Second Ends – Suche ohne Wiederkehr

Prolog.

»Onkel Aidan.« Rico rannte strahlend hinter dem Ball her, den er ihm mitgebracht hatte, und forderte ihn zum Mitspielen auf.

»Na warte.« Er lief auf den Jungen zu, der dem Ball mit all seiner Kraft einen Tritt gab. Aidan sah den Ball kommen und ließ sich spektakulär aussehend auf die rechte Seite auf den Rasen fallen, damit der Fußball links neben ihm in das imaginäre Tor rollen konnte. 

»TOR!« Rico rannte im Kreis und Aidan setzte sich lachend auf. 

»Das war ein Schuss.« Er schmunzelte, als er sich erhob, um den Ball zu holen, der nur wenige Meter hinter ihm lag und den er ohne Probleme gehalten hätte. 

»Was macht ihr denn hier für ein Theater?« Aidans Bruder trat auf die Terrasse des in die Jahre gekommenen Hauses. Der Lack der ehemals hellen Holzplanken an den Wänden blätterte an vielen Stellen ab und ließ so das Gebäude weit älter erscheinen, als es wohl war. Welche Farbe die Bretter am Boden der kleinen Veranda einst gehabt hatten, war nicht mehr zu erkennen. 

»Dad, ich hab ein Tor geschossen. Onkel Aidan ist voll auf die Schnauze gefallen.« Ricos Stimme überschlug sich fast beim Sprechen. Es fiel Aidan ab und an noch schwer, den Fünfjährigen zu verstehen, aber dieses Mal sprach Rico für seine Verhältnisse so deutlich, dass Aidan, mit dem Ball unter dem Arm, nickend auf seinen Bruder zuging. Ihm war klar, dass der Ausdruck auf die Schnauze weder seinem Bruder noch seiner Schwägerin zusagte, aber er hatte es dem Jungen zumindest nicht bewusst beigebracht. Vielleicht könnte sein Bruder ihnen Gesellschaft bei ihrem Spiel leisten. Rico hatte zu verstehen gegeben, dass sein Vater nur selten Zeit hatte, um mit ihm Ball zu spielen. Womöglich konnten sie für einige Minuten ihre eigene Kindheit aufleben lassen, auch wenn sie damals Basketball und nicht Fußball gespielt hatten.

»Aber sowas von. Du ziehst hier einen Ronaldo ran. Oder wie heißt der?« Aidan sah zu Rico, der vor seinem Vater stand. Er war sich sicher, dass der Junge, auch wenn er noch ein Kleinkind war, den Namen Ronaldo mit einem berühmten Fußballer verknüpfte. Er hatte vor etwas mehr als einem Jahr einmal ein Kind in Afghanistan gesehen, das voller Stolz ein Trikot des Weltstars getragen hatte. 

»Hier, ich komm gleich wieder, den nächsten halt ich dann.« Er reichte den Fußball an den Jungen weiter. Bereits das freudige Funkeln in den Augen seines Neffen mit den braunen buschigen Haaren sorgte dafür, dass er sich vornahm, noch einige Schüsse ins Tor rollen zu lassen. Es tat gut, dieses Strahlen im Gesicht des Kindes zu sehen. Aidan hatte in diesem Augenblick das Gefühl, als könne er etwas bewegen. Etwas Besonderes. 

»Warum?« Austin sah ihn durchdringend an und brachte mit seiner kühlen, aus der Luft gegriffenen Frage, die gute Stimmung bei Aidan zum Kippen. 

»Was, warum?« Er musterte seinen drei Jahre älteren Bruder irritiert. Rein optisch waren sie sich sehr ähnlich. Sie hatten beide die rotbraunen Haare ihres Vaters und die bernsteinfarbenen Augen ihrer Mutter geerbt. Nur ihre Charaktere waren so verschieden, wie sie es nur sein konnten. Während Austin ganz nach ihrem strengen Vater kam, sich an jede noch so kleine Regel hielt und ein geordnetes Leben führte, war Aidan kein Freund von Regeln. Und sein Leben war nicht in Ordnung. Auch Lernen war in jungen Jahren nichts für ihn gewesen. Heute, im Rückblick, bereute er diese Einstellung. Vielleicht wäre er woanders gelandet, wenn er mehr gelernt hätte und in der Schule nicht immer der Unruhestifter gewesen wäre. Aber ob er die Erfahrungen der letzten Jahre gegen einen tristen Büroalltag oder Ähnliches tauschen wollte, wusste er nicht. Adrenalin war zu seinem Lebenselixier geworden. 

»Warum kommst du her und spielst den liebenden Onkel? Nach dem letzten Mal dachte ich, du tauchst erst in zig Jahren wieder auf. So wie du es immer machst.« Vorwurfsvoll wurde er aus bernsteinfarbenen Augen gemustert. Austins Blick hatte in diesen Sekunden viel von dem seiner Mutter. Sie hatte ihn früher auch so angesehen. Voller Vorwürfe und unausgesprochener “Warums”.

