1.
»Das ist doch bescheuert, was soll der Irrsinn?« Alya Dibar warf fluchend die Tür hinter sich ins Schloss und biss ihre Zähne aus Wut und Verzweiflung so fest aufeinander, dass ihr Kiefer zu schmerzen begann. Diesen unüblichen emotionalen Ausbruch beobachteten ihre anwesenden Kolleginnen und zwei Krankenpfleger, die im Schwesternzimmer des Cure Hospitals in Kabul saßen, mit großen Augen. Tief einatmend zwang sie sich, sich wieder zu beruhigen. Seufzend ließ sie sich an dem Tisch nieder, an dem bereits ihre Kolleginnen saßen und sie nun mitleidig ansahen. »Die tun so, als wäre das Mittelalter eingezogen«, versuchte sie, ihren Aussetzer zu erklären.
»Vielleicht…«
»Du wieder, warum bist du der Meinung, dass es vielleicht auch nett ist, zuhause beim wohlsorgenden Ehemann zu sitzen?« Alya fuhr ihrer Kollegin über den Mund, ehe diese überhaupt etwas sagen konnte. Alya kannte ihre Ansichten und wusste deshalb, was sie hatte sagen wollen. Fariba war in ihren Augen nichts anderes als eine Jasagerin, eine Mitläuferin, die sie genau deshalb nicht leiden konnte. Es regte sie auf, dass die Kollegin in den letzten Tagen öfter geäußert hatte, dass sie sich vorstellen konnte, nur noch Hausfrau zu sein, und es vielleicht an der Zeit sei, Kinder mit ihrem Mann zu bekommen. Hier im Krankenhaus blieben immer mehr Schwestern der Arbeit fern, weil sie sich nicht aus dem Haus trauten oder ihnen das Arbeiten von ihren Ehemännern oder Familien verboten wurde. Sie hatte sogar schon zwei ihrer Pflegekräfte als Patientinnen in Empfang nehmen müssen. Die eine hatte einen radikalen Mann, der sich jetzt, nach dem Abzug der ausländischen Truppen, in seinem Glauben bestätigt sah und Frauen nicht respektierte. Die andere war verprügelt worden, weil sie einkaufen gegangen war, ohne eine Burka zu tragen. Diese Zustände waren für Alya, die in den USA gelernt hatte, kaum zu ertragen, obwohl sie in diesem Land geboren worden war und das Gedankengut der Taliban nur zu gut kannte.
Es war gerade einmal drei Monate her, seit die letzten Amerikaner das Land verlassen hatten. Die neue Regierung hatte versprochen, den Frauen ihre Arbeit zu lassen und Mädchen sollten weiterhin zur Schule gehen dürfen. Aber all das bröckelte bereits. Oft hatte Alya das Gefühl, dass die Soldaten und Polizisten auf den Straßen nichts von dem wussten, was die Regierung entschieden hatte, oder sie wussten schon genau, dass all diese Versprechen nur Schall und Rauch waren und bald gebrochen werden würden. Sie hatte Protestgruppen von Frauen gesehen, die zwar nicht angegriffen, aber hermetisch von anderen Menschen auf den Straßen abgeriegelt worden waren. Keiner sollte mitbekommen, was die Frauen forderten. Männer schlossen sich diesen Protesten fast nie an. Alya wusste von vielen, die ebenfalls nicht mit der neuen Regierung einverstanden waren. Aber niemand traute sich, seine Meinung zu sagen. Um wirklich etwas zu erreichen, waren sie einfach zu wenige. Sie mussten, wie die Frauen, drakonische Strafen bis hin zum Tod fürchten. Schließlich hatte sich niemand gegen die Regierung, die es geschafft hatte, die Besatzer aus dem Land zu jagen, zu stellen.
All das bewegte sie tagtäglich und sie bemühte sich, diese Sorgen hier im Krankenhaus bei ihrer täglichen Arbeit zu vergessen. Doch das fiel ihr von Tag zu Tag schwerer. Nicht, weil sie immer wieder Opfer von Polizeigewalt versorgen musste, sondern weil viele der Menschen, die kamen, sich nicht mehr von ihr oder ihren Kolleginnen behandeln lassen wollten. Die Krankenschwestern hatten noch einen vergleichsweise guten Stand aber sie als Ärztin wurde oft darum gebeten, einen männlichen Kollegen zu holen. Männer verweigerten die Behandlung durch sie komplett und wenn Paare kamen, musste Alya auf das Wohlwollen des Ehemannes hoffen, wenn sie die Untersuchungen durchführte. Gerade vor wenigen Minuten hatte der Ehemann darauf gepocht, dass ein männlicher Kollege sich dem verletzten Kind annahm. Solche Vorfälle häuften sich in den letzten Tagen und ihre männlichen Kollegen waren ebenso wenig begeistert davon wie sie. Sie alle waren ohnehin überlastet und was sollte sie hier, wenn sie nicht helfen konnte?
»Dich hätte doch niemand aufgehalten zu gehen, als du es gekonnt hättest«, warf ihr nun eine der Krankenschwestern vor.
»Nein, das stimmt, aber würdest du deine Patienten einfach hier lassen und verschwinden? Die Kinder, die dich jeden Tag anstrahlen? Würdest du dir da keine Sorgen um sie machen?«, entgegnete sie. Dass ihre Kolleginnen nun betreten zu Boden sahen, machte ihr deutlich, dass sie richtig gehandelt und die passenden Worte gefunden hatte. Nur hatte sie gehofft, dass es nicht so schnell zu solchen Verhältnissen kommen würde. Insgeheim hatte sie die leise Hoffnung gehabt, dass sie als Ärztin immer arbeiten könnte, dass auch die Taliban Wert auf Fachkräfte legen würden und ihr Geschlecht in diesem Fall nicht relevant sein würde. Leider war diese Hoffnung schon nach wenigen Tagen zerschlagen worden. Das Schlimmste würde vielen jedoch noch bevorstehen: Wenn die Frauen nicht mehr arbeiten gehen konnten, konnten sie kein Geld mehr verdienen. Alya befürchtete noch Schlimmeres: Wenn es so weit kommen würde, dass man den Frauen verbieten könnte, alleine das Haus zu verlassen, hätten Alleinstehende das Nachsehen. Dann würden sie betteln gehen müssen und hoffen, dass die Soldaten und Polizisten es duldeten. Für medizinische Versorgung würde das Geld sicher nicht mehr ausreichen. Es würde an Lebensmitteln mangeln und Bildung würde vor allem für die Mädchen ganz wegfallen.
Leise seufzend lehnte sie sich zurück.
