Team I.A.T.F 2

Jagd auf alte Freunde und neue Feinde Leseprobe

1.

Irgendwo in der Nähe des 

Nationalpark Šumava 

Leise schlich sie ins Zimmer, als die Tür fast lautlos hinter ihr ins Schloss fiel. Sie lehnte sich für eine Sekunde dagegen und ließ ihren angehaltenen Atem durch die Zähne entweichen. 

Sich eine kleine Taschenlampe zwischen die Zähne geklemmt, ging sie auf den aus teurem Holz gefertigten Schreibtisch zu. Der kleine Lichtkegel der Lampe erlaubte ihr einen flüchtigen Blick über die Papiere, die ordentlich gestapelt die dunkle Tischplatte bedeckten.

Irgendwo in den Zeilen aus scheinbar unwichtigen Daten musste das sein, was sie suchte. Ein kleiner Hinweis – irgendetwas, womit sie ihre Arbeit abschließen konnte. Frustriert darüber, dass der erste Stapel keine Informationen für sie barg, schweifte ihr Blick über einen weiteren. 

Nichts.

Irgendwo musste etwas stehen.

Irgendetwas.

Und wenn es nur der kleinste Hinweis wäre. 

Seit Wochen, nein, schon seit Monaten war sie Kabir auf der Spur, hatte ihn umgarnt, gar beinahe verführt. Er war mit seinen 39 Jahren, seinen schulterlangen und aalglatt an den Kopf gegelten Haaren auf keinen Fall der Traum einer jeden Frau. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es überhaupt eine Frau gab, die ihn interessant fand. Es gab sicher viele, die ihn des Geldes wegen bezirzten, aber ganz sicher keine, die ihn wirklich attraktiv fand.

Sie schüttelte den Gedanken ab, dass sie um ein Haar mit dem Kopf einer Waffenschieberbande im Bett gelandet wäre. Mehr als acht Monate hatte sie nun schon bei ihm verbracht, jeden Tag in der Angst, dass er entdecken könnte, wer sie wirklich war.

Leise zog sie eine Schublade des Schreibtisches auf. 

Wieder nur Papiere mit unwichtigen, oberflächlichen Daten, die sich in der Schublade türmten. Liebend gerne hätte sie jetzt laut geflucht, um ihrem Frust Luft zu machen. Egal, wo sie in den letzten Wochen gesucht hatte, in welche Schränke sie heimlich geschaut hatte oder wie oft sie versucht hatte, Kabir etwas zu entlocken, sie war kläglich gescheitert. Der letzte Ausweg war nun sein Büro, welches normalerweise abgeschlossen war. Nur heute schien er es entweder vergessen zu haben oder er würde in wenigen Sekunden hinter ihr auftauchen. Sollte das geschehen, müsste sie sich schnellstens eine gute Ausrede einfallen lassen, um zu erklären, was sie mitten in der Nacht an seinem Schreibtisch suchte.

Mit angehaltenem Atem öffnete sie die nächste Schublade, und das Erste, was sie zu sehen bekam, war eine Goldkette. Sie schob das kalte Edelmetall angewidert zur Seite. Darunter ein leeres Blatt. Ihre Neugier war geweckt. Leise legte sie Kette und Papier auf den Schreibtisch und zog einen Stapel weiterer Unterlagen aus der Schublade. Sie überflog die Daten und stellte fest, dass es genau das war, was sie benötigte. Aus den vier Seiten ging hervor, dass Kabir sowohl aus Russland, von einem ihr unbekannten Mann, als auch aus dem Iran Geld bezogen hatte. Das Wichtigste aber waren die Angaben über die Waffen, die im Laufe der Woche geliefert werden sollten.

Neben Unmengen von Feuerwaffen standen auch Flugabwehrraketen und der Deckname von Asim Faruk Damanis in den Unterlagen. Ein Schauer überkam sie, als sie daran dachte, was man mit diesen Waffen anrichten könnte.

Schon zu viele Unschuldige waren gestorben, weil sie Kabir nicht fassen konnten. Nun hielt sie die Beweise in der Hand, die sie so dringend benötigte. Wie es schien, fühlte Kabir sich sicher, sonst hätte er die Papiere nicht einfach in seiner Schublade liegen lassen. Sie wusste, dass es im Haus einen riesigen Tresor gab. Wären die Papiere dort eingeschlossen gewesen, hätte sie keine Chance gehabt, sie je in die Hände zu bekommen.