»Was heißt hier immer? Ich war ein paar Jahre weg, ja und?« Aidan zuckte mit den Schultern. Er war in Bagram gewesen, deshalb hatte er sich einige Zeit nicht melden können. »Außerdem warst du doch bestimmt froh, nichts von mir hören zu müssen.« In ihm keimte erneut die Wut auf, die er so oft verdrängt und unterdrückt hatte. Vor geraumer Zeit hatte er noch gedacht, dass er viele Missverständnisse aus dem Weg geräumt hatte. Dass er irgendwann wieder ein gesundes Verhältnis zu seiner Familie haben würde. Sie hatten lange geredet und einiges aus der Welt geschafft. Aber wie es schien, längst nicht alles. Würde er auf immer der Gebrandmarkte bleiben?

»Tu mir einen Gefallen.« Austin wurde ruhiger. »Mach hier nicht auf liebenden Onkel, wenn du dann wieder verschwindest und dich ewig nicht blicken lässt. Das hat er nicht verdient.« Er deutete auf Rico, der mit dem Ball über den Rasen tollte. 

»Mach ich nicht.« Nein, er würde diesen Jungen nicht im Stich lassen. Das Einzige, was dazu führen könnte, dass er sich länger nicht melden konnte, wäre ein Einsatz. Aber dafür würde sein Bruder hoffentlich Verständnis haben.

»Okay.« Austin nickte und trat neben ihm in den Garten. Er wurde direkt von seinem Sohn angespielt, nahm den Ball jedoch auf, anstatt ihn zurückzuspielen. »Hey kleiner Mann. Ich muss noch mal weg. Pass auf, dass dein Onkel sich nicht verletzt. Mama kommt auch bald von der Arbeit.« 

Aidan sah seinen Bruder verwirrt an. Davon, dass er mit dem Kind eine Weile alleine sein würde, hatte er nichts gesagt. Eine Ankündigung wäre gut gewesen. Würde er den Jungen so lange beschäftigen können? Er hatte sich noch nie lange alleine mit einem Kind befassen müssen. Es war immer eine Ansprechperson in der Nähe gewesen. Kinderbetreuung hatte nicht zu seiner Ausbildung gehört. 

»Ich muss noch kurz was erledigen. Lilly kommt bald von der Arbeit. Ich bin nicht lange weg.« 

»Aber …« Sollte er zugeben, dass er sich an diese Herausforderung nicht herantraute? Dass er großen Respekt vor ihr hatte? 

»Ihr packt das schon.« Austin klopfte ihm auf die Schulter und wandte sich seinem Sohn zu. »Pass bitte auf, dass Onkel Aidan das Haus nicht kaputt macht.« Austin drehte sich kurz zwinkernd zu ihm um und er zwang sich zu einem Lächeln. Was sollte er tun, wenn Rico sich verletzte oder weinte, weil seine Eltern nicht da waren?

»Mach ich.« Rico rannte, so schnell es seine kurzen Beine zuließen, auf seinen Vater zu, der ihn für einen Moment auf den Arm nahm und ihm etwas ins Ohr flüsterte, was bei dem Jungen für ein Strahlen sorgte. Dann entließ Austin seinen Sohn wieder und nickte Aidan zu, ehe er in das Haus ging, um es vorne zu verlassen. 

Nur wenige Minuten später war er mit dem Kleinkind alleine und stellte sich die Frage, was er nun machen sollte. Rico nahm ihm die Überlegung ab, da er unbedingt weiter Fußball spielen wollte. Ihr Spiel, in dem er immer wieder dafür sorgte, dass der Junge gegen ihn gewann, zog sich allerdings nur über eine Viertelstunde hin, da Rico dann Durst bekam und seinen Onkel bat, ihm ein Glas aus dem Küchenschrank zu reichen. Dann holte der Junge diverse Spielfiguren, mit denen sie eine Weile spielten. Anschließend forderte er Aidan auf, die elektrische Eisenbahn zu reparieren. Gerade als diese wieder funktionierte, kehrte Lilly von der Arbeit zurück und Rico eilte am Treppengeländer festhaltend die Stufen in einer Art hinunter, dass Aidan die Luft anhielt und befürchtete, der Junge würde fallen.

»Mom, Aidan hat die Eisenbahn heile gemacht«, erklärte der Junge, seiner Mutter um den Hals fallend, was Aidan vom oberen Treppenabsatz beobachten konnte. 

»So, hat er das?« Sie sah ihm entgegen, als er die Treppe hinunterkam und hielt ihren Sohn kurz im Arm, ehe sie ihn wieder auf dem Boden absetzte. »Wo hast du Dad denn versteckt?« 

»Der ist Autofahren.« 

»Er musste noch weg und hat mich gebeten, so lange ein Auge auf Rico zu haben«, sprang Aidan erklärend ein. Lilly nickte mit einem nachdenklichen Ausdruck im Gesicht. Es wirkte, als wüsste sie, wohin sein Bruder gefahren war und als würde ihr das Sorgen bereiten. 