»Was willst du machen?« Ihre verheiratete junge Kollegin musterte sie. Esin hatte Glück, sie hatte einen weltoffenen Mann geheiratet, der dafür sorgen würde, dass sie immer ausreichend Geld hatten. Anderen würde es nicht so ergehen. Sie selbst hatte keinen Mann und war bis vor kurzem der Meinung gewesen, sie benötigte keinen. Sollte sie etwa einen Mann suchen, um noch vor die Tür gehen zu können? Sie schmunzelte, da es sich anfühlte, als ob sie über die Anschaffung eines Haustieres nachdenken würde. Mit dem kleinen Unterschied, dass ein Mann ihr vielleicht ein menschliches Leben in einem Land ermöglichen könnte, in das das Mittelalter zurückgekehrt war.
»Ich weiß es nicht.« Sie musste sich aus ihren Überlegungen zwingen.
»Du könntest heiraten«, erklärte ihr nun die älteste der Anwesenden.
»Ich will, wenn überhaupt, aus Liebe heiraten.« Ihr Kommentar sorgte bei ihrer Kollegin für ein leises Auflachen. Wahrscheinlich hatte auch ihre Kollegin nicht aus Liebe geheiratet, sondern war von ihrer Familie in eine Ehe gezwungen worden. Oder man hatte sie sogar schon als Kind versprochen. Etwas, das nicht unüblich war.
»Aus Liebe wird in der kommenden Zeit niemand mehr heiraten«, erklärte sie ihr.
Der Satz ihrer Kollegin klang ihr noch Stunden später in den Ohren, als sie sich zu Fuß auf den Weg zu ihrer kleinen Wohnung machte. Sie besaß kein Auto, weil es zum einen zu teuer war und sie zum anderen Kabul eigentlich auch nie verlassen musste. Sie hatte sich vor knapp zwei Jahren, nach ihrem Studium, welches sie in den USA mit Hilfe einer internationalen Gruppe hatte absolvieren können, dazu entschieden, hierher zurückzukehren. Sie hatte den Menschen hier mit ihrem Wissen helfen wollen. Sie hatte sich bewusst gegen einen Job in den USA entschieden. Dort gab es so viele gute Ärzte, dass man auf sie verzichten konnte. Andere aus ihrem Jahrgang hatten es genau so gesehen und waren mit ihr zurückgekehrt. Zurück in ihr Geburtsland. Sie träumte davon, dass es vielleicht eines Tages ebenso weltoffen werden würde, wie viele andere Länder. Allerdings hatten diese Kolleginnen und Kollegen kalte Füße bekommen, als klar geworden war, dass die ausländischen Truppen das Land wirklich verlassen würden. Einige hatten immer wieder geäußert, dass sie die Hoffnung hegten, die Amerikaner würden bleiben, auch wenn die kritischen Stimmen durchaus berechtigt waren. Es war in den letzten Jahrzehnten viel unschuldiges Blut vergossen worden. Sie selbst konnte sich kaum an den Beginn des Krieges erinnern. Er war einfach immer dagewesen. Ihre Eltern waren etwas besser betucht gewesen, weswegen sie einige Vorzüge hatte genießen können. Dann waren sie kurz vor dem Beginn ihres Studiums bei einem Bombenanschlag ums Leben gekommen. Ihr Haus stand noch heute halb zerstört von der Autobombe in der Kabuler Innenstadt. Es hatte sich seither niemand um das Gebäude gekümmert. Geschwister hatte sie nicht, da ihre Mutter unter ihrer Geburt fast selbst das Leben verloren hätte. Das war einer der Gründe, warum sie sich dazu entschieden hatte Ärztin zu werden. Sie wollte andere Frauen vor solchen Schicksalsschlägen bewahren. Auch die Tatsache, dass es jeden Tag Menschen gab, die bei solchen Anschlägen verletzt wurden oder durch alte Minen fürchterliche Verletzungen davontrugen, hatten sie dazu bewegt, Ärztin zu werden und in ihr Heimatland zurückzukehren. Sie wollte für ihre Landsleute da sein. Wollte nicht, dass das Land, wie das Haus ihrer Eltern, halb zerstört irgendwo auf der Landkarte lag.
Instinktiv zog sie ihr Kopftuch zurecht, als ein weißer Jeep an ihr vorbeifuhr, auf dessen Ladefläche bewaffnete, vermummte Männer saßen. Kraftwagen wie diesen Jeep gab es immer mehr. Auch schwer gepanzerte Fahrzeuge, die die ausländischen Soldaten der afghanischen Armee überlassen hatten und nun in den Händen der Taliban waren, waren keine seltenen Anblicke. Auch wenn Fahrzeuge mit Bewaffneten schon seit vielen Jahren zum Straßenbild gehörten, gab es nach der Machtübernahme durch die Taliban einen kleinen Unterschied: Jetzt wurden sie von unberechenbaren Männern gefahren, die stolz damit prahlten, diese teuren, gefährlichen Fahrzeuge ergattert zu haben. Fahrzeuge, mit denen sie kaum umgehen konnten.
Die große Straße war mit Bäumen bepflanzt. Wenn nicht überall der helle Staub der naheliegenden Wüste liegen würde, wäre es fast wie in Columbus, wo sie studiert hatte. Auf den Straßen herrschte das normale Treiben, bei dem sie jedoch einige Veränderungen festgestellt hatte: Immer mehr Frauen verhüllten sich und insgesamt waren mehr Männer als Frauen unterwegs.
Ehe ihr Weg sie in ihre Wohnung führen würde, wollte sie noch auf dem Markt einkaufen, um sich am Abend etwas kochen zu können. Den Luxus eines Kühlschrankes hatte sie in ihren eigenen vier Wänden nicht. Schuld war jedoch nicht das knappe Geld, sondern die durchgehend schwankende Stromversorgung und die nicht seltenen Stromausfälle. Sie hatte Angst davor, sich mit verdorbenen Lebensmitteln, die zu lange nicht gekühlt im Kühlschrank ihrer Wohnung gelagert hatten, den Magen zu verderben. Denn jeder Tag, den sie nicht auf der Arbeit erschien, hieß auch, keinen Lohn zu bekommen. Da der Markt auf ihrem Weg lag, hatte sie es sich angewöhnt, frisch einzukaufen. Im Krankenhaus bekamen sie nur selten die Ausfälle mit, da ihre Notstromgeneratoren Stromausfälle sofort auffingen und überbrückten. Notstromaggregate, die ihnen von westlichen Hilfsorganisationen und Sponsoren zur Verfügung gestellt worden waren und bisher auch von diesen gewartet worden waren. Was nun passieren würde, sollten sie ausfallen, wusste noch niemand. Vielleicht hatten sie Glück und fanden jemanden, der mit der Technik umgehen konnte. Schließlich hatten sie auch jemanden gefunden, der ihnen regelmäßig Diesel lieferte.
