichen seine Daumen über ihre Wangen, über die erneut Tränen flossen. 

»Sy?« Sie sah zu ihm auf und sein Nicken bestätigte, dass er sie gehört hatte. Aber was wollte sie ihm sagen?

Yvonnes Puls raste und ihr wurde schwindelig. Wenn sie nicht am Strand gewesen wären, wären sie tot. Dann wäre das Letzte, was sie noch mitbekommen hätte, die brutale Druckwelle gewesen. 

Der Tod hatte nach ihnen gegriffen und sie alle in einem Moment nur um Zentimeter verfehlt, in dem niemand mit ihm gerechnet hatte. Haltsuchend grub sie ihre Finger in Syrells Schulterblätter. 

»Kleines, hey, alles okay.« Seine Stimme rückte in die Ferne und sie versuchte, sich an ihm festzuhalten, damit er nicht verschwand und sie plötzlich alleine wäre. Der Gedanke an das, was fast passiert wäre, wollte sie in ein Loch ziehen. »Ivy, komm.« Sie spürte, wie ihre Knie nachgaben und Syrells Arme es waren, die sie festhielten. »Komm, mach die Augen auf, es ist alles okay.« 

»Was ist los?« Nun war es Toms Stimme, die irgendwo in einem Nebel auftauchte. 

Das Nächste, was sie wahrnahm, war, dass sie irgendwo saß. Blinzelnd versuchte sie, die Augen zu öffnen. 

»Hey, Poison, langsam und gleichmäßig atmen, okay? Auch wenn du glaubst, das geht nicht … ein und wieder aus.« Sie bemühte sich, Toms Ratschlag zu befolgen, und langsam beruhigte sich ihr rasendes Herz und auch der Kloß in ihrer Kehle verschwand wieder. 

»Ich habe uns Schlafplätze organisiert. Samira und Karen sollten nicht länger hier sein. Und wir können auch ein wenig Ruhe vertragen.« Pauls Stimme klang müde und leer. »Lasst uns fahren.« Paul tauchte vor ihren Augen auf und sie begriff, dass sie mitten auf der Einfahrt der Villa saß, wenige Meter neben einem Feuerwehrwagen und dem Jeep, in den sie hatte einsteigen wollen. Syrell saß hinter ihr und hielt sie fest umklammert.

Sie warf einen letzten Blick auf die Villa. Ein drückendes Gefühl legte sich auf ihre Brust. Immer noch stieg Rauch von dem Ort empor, an dem sie sich sicher gefühlt hatte, der ihr Zuhause gewesen war. 

3.

»Sie schläft. Wir sollten auch die Augen zu machen.« Cayden strich sich über das Gesicht. 

So hatte Jordan ihn noch nie gesehen. Immer wieder wanderte sein Blick zu Fenster und Tür ihrer kleinen Wohnung. Er hatte Angst. Es war nicht mehr zu übersehen, dass der sonst so gefasst wirkende Cayden Harrison Angst hatte. Der Mann, der gelernt hatte, immer logisch und abgeklärt zu handeln, stand nun so unter Strom, dass er sich seit ihrer Ankunft in der Wohnung nicht gesetzt hatte. Er lief wie ein Tiger hin und her. Immer wieder war er in Samiras Zimmer gelaufen und nun wanderte er rastlos von einem Ende zum anderen des Wohnzimmers. 

»Erstmal setzt du dich einen Moment hin.« Jordan deutete neben sich auf die große, rote Schlafcouch, die sie sich mit ihm teilte, damit Samira ein eigenes Zimmer hatte. Wieder wanderte sein Blick zum Fenster und sie konnte sehen, wie er seine Fäuste ballte. 

»Leg du dich hin, ich komme gleich. Ich ruf noch bei Nath und Sean an.« Cayden ging zur Tür ihrer Wohnung und warf einen Blick durch den Spion.

»Cayden, glaubst du, dass wir verfolgt werden?« Sein Verhalten machte sie nervös und es gelang ihr nicht mehr, sich einzureden, dass sie in ihrer eigenen Wohnung sicher waren. 