»Rico, magst du noch ein bisschen spielen? Ich möchte kurz mit deiner Mutter reden.« Aidan sah zu seinem Neffen und hoffte, dass der Junge dem Wunsch Folge leistete. 

»Rico, bitte.« Lilly legte mit bestimmendem Ton nach, da Rico ihn ansah, als hätte er widersprechen wollen. Nun allerdings ging er zurück in sein Zimmer.

»Danke.« Aidan machte einige Schritte auf seine Schwägerin zu. »Weißt du, wo er hin ist? Du siehst aus, als würdest du dir Sorgen machen.« War es richtig, seinen Verdacht direkt anzusprechen? Zum einen kannte er Lilly nicht sonderlich gut, zum anderen ging es ihn eigentlich nichts an, was sein Bruder tat. 

»Nicht wichtig. Hat er sich benommen?« Sie deutete mit dem Kopf die Treppe hinauf und wollte das Gespräch auf ihren Sohn bringen. 

»Es war alles super.« Er nickte, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. Allerdings konnte er seine Gedanken nicht von seinem Bruder lösen. Warum wirkte seine Schwägerin gerade so nachdenklich? Und warum hatte sein Bruder einen ähnlichen Ausdruck im Gesicht gehabt, als er gegangen war? 

»Ich mach uns mal was zu essen.« Lilly wich seinem Blick aus, als sie an ihm vorbeiging. Eine innere Stimme sagte ihm, dass etwas nicht in Ordnung war. Warum sonst sollte sie seinen Blick meiden? 

»Ich kann dir helfen.« Er wollte ihr folgen, doch sie drehte sich zu ihm um und sah ihn in einer Art an, die keine Worte mehr benötigte. Sie wollte alleine sein.

»Danke, aber vielleicht kümmerst du dich weiter um die Eisenbahn«, erwiderte sie mit kühler Stimme. Er bildete sich ein, einen Vorwurf zu hören. War es in ihren Augen nicht in Ordnung, dass er sich dem kaputten Spielzeug angenommen hatte? Gab es eine Abmachung zwischen seinem Bruder und dem Jungen, dass es sich bei der Reparatur um eine Vater-Sohn-Aktion handelte? Oder wollte sie weiteren Nachfragen von seiner Seite aus dem Weg gehen? 

»Okay.« Er nickte ihr zu, zögerte jedoch einen Augenblick, ehe er sich abwandte. Obwohl sie nicht nein gesagt hatte, war das eine so deutliche Ablehnung seiner Hilfe gewesen, wie es ihm bisher nur selten passiert war. Er hatte gedacht, dass es sie freuen würde, wenn ihr jemand in der Küche half. Seinen Bruder hatte er, seit er hier war, kaum dort helfen sehen. 

Eine Stunde später saß er mit seiner Schwägerin und seinem Neffen am Tisch und starrte auf seinen leeren Teller, während ihm auffiel, dass Lilly noch nichts gegessen hatte. An Ricos Platz sah es aus, als hätte der Junge eine Essensschlacht veranstaltet. Die Stimmung war trotz der wilden, teils unverständlichen, Erzählungen des Jungen sehr gedrückt. Aidan spielte mit dem Gedanken, einen neuen Gesprächsversuch mit Lilly zu starten, traute sich aber nicht. Er hatte keine Ahnung, wie er das Gespräch beginnen könnte, damit sie es ihm nicht übelnahm oder dachte, er wolle sich aufdrängen. 

»Wie lange bleibst du noch?« Sie sah ihn an.

»Ich kann noch eine Woche bleiben. Wenn ihr mich aber loswerden wollt, gehe ich.« Die Befürchtung, dass die Familie seines Bruders ihn irgendwann vor die Tür setzte, hatte er bereits gehegt. Aber sollte dem so sein, würde er sich ein Hotel nehmen. Aktuell war er nicht gewillt, nach San Diego zurückzufahren. Der Grund für seine Anwesenheit war der, dass sein Captain ihm Urlaub zugeteilt hatte, um seine Probleme in den Griff zu bekommen. Das war ihm allerdings noch nicht geglückt. Aber er hatte bisher mit niemandem über diese Schwierigkeiten gesprochen. Aidan überlegte, mit wem er dieses Thema besprechen könnte. Er konnte schlecht zu Lilly gehen und mit ihr seine Schlafprobleme diskutieren. Auch mit seinem Bruder wollte er nicht darüber reden. Aidan war in der Hoffnung hergekommen, dass er seine Gedanken in den Griff bekam und seine Schlafprobleme sich von selbst lösten, wenn er nur lange genug aus seinem Trott herauskam und sie verdrängte. Aber er hatte keine Ahnung, wie lange das dauern könnte. Er würde nicht ewig hierbleiben können. Und wenn er sich ein Hotel nahm … Aidan brach den Gedanken ab. 