Schon beim Betreten der ersten Straßen, die zu dem Marktgelände gehörten, fiel ihr die Stimmung auf. Es war leiser als früher. Die Blicke vieler Händler wanderten umher, als warteten sie auf etwas. Bereits seit einer Weile waren an den Verkaufsständen kaum noch Frauen zu sehen. Dort wo welche waren, waren die Ehemänner oder andere männliche nahe Familienangehörige nicht weit. Die meisten Frauen trugen Burka, wichen jedem Blick aus und sprachen kaum. Heute lag jedoch noch etwas anderes in der Luft. Eine Anspannung, die von allen Anwesenden ausging. Es war eine Spannung, die förmlich in sie hineinkroch. Nur wenige Minuten, nachdem sie Reis gekauft hatte, kamen ihr sechs Soldaten entgegen. Sie wurde bereits angesprochen, als die Gruppe sie noch nicht erreicht hatte. Alle sechs Männer musterten sie in einer Art, die ihr sehr unangenehm war. Sie wurde darauf hingewiesen, dass ihre Kleidung der Scharia entsprechen musste, und ihr Kopftuch zu bunt sei. Ihr wurde geraten, eine Burka zu tragen und am Ende wollte einer der Männer sie unsittlich berühren, was sie abwehrte. Nur wenige Minuten nachdem sie weiter gegangen waren, waren sie bei einer Frau stehen geblieben, die kein Hijab trug. Sie wurde zuerst extrem laut zurechtgewiesen, ehe sie einige Schläge mit einem Gummiknüppel einstecken musste und mit der Drohung, dass ihr Schlimmeres passieren würde, sollte sie sich nicht endlich an die Regeln halten, fortgeschickt wurde. Alya eilte zu der Frau, die sich zusammengekrümmt an die Hauswand eines Gebäudes gelehnt hatte, als die Gruppe weiterzog.
»Ist alles in Ordnung?« Sie berührte die Fremde an der Schulter.
»Ja.« Die Frau richtete sich auf. Sie hatte Blutergüsse im Gesicht, die nicht von den gerade stattgefundenen Schlägen stammen konnten. Alya schluckte. Die Frau schob sie zur Seite und meinte: »Ich komme zurecht. Mich werden sie nicht unter eine Gardine stecken, eher sterbe ich.« Die Fremde richtete sich auf und ging humpelnd, aber erhobenen Hauptes, davon.
»Sie werden sie früher oder später töten, genau wie alle anderen, die sich nicht fügen. Sie haben sie schon öfter hier angesprochen und sie kommt immer wieder unangemessen gekleidet auf den Markt. Sie will es nicht lernen.« Ein Mann, der in der Nähe hinter seinem Gemüsestand stand, sprach das aus, was Alya fürchtete, aber nicht auszusprechen wagte. Sie blieb einen Augenblick an der Wand stehen, ehe sie die Schultern straffte und zurück auf die Straße trat. Mit etwas Obst und Gemüse machte sie sich schließlich auf den Heimweg. Allerdings kamen ihr noch mehrfach Uniformierte entgegen, die sie, so meinte sie zumindest, alle genau beäugten.
Froh, in ihren vier Wänden angekommen zu sein, stellte sie den Einkauf auf ihrer kleinen Küchenzeile ab und sank nur Augenblicke später auf ihren alten Sessel. Ihr Handy in die Hand nehmend, scrollte sie durch die eingegangenen Mails. Ihre Freunde, die vor kurzem das Land verlassen hatten, erzählten ihr immer wieder, wie angenehm das Leben nun war. Sie hatten Wohnungen bekommen und fast alle hatten Arbeit gefunden. Sie sorgten sich um sie und wollten sie davon überzeugen, Kabul und Afghanistan den Rücken zuzukehren. Bisher hatte Alya abgelehnt und auf die Menschen hingewiesen, die hier ihre Hilfe benötigten. Sie wollte sie nicht im Stich lassen. Allerdings gab es immer wieder Momente, in denen sie an ihrem Plan zu zweifeln begann. An denen sie tatsächlich mit dem Gedanken spielte, einen Mann zu heiraten, der ihr erlaubte, ihrer Arbeit weiterhin nachgehen zu können. Aber wie sollte sie ihn kennenlernen? Und wo? Ob sie wollte oder nicht, aber sie ging nicht mehr gerne raus. Die Cafés, in denen man sich treffen konnte, gingen immer mehr dazu über, nur noch Männer oder Frauen in Begleitung hineinzulassen. Nach dem Vorfall auf dem Markt wuchsen ihre Zweifel weiter. Aber wie könnte sie Kabul und Afghanistan verlassen? Konnte sie einfach so ein Flugticket kaufen? Selbst wenn sie es sich leisten könnte, zweifelte sie daran, dass es funktionierte. Wahrscheinlich würde man sie an der Ausreise hindern. Unter anderem, weil sie eine Frau war.
2.
Schwer ausatmend lehnte Derrin sich auf seinem Stuhl zurück und sah dem Mann nach, der nun mit angespannter Körperhaltung, aber schweigend, aus dem geschäftigen Großraumbüro ging. Vor wenigen Minuten noch hatte der Mann vor Wut getobt und geschrien und Derrin war es schwergefallen, ihn zu beruhigen.
»Ich sag ja, einige haben eine komische Einstellung«, erklärte Michelle ihm, die einen Schreibtisch weiter saß. Die rothaarige Mittfünfzigerin beherrschte mehr Sprachen als er und war seine erste Ansprechpartnerin gewesen, als er hier angefangen hatte. Aber so gut sie auch jede Menge Sprachen beherrschte, so sehr fehlten ihr zwischenmenschliche Gefühle. Sie war ihren Kollegen und Klienten gegenüber ein eiskalter Klotz. Persönliche Schicksale interessierten sie nicht. Auch wenn Derrin diese Einstellung aus Behördensicht nachvollziehen konnte, war es menschlich für ihn in einigen Fällen nur schwer auszuhalten.