Schnell machte sie mit ihrem Handy Fotos von den Dokumenten, um die Beweise zu sichern, und legte sie zurück. Leise bewegte sie sich auf die weiße Tür zu und drückte die vergoldete Klinke herunter. Langsam schob sie die Tür einen Spaltbreit auf. Im Flur war es genauso dunkel wie im Zimmer. Lautlos verließ sie das Büro und zog die Tür hinter sich zu.

So leise sie konnte, schlich sie den Flur entlang. Auf ihrer linken Seite reihten sich einige Türen aneinander und auf der rechten kam sie an großen Fenstern vorbei, die mit schweren braunen Vorhängen bedeckt waren. Als sie das riesige Foyer betrat, sah sie sich um. Die große Haustür war geschlossen und durch die Fenster an den Seiten konnte sie nur die Dunkelheit der Nacht erkennen. Im Foyer selbst brannten zwei kleine Lampen, die gerade so viel Licht abgaben, dass man die Umrisse der Gegenstände erkennen konnte, die auf den Tischen standen und an den Wänden hingen. Der Weg die Treppe hinauf zur Empore war dunkel. Erleichtert atmete sie aus. Niemand hatte gemerkt, dass sie ihr Zimmer verlassen hatte. Leise ging sie die Stufen hinauf. Was würde sie dafür geben, wieder daheim zu sein und nicht Tag und Nacht mit einem Verbrecher wie Kabir Versteck spielen zu müssen.

Sie hatte es sich selbst so ausgesucht, redete sie sich ein. Als vor zehn Monaten ihr Abteilungsleiter bei der CIA auf sie zugekommen war, hatte sie sich sofort bereit erklärt, verdeckt zu ermitteln.

Zwei Monate hatte es gedauert, bis Kabir angebissen und sie zu sich geholt hatte. Nun saß sie in diesem goldenen Käfig und versuchte, den wohl größten Waffenhändler Europas zu überführen, ohne dass der es merkte.

Sollte er heraus bekommen, wer sie wirklich war, hätte sie sicher keine Chance. Erst vor einigen Tagen war einer seiner Sicherheitsleute spurlos verschwunden. Im Augenblick kam noch das Problem hinzu, dass sie scheinbar einen neuen Chef bekommen hatte, ohne davon zu wissen.

Bei ihrem letzten Anruf in die USA war es ein Captain Paul Redman gewesen, der sich gemeldet hatte. Er hatte ihr etwas davon erzählt, dass er auf der Suche nach Damanis sei und ihre Ermittlungen ab sofort über ihn laufen würden. Im Hintergrund hatte sie lautes Gebrüll vernommen und schnell festgestellt, dass er Captain bei der Navy war.

Das hatte ihr gerade noch gefehlt.

Auf die Frage hin, ob er auch dafür sorgen könnte, dass sie im Notfall schnell zurück in die USA käme, hatte er nur gelacht und gemeint: »Sie glauben nicht, wie schnell wir Sie da rausholen können.« 

Genervt hatte sie das Gespräch beendet und begonnen, einen eigenen Fluchtplan zu schmieden.

Eine Tür öffnete sich und sie zuckte erschrocken zusammen.

»Jen, was machst du mitten in der Nacht im Flur?« Kabir kam lächelnd auf sie zu. Er strich mit seinen Fingern erst durch ihr Haar und dann an ihrer nackten Schulter entlang. Sie setzte ein Lächeln auf.

Wie sie diesen Namen hasste.

»Ich konnte nicht schlafen und wollte frische Luft schnappen.«

Wie sie dieses Spiel hasste.

»Ach so.« Er stand direkt hinter ihr und seine Finger strichen über ihren Nacken. Angestrengt versuchte sie, ihren Ekel vor diesem Mann zu unterdrücken.

»Du kannst also nicht schlafen.« Er ging um sie herum und blieb neben ihr stehen. Die Art, wie er die Worte aussprach, machte ihr Angst.

»Ja.« Mit einem verführerischen Blick drehte sie sich zu ihm um.

»Ich denke, es wäre besser, wenn du nachts nicht im Haus umherläufst, Jen.« Wieder hatten seine Worte einen seltsamen Unterton.

»Sicher.« Sie versuchte so natürlich zu wirken, wie sie konnte, als sie ihm einen Kuss auf die Stirn gab.