Seine Probleme waren nur in der Nacht da und dann hatte er niemanden zum Reden. Die daraus resultierende Müdigkeit konnte er im Moment gut überspielen, auch seine Aggressionen hatte er, nicht zuletzt aufgrund von Ricos Anwesenheit, besser unter Kontrolle. Der Junge war ihm innerhalb der kurzen Zeit, die er ihn nun kannte, sehr ans Herz gewachsen. Ein Umstand, mit dem er nie gerechnet hatte, da er eigentlich kein Familienmensch war und bisher mit Kindern nicht viel hatte anfangen können. Er war immer der Meinung gewesen, dass sie ihn nicht mochten. Rico hatte ihn vom Gegenteil überzeugt.

»Nein, nein. Ich habe nur aus Interesse gefragt.« Lilly stand bei ihrer Antwort auf und löste ihn so von seinen Gedanken. Als sie Messer und Gabel auf ihren Teller legte, griff er nach seinem und Ricos. Er würde ihr beim Abräumen des Tisches zur Hand gehen. Rico hatte sich derweil bereits auf das Sofa geworfen und hüpfte dort auf und ab. Sollte er fragen, warum sie ihr Essen nicht angerührt hatte?

»Schatz, du gehst gleich ins Bett.« Lillys Rufen sorgte bei ihrem Sohn für einen Protestlaut.

»Wenn du möchtest, bring ich ihn ins Bett.« Aidan war dabei, die Teller in die Spülmaschine zu stellen. 

»Nein, ich mach das, aber danke für das Angebot.« 

Ihm entging nicht, dass sie immer noch angespannt wirkte. Sogar angespannter als vor dem Essen. Ricos Frage, warum sein Vater nicht beim Essen anwesend war, hatte sie nach dem Servieren mit einer Ablenkung beantwortet, was zwar den Jungen, aber nicht ihn beruhigt hatte. Aidan wollte immer noch gerne wissen, wo sich sein Bruder aufhielt. 

Als Lilly mit ihrem Sohn nach oben verschwand, schaltete er den Fernseher ein. Im Gästezimmer gab es keinen Fernseher, dort sorgte in der Nacht dann sein Handy für eine Geräuschkulisse, bei der der Versuch zu schlafen, meist scheiterte oder es nur kurze Zeit gelang. Ohne einen gewissen Geräuschpegel war es ihm hingegen gar nicht mehr möglich, zur Ruhe zu kommen. Ricos Einschlafprozess zog sich in die Länge. Vielleicht war Lilly bereits neben dem Jungen eingenickt. Der Junge schlief nicht gerne alleine, hatte sein Bruder ihm erklärt, weswegen sie aktuell froh waren, wenn er einige Stunden in seinem Bett schlief, ehe er am frühen Morgen in das elterliche krabbelte.

Ein Geräusch ließ ihn zusammenzucken und feststellen, dass ihm die Augen zugefallen waren. Es war Lilly, die die Treppe herunterrannte und aus dem Haus verschwand. Er setzte sich auf und lauschte. Er konnte das gleichmäßige Brummen eines Motors hören. 

»Aidan!« Lillys lautes Rufen mit einem verzweifelten Unterton ließ ihn aufspringen und auf Socken aus dem Haus stürmen. Austins Wagen parkte mit laufendem Motor auf der Einfahrt und Lilly stand in Tränen aufgelöst an der offenen Fahrertür. Sein Herz raste, als er neben sie trat und einen Blick auf seinen Bruder erhaschen konnte. Dieser lag mit dem Kopf auf dem Lenkrad und bewegte sich nicht. 

»Lass mich mal.« Aidan schob Lilly hart zur Seite. Wenn Austin es bis hierher geschafft hatte, war er nicht tot. Egal was passiert war, er durfte keine Zeit verstreichen lassen. »Hey, was ist los?« Nach wenigen Sekunden fiel der erste Druck von ihm ab, da er die gleichmäßigen Atemzüge seines Bruders sehen konnte. »Hey.« Er legte seine Hand auf Austins Rücken. »Was ist hier los?« Aidan sah, auf eine Erklärung hoffend, kurz zu Lilly. 

»Er hat angerufen und gesagt, ich soll rauskommen«, erwiderte sie heiser. 

»Austin, komm lass den Scheiß, steig aus.« Aidan zog seinen Bruder zurück, um ihm in die Augen sehen zu können. Kurz stockte ihm der Atem, als er in Austins Gesicht sah. Es war von Schlägen gezeichnet. Das rechte Auge war bis auf einen schmalen Spalt zugeschwollen, in das andere ran Blut, welches aus einer Wunde an der Augenbraue sickerte. »Scheiße!« Leise fluchend sah er zu Lilly. »Wir bringen ihn erstmal rein und dann schauen wir, ob wir einen Rettungswagen brauchen.« 

»Krankenhaus kann ich nicht bezahlen.« Austin keuchte blutspeiend auf. 