Seit die letzten Soldaten aus Afghanistan zurückgekehrt waren, schob er in seinem Büro Überstunden. Die afghanischen Flüchtlinge, die es in die Staaten geschafft hatten, benötigten Unterstützung bei allerlei Dingen. Und immer wieder verzweifelten sie an den Formularen, die sie ausfüllen sollten, es aufgrund sprachlicher Unzulänglichkeiten jedoch nicht konnten. Dann kamen sie hier her und baten um Hilfe. Er hatte in den letzten Monaten viele Landsleute kennengelernt. Die meisten sprachen zumindest gebrochen Englisch und hatten nur Probleme mit den Formulierungen der Unterlagen. Ab und an kam auch er ins Straucheln und fragte sich, warum man einfachste Dinge so kompliziert abfragen musste. Der Mann, hinter dem nun die Tür ins Schloss fiel, war allerdings einer der wenigen, die er lieber in Afghanistan sehen würde. Er forderte eine andere Wohnung und eine Arbeit. Beides Dinge, die Derrin nicht liefern konnte, weil weder er noch seine Kollegen dafür zuständig waren. Sie waren Übersetzer und boten seit des Abzugs explizite Hilfe beim Stellen von Anträgen und Ähnlichem an. Der Mann gerade hatte ihm erzählt, dass er zwei Jahre für die Amerikaner gearbeitet hatte. Was genau er gemacht hatte, hatte sich Derrin jedoch nicht erschlossen. Erst hatte er gesagt, er sei Dolmetscher gewesen, als Derrin dann mit ihm auf Englisch hatte kommunizieren wollen, hatte er kein Wort verstanden und behauptet, dass er Fahrer gewesen wäre. Als Derrin auch dort aus reiner Neugier und nicht, weil er diese Fragen stellen musste, nachgefragt hatte, waren sie innerhalb weniger Sätze bei politischen Themen und der fehlenden vernünftigen Unterkunft und Arbeit gelandet. Es war Derrin nur schwer gelungen, den Mann zu beruhigen und eine Eskalation hier im Büro zu verhindern. Sie hatten einen Sicherheitsdienst, den sie aber nur in den äußersten Notfällen hinzuzogen, da es meist in Gegenwart von Uniformierten noch schlimmer wurde. Dann waren da nicht mehr nur die Wut wegen der schwierigen Formulare und die Verzweiflung, die aufgrund der Sprachprobleme vorhanden war. Wenn Uniformierte auftauchten, bekamen viele der Antragsteller Angst und dunkle Erinnerungen kamen hoch. Deswegen bemühte sich Derrin, möglichst deeskalierend zu handeln. Auch dieses Mal war es ihm gelungen und doch hatte er kein gutes Gefühl. Irgendetwas war anders an diesem Mann, er konnte es jedoch einfach nicht bestimmen.
»Schreib den Namen auf die Liste und lass ihn prüfen.« Sein Kollege löste ihn aus seinen Überlegungen. Sie hatten eine Liste, auf die sie die Menschen schrieben, die sie für gefährlich oder verdächtig hielten. Bisher hatte er noch niemanden darauf notiert, andere Kollegen hingegen schon. Derrin hatte Skrupel davor, Menschen wegen ihres aufgebrachten Verhaltens in dieser Behörde anzuschwärzen, da er sich noch sehr gut daran erinnern konnte, wie es ihm ergangen war, als er in die Staaten gekommen war. Die Umstände waren bei ihm zwar andere gewesen, aber er hatte sich in den Räumen der Behörden ebenfalls nie wohl gefühlt. Es hatte sich immer seltsam und manchmal auch beängstigend angefühlt. Vor allem in den Momenten, in denen man ihm hatte unterstellen wollen, einer terroristischen Vereinigung anzugehören oder mit keinen guten Absichten gekommen zu sein. Wie oft hatte er diese Vorwürfe gehört, wie oft hatte man ihn dazu verhört und ihm immer wieder unterstellt er würde lügen?
»Wenn du es nicht machst, mache ich es,« löste man ihn ein weiteres Mal aus den Gedanken.
»Ja, ja.« Er öffnete das angesprochene Dokument und gab die Daten des Mannes ein. Sollte er nun negativ auffallen oder gesucht werden, würde man ihn finden und vor allem würde man sehen, dass es hier Probleme gegeben hatte. Er grübelte, ob der gerade gemachte Schritt richtig war. Vielleicht war der Mann gar nicht gefährlich, sondern einfach nur sehr emotional. Womöglich hatte er Familienangehörige verloren oder in Afghanistan zurücklassen müssen. Unter Umständen war sein seltsames Verhalten wirklich nur ein emotionaler Ausnahmezustand gewesen. Auf der anderen Seite war nicht auszuschließen, dass er unter einem falschen Namen und mit anderen Absichten als angegeben hier war und tatsächlich eine gewisse Gefahr von ihm ausging.
»Derrin?« Eine Kollegin rief seinen Namen.
»Ja?« Er drehte sich zu Luisa, die nur wenige Tische von ihm entfernt saß. »Ich habe hier einen Mann, der sitzt in Kabul, spricht englisch, aber mit so schlechtem Akzent, dass ich ihn gerne an dich durchstellen würde, damit er in seiner Muttersprache kommunizieren kann. Ich weiß echt nicht was er will.« Die brünette Frau mit den blonden Strähnen zuckte hilflos mit den Schultern.
»Ok.« Er atmete durch. Nächster Kunde, nächstes Problem, rief er sich in Erinnerung und nahm das Gespräch nur wenige Atemzüge später entgegen.
»Akram.« Er meldete sich und bemerkte sofort die schlechte Verbindung.
»Tabesh Ashirin. Ich brauche Hilfe von USA«, erklärte er in Englisch und, durch das Rauschen in der Leitung, nur schwer verständlich. Derrin zweifelte daran, dass es ein Gespräch auf Paschtu oder Dari einfacher machen würde, und doch bot er es an, in der Hoffnung, dass der Mann in Afghanistan ihn trotz der schlechten Verbindung verstehen konnte.
Tabesh erklärte ihm in schnellen Worten auf Dari, dass er in der Kabuler Innenstadt einige Menschen vor den Taliban versteckte, die gesucht wurden. Nun war er auf der Suche nach Hilfe, um diese Menschen außer Landes zu bringen. Er war bereits bei anderen Behörden gescheitert, da ihm niemand sagen konnte, wie sie helfen könnten. Schließlich wollte keiner mehr zurück nach Afghanistan. Die Politiker hatten zugesagt, die Taliban unbehelligt zu lassen, auch wenn man sie immer wieder aufforderte, die Rechte der Menschen und vor allem die der Frauen zu beachten. Darum scherten sie sich aber immer weniger. Dieser Hilferuf führte Derrin vor Augen, wie schlimm die Lage sein musste. Aber wie er in diesem Fall helfen sollte, war ihm nicht klar. Es gab für ihn keine Möglichkeit zu unterstützen.
»Ich kann dir da nicht helfen, auch wenn ich das noch so gerne möchte. Wir sind hier nur Übersetzer. Mehr nicht«, erläuterte er Tabesh seine Aufgabe hier im Büro.