»Gute Nacht.« Ihr Herz schlug bis zum Hals, als sie sich umdrehte und den kurzen Flur entlang zu ihrem Zimmer ging. So gelassen wie möglich drückte sie die Klinke hinunter und öffnete die Tür. Als diese hinter ihr zu fiel, lehnte sie sich dagegen und schloss die Augen.

Das war knapp – oder war es schon gelaufen?

Warum klang Kabir so seltsam?

Oder hatte sie sich das alles nur eingebildet?

Sie schaltete das Licht ein, ging langsam auf das riesige Bett zu und setzte sich. Ihre Hände zitterten. Irgendetwas war faul.

Plötzlich hörte sie Stimmen. Verzweifelt versuchte sie zu verstehen, was sie sagten. Eine davon war eindeutig die von Kabir, die andere hatte sie noch nie gehört. Angestrengt lauschte sie. Es war schwer auch nur ein Wort zu verstehen, da sowohl Wände als auch Türen in dem alten Anwesen sehr dick waren.

»Ich hab dir ja schon immer gesagt, an der ist was faul.«

»Ach, du nun wieder. Wenn du recht hättest, wäre sie nicht schon so lange hier.« Kabir schien genervt zu sein.

»Glaube mir. Schau dir das Bild doch mal an.«

»Scher dich raus, ich kümmere mich selber drum.«

Sie schluckte und lauschte weiter dem Geschehen, aber außer einer zufallenden Tür passierte nichts. Sie musste weg und das ganz schnell! Aber wie?

Sie konnte schlecht ihr Handy nehmen und Redman anrufen, da es sicher verwanzt war. Das letzte Mal hatte sie ein Telefon in der Stadt benutzt – um genau zu sein, bei ihrem Friseur. Das war der einzige Ort, an den Kabir sie seit einiger Zeit alleine gehen ließ.2.

Sollte Nikolaj Recht haben?

Kabir stand an seinem Schreibtisch und starrte die Unterlagen an, die sein Sicherheitsmann ihm gebracht hatte.

Sollte seine Gespielin wirklich eine Spionin sein? 

Sollte er so blind gewesen sein, dass er es nicht bemerkt hatte?

Er konnte es sich nicht vorstellen. Seit Monaten las er ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Sollte sie ihm alles nur vorgespielt haben? 

All die romantischen Abende, an denen er vergessen konnte, wie viel von dem Erfolg seiner Geschäfte abhing?

Nie hatte er sie unsittlich berührt, das ließ sein Glaube nicht zu, nicht vor einer Hochzeit. Immer wieder fiel sein Blick auf die Papiere. Es schien, als sei Jens Ausweis nicht echt. Es machte sogar den Anschein, als gäbe es sie nicht. Vielleicht hatte das alles auch einen anderen Grund.

Er beschloss, später weiter darüber nachzudenken, und nahm das Telefon in die Hand. Er musste nicht lange warten, bis sich eine tiefe dunkle Stimme meldete.

»Es wird auch Zeit, dass du dich meldest.«

»Ja, ab und an dauert es eine Weile, bis ich alles zusammen habe.« Kabir begann im Zimmer auf und ab zu laufen, immer wieder strich er unruhig mit seinen Fingern über Bücher, die in einem Regal standen.

»Wann kannst du liefern?«

»Frühestens in vier Wochen. Eher geht nicht.«

»Vier Wochen? Hast du eine Ahnung, wie es hier aussieht? Vor knapp drei Wochen habe ich über 60 Männer verloren, weil die Amerikaner wieder meinten, einen auf Held machen zu müssen. Ich brauche die Ware sofort!«

»Tut mir leid, Faruk, aber ich hab noch mehr Kunden! Ich kann nicht überall gleichzeitig liefern. Es ist eh schon schwer genug, alles zu regeln.« Kabir war genervt. Er kannte Faruk schon lange, aber das hieß nicht, dass er Vorrang vor seinen anderen Kunden hatte.

»Dann aber so schnell du kannst! Sonst suche ich mir jemand anders!«

Bevor Kabir antworten konnte, hatte Faruk aufgelegt. 

Er schnaubte. 

Sollte Faruk doch versuchen, jemand anderen zu finden. Es würde ihm nicht gelingen. Alle Waffen des Schwarzmarktes gingen durch seine Hände. Letzten Endes war er es, der entschied, wo gerade Krieg war und wo nicht. Und das Schönste daran war, niemand wusste davon.