»Die Entscheidung treffe ich jetzt.« Aidan wandte sich zu Lilly. »Schau bitte, dass der Kleine ihn so nicht sieht.« Als sie keine Anstalten machte zu gehen, löste er sich von Austin, der ein weiteres Mal nach vorne auf das Lenkrad fiel. »Geh bitte, das wird wieder«, legte er befehlend nach. Erst jetzt wandte sie sich in Tränen aufgelöst um. »Und du steigst endlich aus. Drinnen kann ich dir helfen, hier nicht. Du saust dein ganzes Auto ein.« Aidan schob Austin zurück und zog den Zündschlüssel ab. »Wenn du es bis hier geschafft hast, schaffen wir es nun auch rein. Deine Beine sind okay?« Er versuchte, seinem Bruder ins Gesicht zu sehen. Das knappe Nicken nahm er als Anlass, Austin aus dem Wagen und auf die Beine zu helfen. Austin legte den Weg ins Haus von ihm gestützt zurück und Aidan dirigierte ihn ohne Umwege ins Bad, allerdings nicht ohne einen Blick die Treppe hinauf zu werfen. Hoffentlich tauchte Rico nicht gleich auf.

»Wasch das Blut ab und zieh das Hemd aus. Bekommst du das alleine hin?« Er musterte seinen Bruder fragend, als er auf das Waschbecken deutete. Austin nickte knapp. 

»Okay, ich komm gleich wieder, dann helfe ich dir und du erzählst mir, wer das war.«

»Nicht wichtig.« Austin öffnete sprechend den Wasserhahn und spuckte eine Blut-Speichel-Mischung auf die helle Keramik des Waschbeckens. 

»Oh doch.« Aidan verließ das Bad und traf auf Lilly, die weinend an der Treppe stand. »Er wird wieder. Wo hast du einen Verbandskasten? Ich brauch ein paar Pflaster, was zum Kühlen und ein sauberes Hemd.« 

»Ähm.« Lilly ging in die Küche, wo sie aus einem Schrank einen Verbandskasten nahm. »Ich hab nur diese kleinen Kühlpacks da.« Sie öffnete den Kühlschrank und holte ein winziges tiefgefrorenes Gelpack aus dem Froster. 

»Gefrorene Erbsen oder ein Steak oder so tun es auch.« Aidan musterte das Minikühlpack. Für Kinder war es sicher ausreichend. Austin benötigte aber etwas Größeres, um zu verhindern, dass vor allem die Verletzung am Auge noch weiter anschwoll. Ratlos starrte Lilly in das kleine Gefrierfach und zog schließlich einen Beutel mit Paprikawürfeln hervor, den sie ihm mit einem gequälten Gesichtsausdruck reichte. 

»Danke, die werden es auch tun.« Er wandte sich mit Verbandskasten und Tiefkühlpaprika ab und ging wieder ins Bad, wo er seinen Bruder mit nacktem Oberkörper am Waschbecken stehend fand, welches mit Blutschlieren verschmiert war. Schon jetzt war zu sehen, dass diesen Körper bald Unmengen an Hämatomen zieren würden. Vor allem im Bereich der Rippen und am Rücken hatten seinen Bruder Schläge, vielleicht auch Tritte, hart getroffen. Aidan atmete tief ein, um seine Wut zurückzudrängen. Erst musste er ihm helfen, ehe er sich um die kümmerte, die diesen Anblick zu verantworten hatten. Er würde das nicht ungesühnt lassen. 

Eine Stunde nachdem er seinem Bruder im Bad geholfen hatte, seine Wunden zu versorgen, geleitete er ihn ins Wohnzimmer. Die Packung mit den Paprikawürfeln presste Austin auf sein bis auf wenige Millimeter zugeschwollenes Auge und ließ sich stöhnend und unter dem verweinten Blick seiner Frau auf der Couch nieder. 

»Wer war das?« Aidan setzte sich, seinen Bruder nicht aus den Augen lassend, auf den Sessel, obwohl die in ihm tobende Unruhe genau das verhindern wollte. 

»Tut nichts zur Sache.« Austin hielt seinen Blick gesenkt.

»Das tut sehr wohl was zur Sache. Da ist eine Anzeige fällig«, erklärte Aidan, mit dem Hintergedanken, dass es nicht bei einer Strafanzeige bleiben würde. Den Versuch, seinen Bruder zu einem Krankenhausbesuch zu überreden, hatte er aufgegeben, auch wenn er sich nicht vollends sicher war, dass ein Arztbesuch nicht doch angebracht wäre. Aber sollte Austin diesen nicht bezahlen können, war es sinnvoller, hierzubleiben und ihn zu beobachten. Austin schüttelte auf seine Worte hin mit dem Kopf, was dafür sorgte, dass Aidan aufsprang. 

»Willst du mich auf den Arm nehmen? Wer auch immer das war, gehört eingesperrt. Oder hast du angefangen?« Er hielt diesen Gedanken für fast ausgeschlossen. Sein Bruder war niemand, der eine Schlägerei begann. Erst recht nicht im nüchternen Zustand. 

»Bist du da hin gefahren?« Nun mischte Lilly sich ein.