»Man hat mir gesagt, man stellt mich zu jemandem durch, der mich versteht«, erklärte Tabesh ihm nun, woraufhin Derrin Michelle mit einer Geste zu verstehen gab, dass sie zu ihm kommen sollte. Er hatte keine Ahnung, ob er dem Mann irgendwie helfen konnte oder an wen er ihn durchstellen oder weiterleiten sollte.
»Bleib bitte in der Leitung, ich bin gleich wieder für dich da.« Derrin schaltete Tabesh auf eine Warteschleife, als Michelle angekommen war, die ihn schon genervt angesehen hatte, als er ihre Anwesenheit eingefordert hatte.
»Was hat sie ihm versprochen?« Er musste sich zwingen ruhig zu bleiben, als er zu Luisa deutete, die unschuldig auf irgendetwas sah, das auf ihrem Schreibtisch lag. Wenn sie Tabesh wirklich gesagt hatte, dass er ihm helfen konnte, hatte sie gelogen. Etwas, das er nicht ausstehen konnte. Er hatte überhaupt nicht die Möglichkeiten, um jemanden aus Kabul zu retten. Und nun musste er diesem Mann klar machen, dass er ihm nicht helfen konnte, und dass es unter Umständen niemanden gab, der das konnte. Vielleicht hatte seine Kollegin ihn nur an ihn weitergeleitet, weil sie selbst sich nicht traute, ihm diese Dinge zu sagen. Aber warum musste er diesen Job nun machen? Er hasste es, schlechte Nachrichten zu überbringen. Selbst wenn er Mitgefühl empfand und die Situation verstehen konnte, fehlten ihm oft die passenden Worte.
»Ich habe ihm nur gesagt, dass ich ihn an dich weiterleite, weil du ihm besser helfen kannst«, rief Luisa ihm und Michelle nun zu, der er ansehen konnte, dass ihre Laune im Sekundentakt schlechter wurde. Wenn er Pech hatte, würde Michelle ihm gleich den Hörer aus der Hand reißen und auflegen. Ob Tabesh es dann nochmals bis zu ihm schaffen würde, war fraglich.
»So ein Blödsinn. Er will, dass wir Leute aus Kabul holen und glaubt nun, dass ich das kann.« Derrin musste sich zwingen, nicht laut zu werden. »Wo kam der Anruf überhaupt her?« Er hatte sich nicht erkundigt, wie Tabesh die Nummer der Behörde gefunden hatte.
»Er wurde von der Botschaft an uns verwiesen.«
»Welcher? Die afghanische hier ist geschlossen und die amerikanische in Afghanistan auch.« Michelle ranzte ihre Kollegin an. »Wir sind hier nicht die Wohlfahrt, merk dir das.«
»Islamabad, die haben ihm unsere Nummer gegeben. Die denken wohl, dass wir ihm irgendwie helfen können. Frei nach dem Motto ihr wart die Letzten in Kabul, dann kümmert euch um die, die ihr dagelassen habt«, erklärte Luisa nun, was Derrin durchatmen ließ und bei Michelle für ein Schnauben sorgte.
»Was soll ich machen?« Derrin hatte keine Ahnung, wie er weitermachen sollte. Tabesh war bei ihnen falsch, aber er zweifelte daran, dass es überhaupt jemanden gab, der sich zuständig fühlte. Wenn Tabesh ein hochrangiger Politiker wäre, würde es sicher Möglichkeiten geben. Aber selbst diese wären nicht von heute auf morgen umsetzbar, sondern würden aufgrund der bürokratischen Planungen Monate in Anspruch nehmen.
»Nimm seine Daten auf und schreib eine Mail an unseren Boss. Der kann morgen ja entscheiden, was wir machen. Dann versuchen wir, ihn anzurufen«, erklärte Michelle ihm mit einem befehlenden, unterkühlten Ton und wandte sich ab. Sie hatte sichtlich keine Lust darauf, sich noch länger mit dem Fall zu beschäftigen.
Derrin nickte. Ihr Vorschlag war die wohl einzige Lösung.
»Danke.« Er nickte ihr zu, auch wenn ihm bewusst war, dass er ihre Laune so nicht ändern konnte. Den Rest des Tages würde er ihr aus dem Weg gehen, was nicht schwer war, denn im Normalfall konnte er seine Klienten sehr gut alleine bearbeiten.
Er stellte Tabesh wieder auf seine Leitung, nahm seine Daten auf und erklärte, dass er sich melden würde, dies aber eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen würde. Tabesh war zwar nicht glücklich über seine Erklärung, schien aber verstanden zu haben, dass es von jetzt auf gleich keine Möglichkeit der Hilfe geben konnte.
Nach knappen zehn Minuten war das Gespräch beendet und sein restlicher Arbeitstag bestand aus der Übersetzung leicht verständlicher Schulformulare, worüber er glücklich war, denn er wäre nicht mehr in der Lage gewesen, eine Unterhaltung mit jemandem zu führen. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu Tabesh und dessen Schilderungen der Umstände in Kabul zurück.
Nach der Arbeit fuhr er zu einer Schießbahn in die Stadt, wo er mit Cayden Harrison und seiner Tochter Samira verabredet war. Seit er die offizielle Erlaubnis besaß, eine Waffe zu führen, traf er sich regelmäßig mit dem ehemaligen SEAL. Sie verbrachten einige Stunden auf der Schießbahn, wo der Soldat auch seine Tochter trainierte. Für ihn als gebürtigen Afghanen, der eine Weile unter dem Verdacht gestanden hatte, ein Terrorist zu sein, war es nicht einfach gewesen, auf legalem Weg an eine Waffe zu kommen. Schließlich hatte vor allem Cayden einige Kontakte spielen lassen. Und nun nutzte er die Stunden auf der Bahn, um seine Treffsicherheit und seinen Umgang mit der Waffe zu festigen.