»Keine Ahnung, was ich glaube. Jordan, das war kein Zufall. Das war ein Anschlag. So ein gottverdammter, feiger Anschlag. Die wollten nicht nur das Team treffen. Die wussten genau, dass auch Leute da sind, die nichts mit unserer Arbeit zu tun haben. Jordan, sie greifen unsere Familien an. Das wird zu einem beschissenen, dreckigen Spiel. Sie wollen uns da treffen, wo es richtig weh tut. Nicht irgendwo im Hindukusch, in Nigeria oder sonst wo. Nein, hier vor unserer Tür, da wo wir uns und unsere Lieben in Sicherheit wiegen.« Endlich sah er sie an. Jordan holte tief Luft, konnte aber nicht verhindern, dass ihre Hand zu zittern begann, die sie Cayden entgegenstreckte, um ihn zu bitten, sich zu ihr zu setzen. Tränen bahnten sich einen Weg, seine Worte machten ihr Angst.

»Hey, nicht weinen.« Er sank neben ihr auf die Couch und zog sie an sich. »Nicht weinen. Ich denke, heute Nacht sind wir hier sicher. Die rechnen sicher damit, dass wir nicht mehr am Leben sind.« Sanft strich er ihr durch die Haare. »Schlaf ein wenig. Ich bleib wach.« Langsam ließ er sich nach hinten sinken und zog sie mit sich. Jordan konnte ihr Zittern nicht kontrollieren. Sie hatte Männer gesehen, die in der Klinik Amok gelaufen waren, die sie und Kollegen bedroht hatten. Und sie hatte Menschen gesehen, die sich mit schwersten Verletzungen in ihr Krankenhaus im Tschad geschleppt hatten. Immer auf der Flucht vor dem Terror. Nun war der Terror direkt vor ihrer Tür angekommen. Es gab keinen sicheren Ort mehr. 

Seine sanften Berührungen sorgten dafür, dass sie sich auf seinen kräftigen Herzschlag konzentrierte und ihr rasendes Herz sich beruhigen konnte. Langsam dämmerte sie Richtung Schlaf, obwohl sie immer wieder die Blicke von Karen und Yvonne vor sich sah. Die wütenden Flüche von Rod und Sean hallten in ihren Ohren und selbst Livs analytisches Gespräch mit Joyce wiederholte sich in ihren Gedanken. Dass Yvonne vor der Villa zusammengebrochen war, war etwas, dass auch in ihr als Ärztin Panik ausgelöst hatte. Die Deutsche war sonst immer ruhig und abgeklärt, aber als ihr plötzlich die Farbe aus dem Gesicht gewichen war, hatte sie ihre harte Maske fallen gelassen. Jordan kannte zwar nicht alles von der Deutschen und doch wusste sie von der dunklen Geschichte, die Yvonne verändert hatte. Und vorhin an der Villa war die gewaltige Mauer, die sie aufgebaut hatte, um niemanden ihre Emotionen zeigen zu müssen, zusammengefallen. 

Karen würde noch eine Weile brauchen, um zu begreifen, was geschehen war. Vielleicht würde sie es erst wirklich begreifen, wenn sie wieder an der Villa wäre. Dort, wo zurzeit niemand das Haus betreten durfte. Der hintere Teil der Villa war verwüstet. Die Druckwelle hatte aus fast allen Fenstern die Scheiben herausgesprengt und die Haustür aus den Angeln gerissen. Im hinteren Bereich klaffte ein riesiges Loch und dort, wo sich die Zimmer von Bear und John befunden hatten, gab es nichts mehr außer Trümmer. Einzig die tragenden Wände hielten die zweite Etage und das Dach noch dort, wo sie ursprünglich hingehörten.

Jordan erwachte durch Caydens leise Stimme und versuchte, seinen Worten zu lauschen.

»Hat Paul schon was gesagt?« Eine längere Pause entstand, in der Cayden allerdings weiterhin durch ihr Haar strich. Es fiel ihr schwer, nicht wieder einzuschlafen. Die monotonen, sanften Berührungen wollten sie in den Schlaf drängen, aber sie wollte wissen, worüber Cayden mit seinem Bruder sprach. 

»Nath, das ist mir auch klar. Wir müssen dieses Arschloch endlich aus dem Weg räumen.« Es war ein tiefes Knurren, das ihr Lebensgefährte von sich gab. Einen so aggressiven Laut kannte sie nicht von ihm. Dass er sie gleichzeitig so sanft streichelte, verwirrte sie nur noch mehr.