»Ja, verflucht.« Austin sah auf. Sein Gesicht würde in den nächsten Tagen einmal die gesamte Farbpalette durchlaufen und Aidan war sich sicher, dass über der Augenbraue, eine Narbe zurückbleiben würde. Die Haut dort mit Pflasterstreifen zusammenzudrücken war nicht unbedingt die beste Art. Aber vom Nähen hatte er keine Ahnung und wahrscheinlich wäre Lilly dann noch weiter mit ihren Nerven am Ende als ohnehin schon. Mit Pflaster würde es, wenn auch nicht schön, ebenfalls heilen.

»Warum?« Lilly schaute schluchzend aus dem Fenster. 

»Wo bist du hingefahren, verdammt?« Aidan sah von Lilly zu Austin. Warum sagte hier niemand, worum es ging? Es fiel ihm immer schwerer, ruhig zu bleiben.

»Mom?« 

Er schloss die Augen, als er Ricos Stimme vernahm. Der Junge kam die Treppe herunter und rief ein weiteres Mal nach seiner Mutter. 

»Ich mach das. Und wenn ich wiederkomme, will ich wissen, wo du warst.« Aidan atmete durch und hoffte, dass er seine Emotionen so weit unter Kontrolle bekommen würde, dass der Junge nicht bemerkte, dass etwas nicht in Ordnung war. Sollte er seine Mutter nun verweint sehen, würde er bemerken, dass etwas nicht stimmte. Und dann könnte es noch lange dauern, ehe Austin ihm erklärte, wo er gewesen und wer für diese Verletzungen verantwortlich war. Denn dann würde sehr sicher eine Märchenstunde für den Jungen folgen. Egal was geschehen war, Rico war zu jung für die Wahrheit. 

»Hey kleiner Mann, deine Mom redet gerade mit deinem Dad. Ich komm mit nach oben.« Er fing den Jungen ab, ehe der das Wohnzimmer betreten konnte. »Vielleicht kann ich dir ja auch helfen, dann müssen wir die beiden nicht stören.« Vorsichtig dirigierte er seinen Neffen zurück zur Treppe. 

»Ich hab was gehört.« Rico sah zu ihm auf. 

»Ich glaub, das war ich. Mir ist im Bad was runtergefallen. Entschuldige, dass ich dich geweckt habe.« Er bemühte sich um einen entschuldigenden Gesichtsausdruck.

Rico machte erste Schritte auf der Treppe. 

»Ist was kaputt?« Er wurde mit großen Augen gemustert. 

»Nein.« Aidan schüttelte den Kopf. »Alles heile geblieben.« Nun beugte er sich zu Rico vor. »Sonst hättest du deine Mama schimpfen hören. Komm, ich bring dich wieder ins Bett und verspreche dir, nichts mehr fallen zu lassen.« 

1.

»Hey … Alter, unter welchen Zug bist du denn gekommen?« Will war Aidan entgegenkommen und blieb nun mit einem entsetzten Gesichtsausdruck vor ihm stehen. »Oder sollte ich lieber fragen, wie die anderen aussehen?«

»Das wohl eher.« Aidan murrte die Antwort. Er hatte gehofft, bei seiner Ankunft niemandem zu begegnen. Wobei er seine Verletzungen nicht ewig hätte verstecken können. Spätestens am nächsten Morgen würden seine Blessuren allen auffallen. 

»Weiß der Cap das schon?« Will deutete auf sein Gesicht, in dem ein Hämatom am Auge das wohl sicherste Zeichen für eine Schlägerei war.

»Nein.« Aidan wollte an seinem Kollegen vorbei in seine Stube.

»Gibts Ärger?« Will sah ihn mit bohrendem Blick an.

»Nein.« Aidan drängte Will, der sich ihm in den Weg stellte, zur Seite.

»Keine Bullen? Kein Anruf?« Skeptisch beäugte sein Kollege ihn weiter.

»Nein.« Aidan drehte sich nicht um. 

»Ist der andere tot?«

 Die hinterhergerufene Frage ließ ihn zögern, ehe er sich zu seinem Kollegen umdrehte. »Keine Ahnung. Als ich gegangen bin, war er noch sehr lebendig.« Er wollte weitergehen, wurde jedoch von Will, der ihn weiterhin durchdringend ansah, daran gehindert. 

»Was ist passiert?« Wills scharfer Blick duldete keine Ausflüchte mehr.

»Nichts Wildes. Eine Meinungsverschiedenheit, mehr nicht.« Aidan gelang es, dem Blick seines Kollegen standzuhalten, obwohl er keine Lust auf ein langes Gespräch hatte. 