Obwohl Derrin sich mit Waffe sicherer fühlen sollte, tat er es nicht. Ihm war klar, dass auch eine Pistole ihn wahrscheinlich nicht retten konnte, sollte man versuchen, ihn auszuschalten. Nach den ersten Stunden mit Cayden hatte Derrin oft darüber nachgedacht, nicht mehr zu trainieren, dann war ihm jedoch bewusst geworden, dass Cayden sein Nichtauftauchen mit Nathan besprechen würde. Nathan, Caydens jüngerer Bruder, war zeitgleich ein sehr enger Vertrauter und Freund von Derrin. Sie kannten sich seit Jahren und hatten sich mehr als einmal gegenseitig aus großen Schwierigkeiten befreit. Da Nathan seit einigen Monaten Vater von Zwillingen war, wollte Derrin dem Elitesoldaten nicht noch mehr Arbeit machen. Nathan würde ihn ins Kreuzverhör nehmen und nicht aufgeben, bis er die Antworten hatte, die Derrin nicht freiwillig geben würde. Ausreden oder irgendwelche Ausflüchte würde Nathan nicht dulden. All das würde zu schlechter Laune auf allen Seiten führen und darauf hatte er keine Lust. Außerdem wollte Derrin die Freundschaft nicht aufs Spiel setzen. Im Laufe der Zeit hatte sich dieses Treffen auf der Schießbahn zu einem festen Ritual in seinem Wochenablauf entwickelt und er genoss die Zeit. Er war fasziniert, mit welcher Gelassenheit und Routine Cayden seiner Adoptivtochter den Umgang mit Pistolen und seit kurzem auch mit Langwaffen beibrachte. In anderen Ländern würde Cayden sicherlich damit anecken, wenn er mit seiner Tochter auf einer Bahn halbautomatische Waffen abfeuerte, aber hier in den Staaten war es fast normal. Zudem schien die vierzehnjährige Samira ein gewisses Talent zu besitzen, denn ihre Trefferquote war so beachtlich, dass Derrin sie beneidete. Er konnte aber nicht abstreiten, dass sie beide mit Cayden den wohl besten Lehrmeister hatten, den man finden konnte. Dass Cayden neben seiner Arbeit im Sicherheitsdienst noch Zeit für das gemeinsame Training fand, war ein glücklicher Zufall.
»Was ist los mit dir? Du wirkst abwesend.« Cayden löste ihn aus seinen Gedanken und reichte ihm eine Coke, während sie an einem Tisch saßen und eigentlich ihre Trainingseinheit Revue passieren lassen wollten. Allerdings hatte bisher nur Samira geredet. Sie plauderte jedoch von Klassenkameraden und davon, wer wen aktuell besonders gerne mochte und dass sie einige Entscheidungen der Lehrer nicht teilen konnte. Auch ihr Training war bisher noch nicht Thema gewesen.
»Die Arbeit war anstrengend«, erklärte er seinem Sitznachbarn und war sich umgehend bewusst darüber, dass er zu allgemein geantwortet hatte, denn Cayden zog seine rechte Augenbraue nach oben. Der ehemalige SEAL hatte bemerkt, dass Derrin etwas beschäftigte.
»Das stört dich doch sonst auch nicht. Manchmal triffst du sogar besser, wenn du über deine Kollegen geschimpft hast«, erklärte Samira nun und traf den Nagel auf den Kopf. An diesen Tagen schämte er sich allerdings immer dafür, dass er seine Wut auf seine Kollegen auf die Fallscheiben projizierte, auch wenn er dann weit konzentrierter war. Schließlich würde er diesen Menschen nie etwas antun, abgesehen davon, dass er ihnen hin und wieder gerne die Meinung sagen würde, was er sich nicht immer traute.
»Also?« Cayden hatte sich vorgelehnt und musterte ihn mit forschendem Gesichtsausdruck, eine Erklärung erwartend.
»Ich hatte heute einen komischen Kunden und einen Anruf aus Kabul. Da will jemand, dass Leute aus Kabul geholt werden«, erzählte er, obwohl er laut seines Arbeitsvertrages nicht hätte darüber reden dürfen. Aber es gab ein paar Personen, mit denen er über seine Klienten sprach, weil er wusste, dass sie nichts weitertratschten.
»Und was war schlimmer? Der Komische oder der Anruf?« Caydens Augenbrauen schoben sich so sehr zusammen, dass zwischen ihnen eine Falte entstand.
»Eigentlich der Anruf«, gestand er, auch wenn der aufgebrachte Mann ihn ebenfalls noch beschäftigte und er sich fragte, ob dieser Mann vielleicht eine Gefahr für andere darstellte. Aber das Telefonat sorgte definitiv dafür, dass er mit seinen Gedanken immer wieder in sein Geburtsland gewandert war und sich heute schon mehrfach dabei erwischt hatte, wie er an seine Kindheit zurückgedacht hatte.
»Das wird bestimmt nicht der letzte Anruf dieser Art gewesen sein.« Caydens Gesichtsausdruck sprach Bände. Auch er war alles andere als glücklich mit dem, was in den letzten Monaten passiert war. Zumal die Berichte aus Afghanistan immer mehr in die Richtung tendierten, die sie alle befürchtet hatten: Mädchen sollten in reine Mädchenschulen, was nicht funktionierte, da weibliche Lehrkräfte fehlten und auch in Zukunft nicht auftauchen würden, da Frauen nicht mehr studieren sollten. Alle, die sich der westlichen Lebensart verschrieben oder angeschlossen hatte, lebten gefährlich. Es gab drakonische Bestrafungen, die auf offener Straße vollzogen wurden, um abzuschrecken. Derrin fürchtete, wie viele andere auch, dass das erst der Anfang war. Das Schlimmste war, dass sie alle nichts unternehmen konnten, weil die Politiker der festen Überzeugung waren, dass man mit den Taliban reden konnte und dass sich doch noch etwas ändern würde. Derrin war sich sicher, dass nichts passieren würde. Die Taliban würden dort weitermachen, wo sie aufgehört hatten, da ihr Glaube ihnen sagte, dass nur sie richtig handelten.
»Ich verstehe nicht, warum man die nicht einfach holen kann.« In Samiras Stimme war das zu hören, was Derrin fühlte. Riesengroßer Frust über die Zustände in Afghanistan und darüber, dass die Menschen dort keine Hilfe bekamen.
»Ich habe dir doch schon erklärt, dass es Abkommen gibt, nach denen sich niemand mehr in die dortige Politik einmischen darf«, erwiderte Cayden seiner Tochter mit harschem Ton.
»Die haben versprochen, sich an Regeln zu halten, aber sie machen es nicht. Dann können wir doch die holen, die von da wegwollen.« Samira beugte sich vor. »Mich hast du auch mitgenommen.« Vorwurfsvoll sah sie ihren Adoptivvater an. »Und nun sag nicht, dass das was anderes gewesen sei«, legte sie nach und streute so bewusst Salz in eine Wunde bei Cayden.
»Es war anders. Du hattest keine Familie mehr.«
Derrin konnte sehen wie Cayden in diesen Sekunden um Fassung rang und versuchte, nicht die Nerven zu verlieren.
»Das weißt du nicht, vielleicht habe ich irgendwo Verwandte, von denen wir nichts wissen.« In den Augen der Teenagerin tauchte ein herausforderndes Funkeln auf. Sie war bereit für einen verbalen Schlagabtausch über menschliche Ungerechtigkeiten.
»Samira, lass es. Das ist ein Thema, das nicht hier besprochen werden muss und über das wir uns im Übrigen schon oft genug unterhalten haben«, rügte Cayden seine Tochter.