Mit einem kalten Grinsen im Gesicht war er wieder an seinem Schreibtisch angelangt. Das Lächeln verschwand, als er erneut die Papiere betrachtete, auf denen schwarz auf weiß stand, dass die Identität seiner Geliebten falsch sein sollte. 

3.

Große graugrüne Augen starrten sie aus dem Spiegel an. Eine Träne glitzerte in ihnen. Die roten Haare waren nach hinten zusammengeflochten.

Nein, sie musste ruhig bleiben und ihren Plan abarbeiten. Jetzt war nicht der richtige Moment, um die Fassung zu verlieren. Zusammenbrechen konnte sie immer noch.

Sie drehte sich um und betrachtete das Zimmer, das sie seit Monaten bewohnte. Das große Bett mit seinen goldenen Knöpfen an den Bettpfosten, welches wirkte, als sei es einem Märchen entsprungen. Die schweren Vorhänge, die sie zur Seite gezogen hatte, gaben ihr den Blick auf den riesigen Wald frei, der hinter dem Anwesen lag. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Wäre ihre Lage nicht so verzwickt, wäre das hier das Haus ihrer Kindheitsträume.

Ein Platz, um sich vor den Eltern zu verstecken, sich Tagträumen hinzugeben, mit Freunden zu spielen – und vielleicht auch ein Platz, um einen Prinzen zu treffen. Nur schweren Herzens ließ sie ihren Blick weiter über die noblen Möbel im Zimmer wandern. Das weiße Ledersofa mit dem Mahagonitisch davor, die teuren Bilder an den Wänden und der Spiegel mit den geschliffenen Kanten, in dem sie sich sah.

Wen sah sie? 

Jen, die Geliebte eines Waffenschiebers, die sich von ihm beschenken ließ? 

Kleider, Schmuck, Restaurantbesuche, Theater, alles bezahlt vom Lohn des Terrors? 

Oder sah sie die CIA-Agentin Liv Andrews, die sich vor Monaten geschworen hatte, Kabir dingfest zu machen?

Sie strich sich die Strähne hinters Ohr, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, und holte noch einmal tief Luft, bevor sie zur Tür trat.

Wieder setzte sie das Lächeln auf, das sie so lange geübt hatte.

Die gesamte Nacht hatte sie in dem dunklen Zimmer wach gelegen und überlegt, wie sie vorgehen sollte. Immer wieder hatte sie Optionen hin und her gewälzt und war zu dem Entschluss gekommen, dass es nur einen Weg gab.

Sie öffnete die Tür und trat auf den Flur. An der Empore blieb sie stehen. Die große Eingangstür stand offen. Das Personal eilte im unteren Bereich des Hauses hin und her. Das Brummen eines Staubsaugers und das Klappern von Tellern war zu hören. Ein seltsames Gefühl kam in ihr auf. 

Hatte sie es wirklich genossen, hier zu leben? Das Leben war so einfach, wenn man sich um nichts kümmern, sich um nichts sorgen musste. Es konnte so bequem sein, wenn man alles hatte, was man brauchte.

Nur war es egal, wie man an dieses Ziel kam?

Der Geruch von Kabirs Aftershave ließ sie aus ihren Gedanken auftauchen. Seine Hand berührte ihren Rücken und jagte ihr einen kalten Schauer über den Körper. Sie trug ein Kleid, das er ihr vor wenigen Tagen von einer seiner Geschäftsreisen mitgebracht hatte. Es war schulterfrei, aus schwarzem Samt, mit einem breiten, goldenen Streifen, der längs über ihre Brust lief. Ihre Füße steckten in dazu passenden High Heels.

»Was möchte mein Mädchen aus Tausend und einer Nacht heute machen?« 

Sie versuchte, nicht zu auffällig einzuatmen, bei dem Gedanken wie einfach ihr Leben sein könnte, wenn sie bei ihm bleiben würde, solange er nicht wüsste, wer sie wirklich war.

»Ich dachte, ich fahre in die Stadt. Mir fehlt eine passende Tasche zu diesem Traumkleid, und meine Haare machen mich wahnsinnig.« Sie drehte sich um und sah dem Mann, der ihr so zuwider war, in die Augen. Er nickte und strich über ihre Haare.