»Bist du dir sicher, dass das keinen Ärger gibt?« 

»Wenn ich dir jetzt aufs Maul haue, rennst du dann gleich zu Harrison? Das war ein kleiner Streit, der ein wenig aus dem Ruder gelaufen ist. Es ist keiner gestorben und wir haben anschließend gemeinsam ein Bier getrunken.« Aidan bemühte sich, seine Erklärung glaubwürdig klingen zu lassen. Denn das, was er gerade gesagt hatte, war eine Lüge. In Wahrheit war ein eskalierter Streit der Grund seiner Verletzungen. Aber er war sich sicher, dass sein Gegner die Polizei auch im Nachhinein nicht einschalten würde, denn das, was dieser Mann und seine Handlager taten, um sich ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, wog weitaus schwerer als die blauen Augen, die Aidan verteilt hatte. »Kann ich jetzt gehen?« Er schenkte seinem Gegenüber einen genervten Blick, ahnend, dass er sehr bald vor seinem Captain Rede und Antwort stehen würde. Eben dieser erwartete ihn in weniger als dreißig Minuten und würde von ihm erfahren wollen, ob er sein Versetzungsgesuch wirklich weiterleiten sollte. Diese Frage hatte Aidan in den letzten Wochen allerdings noch nicht für sich beantworten können. Auf der einen Seite war das Alpha-Team der I.A.T.F sein Zuhause geworden, auf der anderen wollte er das machen, was er schon immer gerne tat. Fliegen. Aber er wusste, dass seine Chancen bei der Air Force nicht unbedingt die Besten waren, schon gar nicht, wenn er dort so auftauchte, wie er gerade aussah.

»Musst du ja wissen.« Will wollte sich umdrehen, verharrte dann aber in seiner Bewegung. »Wenn du Hilfe brauchst …« 

»Ja ja.« Aidan winkte ab. Er wusste, dass er sich jederzeit an seine Kollegen wenden konnte, sollte er Unterstützung benötigen. Ob er es aber tatsächlich machen würde, wusste er nicht. Es gab Sachen, die er lieber für sich regelte. Und dazu gehörten familiäre Angelegenheiten. Er lachte leise auf.

Familiäre Angelegenheiten. 

Nie hätte er gedacht, dass er sich nochmal über solche Dinge Gedanken machen müsste. Familie war jahrelang kein Thema in seinem Leben gewesen. Bis er, von irgendwas getrieben, seinen Bruder besucht hatte und erstaunt darüber gewesen war, dass dieser ihn mit offenen Armen empfangen hatte. Mit seinen Eltern hatte er ebenfalls gesprochen, aber das Gespräch war unterkühlt und distanziert gewesen. So ganz anders, als man es sich vorstellte, wenn der Sohn nach einem langen Auslandseinsatz nach Hause kam. Es hatte weder eine überschwängliche Umarmung noch einen freundlichen Händedruck gegeben. Eine kühle Einladung auf einen Kaffee und ein kurzes Gespräch, welches immer wieder von langem Schweigen unterbrochen worden war, war alles gewesen. Sowohl er als auch seine Eltern hatten nicht gewusst, was sie sagen sollten. 

Der Blick in den Spiegel in seiner Stube, nur wenige Minuten später, ließ ihn aufstöhnen. Vertuschen oder gar überschminken konnte man dieses Veilchen ganz sicher nicht. Es half alles nichts, er musste so, wie er war, zu Sean. Er würde erklären müssen, was passiert war. Aidan ließ einen Finger über seinen rechten Wangenknochen gleiten. Wenigstens schmerzte es beim Berühren nur minimal. Er zog sein Handy aus der Hemdtasche und warf einen Blick auf das Display, aber es waren keine Nachrichten eingegangen, was ihn erleichtert durchatmen ließ. Seine Schwägerin hatte ihm versprochen, sich zu melden, sollte es nochmals Probleme geben. Seinem Bruder hätte er ein solches Versprechen nicht abgenommen. 

Zurück im Flur wurde Aidan von Werner und Nick im Vorbeigehen kurz skeptisch gemustert, aber die beiden Sanitäter sprachen ihn nicht an. 

Durchatmend stand er schließlich vor der Bürotür von Sean Harrison und Ryan DeSanto. Aidan hatte keine Ahnung, ob Ryan ebenfalls anwesend sein würde oder ob er sich alleine Sean stellen musste. Er war sich allerdings nicht sicher, was schlimmer sein würde. Beide Captains zusammen anzutreffen, hätte den Vorteil, dass Ryan unter Umständen dafür sorgen würde, dass Sean nicht völlig die Fassung verlor. Nur mit Harrison zu sprechen wäre wiederum ein schneller Weg mit nicht allzu langen Gesprächen, aber vielleicht mit der Gefahr, dass man ihn beurlaubte oder rauswarf. Aidan klopfte an die Tür und wartete darauf, hereingebeten zu werden. Nach langen Augenblicken, gerade bevor er ein zweites Mal klopfen wollte, ertönte Seans tiefe Stimme. Aidan öffnete die Tür und trat in das Büro, wo er erschrocken nicht nur Sean und Ryan entdeckte, sondern auch seinen ehemaligen Vorgesetzten Mike Lutrell. Der vormalige Commander stand am Fenster, während Sean und Ryan an ihren Schreibtischen saßen und ihm erwartungsvoll entgegensahen. Was zum Teufel tat der Commander hier? Aidan salutierte schluckend. Er fühlte sich in seiner Haut nicht wohl. Mit Lutrell hatte er absolut nicht gerechnet. Aber was könnte er wollen? Dass er in eine Schlägerei geraten war, konnte niemand wissen, gesehen hatten ihn bisher nur wenige und so schnell konnte diese Info Lutrell nicht erreicht haben.