»Ich geh auf die Toilette.« Das Mädchen stand mit einem tiefen Ausatmen auf und warf Cayden einen Blick zu, den Derrin nicht deuten konnte.
Er bemerkte, dass Samira nicht in der Lage war, ihre schlechte Laune in ihrer Stimme zu unterdrücken und auch die Art, wie sie nun den Tisch verließ, bedurfte keiner Erklärung mehr.
»Entschuldige.« Cayden sprach das Wort wahrscheinlich aus einem Reflex heraus aus, auf alle Fälle sah Derrin nichts, weswegen er sich entschuldigen musste. Samira hatte nur Tatsachen ausgesprochen. Vielleicht war sie dabei etwas emotionaler und explosiver gewesen als man es womöglich sein sollte, aber sie war jung und hatte in seinen Augen das Recht, so zu reagieren.
»Sie hat doch recht«, legte er nach wenigen Sekunden, als sie außer Hörweite war, nach.
»Du planst doch nichts Unüberlegtes? Denk an Nathan. Der bringt dich um. Und wenn nicht er, dann Harper. Die killt euch gleich beide, wenn ihr …«
»Nein, nein.« Er winkte ab. »Ich bin doch nicht lebensmüde.« Er hatte nicht eine Sekunde daran gedacht, selbst etwas zu unternehmen oder gar Nathan um Hilfe zu bitten. In Afghanistan sollte er auch ohne die aktuelle Lage besser nicht sein.
»Ok, danke. Einen Bruder, der vor Sorge die Wände hochgeht, brauche ich aktuell nicht.« Cayden nahm einen Schluck seiner Cola.
3.
»Raha, was um alles in der Welt ist dir passiert?« Alya rannte über den Flur des Krankenhauses zu ihrer Kollegin. Noch vor wenigen Minuten hatte sie darüber nachgedacht, Raha anzurufen, da diese sich anscheinend verspätet hatte. Jetzt stützte sich die Dreiundfünfzigjährige schweratmend an der Wand des Ganges ab, von dem die Türen in die Zimmer ihrer Patienten führten.
»Nichts, alles gut.« Die dunkelhaarige Frau mit dem blauen Kopftuch senkte den Kopf noch weiter, als Alya sie erreicht hatte.
»Sieh mich an!« Harsch forderte sie ihre ältere Kollegin auf, sie anzuschauen. »Raha, bitte«, legte sie nun leiser nach. Seufzend, Alyas Blick ausweichend und ihre Hand von der Wand nehmend, hob Raha den Kopf. Sie hatte ein blaues Auge und Schrammen auf der Wange.
»Wer war das?« Alya wollte ihre Kollegin in ein Behandlungszimmer führen, damit sie die vielen kleinen Wunden versorgen konnte.
»Es geht schon.« Mit einer Handbewegung lehnte Raha die angebotene Hilfe ab. »Ich muss eh gleich in die Verwaltung«, erklärte sie mit fester Stimme und entschlossenem Blick.
Es schnürte Alya die Luft ab. Diesen Satz hatte sie in den letzten Tagen nun schon von drei Kolleginnen und Krankenschwestern gehört. Und keine von ihnen hatte sie nach dem Besuch bei der Verwaltung wiedergesehen. Sie waren zu Beginn ihrer Schichten gekommen, dann nach unten gegangen und nicht wieder aufgetaucht. Alya hatte gehört, dass die Frauen gekündigt hatten. Das Schlimmste war, dass sie zum Teil von ihren Männern und Familien zu diesem Schritt gezwungen worden waren. Diese Frauen waren alle Anfang fünfzig oder älter gewesen. Frauen, die ihre Arbeit von heute auf morgen niedergelegt hatten. Bei den Jüngeren vernahm sie die leise Sorge, dass irgendwann jemand kommen könnte, der auch sie zu diesem Schritt zwingen würde.
»Du kannst doch nicht alles hinschmeißen, wir brauchen dich doch hier.« Eine der Pflegerinnen, die ebenfalls zu ihnen gekommen war, wollte Raha ins Gewissen reden. Jede Ärztin, jede Schwester, die nicht mehr zur Arbeit kam, war ein riesiger Verlust. Es bedeutete mehr Arbeit und eine große Mehrbelastung, die sie irgendwann nicht mehr stemmen konnten. Die Folge wäre, dass sie irgendwann nicht mehr alle Hilfesuchenden behandeln konnten. Und da der männliche Anteil der Ärzte dann noch höher wäre, würden dann vor allem die Frauen wegbleiben, da sie sich lieber von Ärztinnen versorgen ließen.
»Mein Mann wird für mich und die Kinder sorgen«, erklärte Raha mit heiserer Stimme.
Alya wusste, dass Raha Kinder hatte. Die jüngsten waren ein zwölf- und ein dreizehnjähriges Mädchen, für die sie sich immer ein selbstbestimmtes Leben gewünscht hatte. Sie spürte, wie ihr Puls in die Höhe kletterte und knirschte mit den Zähnen. All das warf die Kollegin gerade weg. Sie würde die Mädchen zwangsverheiraten müssen, was sie vor kurzem noch verachtet hatte.
»Ihr müsst euch keine Sorgen um mich machen.«
»Nein, schon klar, er wird dich nie wieder verprügeln, und deine beiden Mädchen werden sicher wie Rohdiamanten behandelt, wenn man sie zwangsverheiratet. Das ist doch nicht dein Ernst …«, fuhr Alya Raha laut an. »Wir haben doch ein Recht auf ein Leben mit einem Job, in dem wir glücklich sind und in dem wir anderen helfen können. Deine Mädchen sollen doch zur Schule gehen…« Sie rang nach Luft, da die Gefühle sie überrollten und erdrücken wollten. Innerlich schrie eine Stimme sie an, sie möge endlich aus diesem Alptraum erwachen, dass alles wieder normal werden musste.
»Hör auf. Sie haben doch schon alles gelernt, was sie wissen müssen. Sie müssen sich doch nicht wie ich ewig abrackern für einen Hungerlohn. Wenn sie einen treusorgenden Ehemann bekommen, haben sie ein gutes Leben.« Raha fuhr sie in einer Art an, die sie von ihr nicht kannte. Alya hatte sie bis vor wenigen Sekunden für weltoffen gehalten und nicht damit gerechnet, dass sie sich dem Mittelalter zuwenden könnte, wie es die Taliban forderten. Wobei Frauen selbst im Mittelalter mehr Rechte gehabt hatten. Es konnte doch keine Frau wollen, so fremdbestimmt zu leben und nur verschleiert vor die Tür gehen zu dürfen.