»Ja, vielleicht solltest du das machen. Nikolaj wird dich begleiten.«

Da war er wieder, der seltsame Tonfall in seiner Stimme.

»Wer ist Nikolaj?«

Noch nie hatte sie diesen Namen gehört. Normalerweise begleitete sie der untersetzte, glatzköpfige Sergej. Kabir drehte sich zur Seite und winkte einen Mann zu sich, den sie erst jetzt bemerkte. Er war etwas kleiner als sie und trug blonde Haare. Dieses Gesicht hatte sie wirklich noch nie im Haus gesehen. Skeptisch sah sie ihn an.

»Nikolaj, würdest du Jen in die Stadt fahren?«

Anstelle einer Antwort kam ein knappes Nicken von dem Mann mit den stahlblauen Augen. Er hatte etwas an sich, das ihr überhaupt nicht zusagte.

»Danke.« Sie gab Kabir einen flüchtigen Kuss. »Ich mach mich mal fertig.« Ihr Blick wanderte zu Nikolaj, der immer noch wie eine Salzsäule neben Kabir stand. Dann wandte sie sich ab und ging zurück in ihr Zimmer.

Mit dem Rücken an die Tür gelehnt, holte sie tief Luft. Irgendetwas ging nicht mit rechten Dingen zu, und das Schlimmste war, dass sie sich allein aus der Sache befreien musste. Nur wusste sie nicht wie.

Es klopfte an der Tür.

»Ich wäre dann so weit.«

Das musste Nikolaj sein. Auch wenn sie ihn noch nie hatte sprechen hören, war sie sich sicher, dass diese Stimme mit dem russischen Akzent zu ihm gehörte.

»Bin gleich da.«

Einige Minuten später ging sie die große, mit rotem Teppich belegte Treppe hinunter. Unten in der offenen Tür lehnte Nikolaj und lächelte sie an. Für einen kurzen Moment dachte sie, es wäre ein ehrliches, freundliches Lächeln. 

Aber nein, so etwas gab es für sie nicht.

Alles war wie sonst auch. Nikolaj hielt ihr, wie Sergej, die Tür des gepanzerten Wagens auf, der nur wenige Meter von der Haustür entfernt stand, und schloss sie wieder, als sie sich auf das edle helle Lederpolster gesetzt hatte. 

Ihre Gedanken wanderten zu ihrem alten Begleiter. Sergej würde es nicht auffallen, wenn sie stundenlang nicht von ihrer Shoppingtour zurückkäme. Wahrscheinlich wäre es ihm nicht einmal aufgefallen, wenn sie ganz verschwunden wäre.

Aber wo war er?

Nikolaj war anders. Er warf die Tür hinter sich zu, sah sie kurz über seine Schulter hinweg an und startete den Wagen. Nach einigen hundert Metern hatten sie das große Anwesen verlassen und bogen auf eine Straße ab, die sie weiter in Richtung Stadt bringen würde.

Plötzlich bemerkte sie, wie Nikolaj in die andere Richtung abbog. Sie gab sich Mühe, so ruhig wie möglich zu wirken, als sie fragte: »Wo fahren wir hin? Ich dachte, Kabir sponsert mir eine neue Handtasche und einen Friseurbesuch?«

»Wir fahren nach Passau.« Nikolaj sah nicht einmal in den Rückspiegel, als er ihr antwortete.

»Passau? Aber das ist doch in Deutschland.« Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Das Anwesen lag in der Tschechei und normalerweise fuhren sie immer in eine Kleinstadt nur wenige Kilometer entfernt.

Kabir hatte sein riesiges Grundstück dicht am Biosphärenreservat Šumava bauen lassen. Der riesige Nationalpark war ein idealer Platz, um sich vor den Augen der Öffentlichkeit zu verstecken. Zwar waren dort immer Touristen unterwegs, aber nie verirrten sich welche auch nur ansatzweise in die Nähe des Hauses. Liv hatte Wochen gebraucht, um mit Hilfe der National Geospatial Intelligence Agency, das Haus ausfindig zu machen. In Deutschland würden ihre Chancen zur Flucht wesentlich schlechter sein. Dort kannte sie sich nicht aus und die Sprache beherrschte sie auch nicht.

»Ich muss dort was für Kabir erledigen und Handtaschen kann man dort sicher auch kaufen.« Er sah kurz über seine Schulter. Sie nickte ihm geistesabwesend zu, während sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.