»Willst du mich auf den Arm nehmen? Glaubst du gerade selbst, was du da sagst? Hast du nicht vor ein paar Monaten noch gesagt, dass du dir vorstellen kannst, dass deine Kleine mal studiert?« Alya lachte auf, obwohl ihr nach weinen und schreien zumute war und es sie innerlich in Stücke zu sprengen drohte. »Das kannst du nicht ernst meinen.« Ihre Stimme wollte brechen. Sie wusste, dass sie Raha nicht von ihrem Vorhaben abhalten konnte. Deren Angst vor den männlichen Familienangehörigen und ihrem Ehemann war einfach zu groß. Sie würde erneut nicht nur eine Kollegin, sondern auch eine Freundin verlieren. Als sie spürte, dass sie ihre aufsteigenden Tränen nicht mehr zurückhalten konnte, wandte sie sich ab und eilte in das Schwesternzimmer. Sie warf die Tür mit solcher Wucht hinter sich ins Schloss, dass das Krachen durch den Gang hallte. Sie lief bis zum Fenster und presste sich die Hände vor die Augen. Die Tränen konnte sie so allerdings nicht unterdrücken. Die Mischung aus Wut und Verzweiflung ließ sie aufschluchzen.
Das durfte alles nicht wahr sein.
»Alya, wir brauchen dich.« Ein Kollege betrat den Raum, als sie gerade dabei war, die Fassung wiederzuerlangen.
»Alles ok?«
Sie war froh, dass er in der Tür stehen geblieben war und nicht näherkam. Er sollte sie nicht weinen sehen. Schluckend strich sie sich über die Augen und versuchte, im Fenster ihr Spiegelbild zu erahnen. Waren ihre Augen rotgeweint? Konnte man ihre Wut und Verzweiflung noch in ihrer Mimik erkennen?
»Ja.« Sie atmete durch, als sie sich dem jungen Mann zuwandte, der ihr im selben Moment von einem medizinischen Notfall berichtete. Augenblicklich vergaß sie die Wut auf Raha, denn in diesem Moment wurde sie von jemand anderem gebraucht. Auf dem Weg ins Behandlungszimmer holte sie ein paar Mal tief Luft und versuchte, nicht mehr an Raha zu denken.
Stunden später, lange nach ihrem eigentlichen Schichtende, machte sie sich auf den Heimweg. Obwohl sie noch etwas zu essen einkaufen müsste, ging sie direkt nach Hause. Sie war zu müde und erschöpft. Ihr einziger Gedanke galt ihrem Bett. Solche Tage hatte es in ihrer Laufbahn schon immer gegeben. Tage an denen die Notfälle sich die Klinke in die Hand gaben und keine Zeit mehr für Pausen war. Eine Kleinigkeit würde sie bestimmt noch in ihrer Wohnung finden, und wenn es nur Kekse wären. Der Heimweg war für sie immer der Moment des Tages, in dem sie sich von den Schicksalen ihrer Patienten löste, um diese nicht mit in ihren Feierabend zu nehmen. Ein Prozess, den sie sich hatte antrainieren müssen, denn nicht immer war es leicht. Plötzlich wurde sie von der Seite gepackt und fand sich zwischen vier Männern wieder.
»Achte auf dein Kopftuch.« Der Mann, der sie festhielt, schnauzte sie an. Der Geruch, der ihr aus dem Mund voller Zahnstummel entgegenströmte, war abartig. Ihr Versuch, sich von ihm zu lösen, scheiterte an den anderen Männern, die sie an den Armen hielten und begrabschten. Obwohl immer wieder Passanten, unter denen ebenfalls Frauen waren, an ihr vorbeigingen, kam niemand ihr zu Hilfe. Sie alle machten einen Bogen um sie und die Männer, die immer aufdringlicher wurden. Dann riss einer ihr Kopftuch von ihrem Kopf und warf es auf den Boden.
»Heb es auf.« Harsch befahl der Mann ihr, das bunte Tuch vom Gehweg aufzuheben.
»Los!« Ein anderer zückte eine Pistole und deutete mit dem Lauf auf den Boden. »Mach!«, schrie er sie an.
Die Angst, die in ihr emporkroch, verteilte sich in jede ihrer Fasern, während sie einen Schritt nach vorne machte und sich schließlich bückte. Bei jedem Herzschlag fürchtete sie, dass man sie auf offener Straße erschießen würde. Einfach so, ohne einen wirklichen Grund. Einfach nur, weil sie eine Frau war und einige Haarsträhnen aus ihrem Kopftuch herausgerutscht waren. Eiskalt griff die Angst nach ihr. Sie fasste nach dem Seidentuch, welches sie vor vielen Jahren gekauft hatte, da ihr das Muster so gut gefallen hatte. Damals hätte sie nicht damit gerechnet, dass sie es einmal als Kopftuch tragen würde. Ihre Finger berührten den weichen Stoff. Fest umklammerte sie das Tuch, als sie sich wieder aufrichtete. Würde man sie gleich gehen lassen oder weiter erniedrigen?
»Verschwinde! Wenn man dich noch einmal so rumlaufen sieht, wird es nicht so harmlos ablaufen.« Der ihr gegenüberstehende Mann gab ihr eine schallende Ohrfeige. Alya biss die Zähne aufeinander, um nicht in Tränen auszubrechen. Vor diesem Tyrannen würde sie nicht einbrechen. Der brennende Schmerz verteilte sich über ihr Gesicht, als sie sich abwandte. Langsam und erhobenen Hauptes machte sie sich auf ihren Heimweg. Die gebrüllten Hinweise der Männer ihr Tuch betreffend beachtete sie nicht wirklich. Während sie ging, legte sie sich das Tuch halbherzig über den Kopf, verknotete es provisorisch unter dem Kinn und schob einzelne Strähnen darunter. Selbst der Gedanke an die Gefahr, dass ihre jetzige Nachlässigkeit sie ihr Leben kosten könnte, klammerte sie aus. Diese Männer sollten sehen, dass sie ihr keine Angst machen konnten. Tief in ihrem Inneren jedoch hämmerte ihr Herz panisch und sie verspürte den Drang, zu rennen. Doch sie schaffte es, zumindest äußerlich, unbeeindruckt weiterzugehen.
Als endlich die Tür ihrer Wohnung hinter ihr ins Schloss fiel, lehnte sie sich dagegen und ließ den Tränen freien Lauf. Noch nie in ihrem Leben hatte sie eine solche Angst verspürt. Noch nie hatte sie so sehr um ihr Leben gefürchtet. Je mehr sie darüber nachdachte, desto schlimmer wurden die Weinkrämpfe. Diese Männer hätten sie töten können.