Zwei Stunden später kamen sie in der deutschen Stadt an. Ihr russischer Fahrer parkte den gepanzerten Wagen in einem Parkhaus und sie gingen gemeinsam in die belebte Innenstadt. Es war das erste Mal, dass sie in Deutschland war. Die Häuser, an denen sie vorbeikamen, waren in hellbraun, gelb und beige Tönen gehalten. Alle besaßen Sprossenfenster, die farbig vom Rest der Fassaden abgesetzt waren. Nikolaj drängte sie an einigen Gebäuden vorbei und dirigierte sie in einen kleinen Laden, der Handtaschen im Angebot hatte.

»Beeil dich. Wir haben es eilig.« Unruhig sah er sich um.

»Wenn wir es eilig haben, heißt das, dass ich heute nicht zum Friseur kann?« Sie musste irgendwie Zeit schinden, damit er sie für einige Minuten aus den Augen lassen würde. Vielleicht konnte sie ihn überzeugen, seine Erledigungen zu machen, während sie einkaufen ging.

»Du hast es erfasst und nun mach!« Er gab ihr einen Stoß in Richtung eines Tisches, auf dem einige Handtaschen standen.

Verdammt, was sollte sie nun machen?

Dieser Kerl würde sie keine Minute aus den Augen lassen. Falsches Interesse heuchelnd, sah sie sich die Handtaschen an. Drehte sich dann zu einem Regal um, in dem weitere standen. So unauffällig, wie es ihr möglich war, beobachtete sie, wie er immer wieder zur Tür des Ladens hinaus schaute.

Vor der Tür des Ladens entwickelte sich ein lautstarkes Gespräch zwischen einem Pärchen. Nicht nur Nikolaj beobachtete gespannt, wie die Frau dem Mann die Handtasche in das Gesicht schlug.

Liv sah sich um. Irgendwo musste es eine Hintertür oder ein Büro mit einem Fenster geben. Der Menschenauflauf vor der Tür wurde größer, und da sie Nikolaj nicht mehr sehen konnte, hoffte sie, dass es ihm genauso erging. Sie atmete erleichtert auf, als sie eine Tür sah, auf der ein großes Schild mit der Aufschrift 

PRIVAT

hing. Sie ging darauf zu. Immer wieder sah sie sich um, konnte Nikolaj aber nirgends entdecken. Ob das nun gut oder schlecht war, wusste sie selber nicht. So schnell und unauffällig, wie sie konnte, öffnete sie die Tür und trat in einen kleinen Raum, dessen Wände mit Regalen vollgestellt waren. Zu ihrer Erleichterung hatte der schlauchartige Raum ein Fenster. Es war zwar klein, aber für sie würde es genügen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie versuchte das Fenster zu öffnen. Erst, als sie mit aller Kraft am Griff zog, gab es endlich nach. Immer wieder starrte sie zur Tür. Wenn er sie jetzt finden würde, wäre ihr Schicksal besiegelt. Sie zog sich am Fensterrahmen hoch und kletterte hinaus.

Als ihre Füße den Boden auf der anderen Seite berührten, sah sie sich um. Sie konnte immer noch die Stimmen des streitenden Pärchens hören. Sie musste sich in einer Seitengasse befinden, die genau zu der Straße führte, in der der Eingang des Geschäfts lag. Sie überlegte nicht lange, sondern schlug den Weg ein, der von der Fußgängerpassage wegführte. Während sie in ihren High Heels die Straße entlang rannte, kramte sie in ihrer Handtasche. Als sie ihr Handy herauszog, blieb sie strauchelnd stehen.

Eine Kreuzung. 

Wo sollte sie hin?

Wieder sah sie sich um. Noch schien ihr niemand zu folgen. Sie musste sich beeilen. Ein Blick nach rechts, nach links, dann geradeaus. Schließlich entschied sie sich für links und rannte weiter. Immer wieder knickte sie um, da ihre Schuhe nicht für das Kopfsteinpflaster einer Altstadt gemacht waren. Die Handtasche in der einen Hand, das Handy in der anderen, wählte sie eine Nummer. Sie hatte nur diesen einen Anruf, danach würde sie ihr Handy entsorgen müssen. Die Gefahr, dass Kabir, der ihre Nummer kannte, sie sonst finden würde, war zu groß.