»Was soll der Blödsinn?« Sean schüttelte den Kopf als Zeichen dafür, was er von dem salutieren hielt. Das war eine Geste, die sie intern und untereinander nie nutzten. Auch als er noch unter Lutrell gedient hatte, hatte er seinem Vorgesetzten, wenn sie alleine waren, nur selten diese Ehrerbietung entgegengebracht. »Wie hast du dich entschieden?« Sean deutete auf einen Umschlag, der auf seinem Schreibtisch lag. Aidan fiel es schwer, Sean anzusehen, da er den Blick von Mike Lutrell auf sich spüren konnte. Der bärtige Mann, der ihn mit einer Miene ansah, die er nicht deuten konnte, machte ihn weitaus nervöser als Sean und Ryan gemeinsam. Selbst die Frage, warum er salutiert hatte, hatte ihn nicht dermaßen verunsichert wie dieser Blick jetzt. Und warum fragte niemand, warum er aussah, wie er aussah? Aidan hatte damit gerechnet, dass diese Frage vor der nach seinem Versetzungsgesuch kommen würde. Aber es machte den Eindruck, als würden sie sein Aussehen ignorieren. 

»Ähm.« 

»Nicht ähm. Ich will eine finale Antwort, ob ich nun sinnlos Porto ausgeben soll, weil die das Ding in den Müll schmeißen, sobald sie deine Akte kennen, oder ob ich es hier entsorgen kann, du gleich zum Training gehst und anschließend den Termin bei Dr. Casterville wahrnimmst, damit du deinen Triazolamverbrauch in den Griff bekommst«, erklärte Sean immer noch total ruhig.

Der Name des Arztes war ihm zwar bekannt, dass er jedoch einen Termin bei ihm hatte, war ihm neu. Immer wieder erwischte er sich dabei, wie sein Blick von Sean zu Mike wanderte, als würde dieser ihm gleich die Frage beantworten, die er sich selbst stellte. Aber in der Mimik des Texaners änderte sich absolut gar nichts. 

»Ich …«, setzte er an und starrte seinen ehemaligen Commander an, der nun seinen Kopf minimal fragend auf die Seite legte. »Ich bleibe.« Aidan löste seinen Blick von Mike und sprach das aus, was er eigentlich nicht hatte aussprechen wollen. Aber bei Seans Worten war ihm nochmals bewusst geworden, wie schlecht seine Chancen bei der Air Force standen, selbst wenn er die Aufnahmeprüfungen bestehen würde. Sie würden ihn diese Prüfungen sogar wahrscheinlich nicht einmal absolvieren lassen. 

»Gut.« Sean zerriss den Umschlag und warf ihn in den Papierkorb. »Um halb sechs hast du einen Termin bei Dr. Casterville drüben im Verwaltungsgebäude. Erste Etage, ich glaub Zimmer hundertfünfunddreißig. Wegtreten.« Sean richtete seinen Blick wieder auf einige Dokumente. 

Aidan ließ seinen Blick kurz zu Ryan wandern, von dem er nicht wusste, ob er gerade überhaupt nur einmal von seinen Unterlagen aufgesehen hatte. Jetzt nickte er ihm nur knapp zu und deutete auf die Tür. 

»Okay.« Murmelnd drehte er sich um und verließ das Büro. Beim Schließen der Tür landete seine Aufmerksamkeit ein weiteres Mal bei Mike Lutrell und dieses Mal bildete er sich ein, dass dieser nickte. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, realisierte er, was genau gerade passiert war. Er hatte sich weitere Bedenkzeit erbitten wollen, aber er hatte mit seinen Worten dafür gesorgt, dass sein Traum von der Air Force zumindest für die nächsten Monate gestorben war. Und warum hatte Sean ihn nicht auf das Veilchen oder die anderen unübersehbaren Verletzungen in seinem Gesicht angesprochen? Unschlüssig sah er den Flur entlang. Aidan wusste, dass das Team sich heute den gesamten Tag, wie schon so oft in den letzten Wochen, im Killhouse aufhalten würde. Er wollte sich auf den Weg nach draußen machen, als sich die Tür hinter ihm öffnete. 

»Skotti? Auf ein Wort.« Mike Lutrell trat aus dem Büro und zog die Tür hinter sich wieder zu. Würde es bei einem Vieraugengespräch bleiben oder würden Sean und Ryan gleich dazukommen? Und würden die Spuren der Schlägerei nun zu Wort kommen? Hatte sein Captain seinen ehemaligen Vorgesetzten geschickt, damit er ihn darauf ansprach? Damit er ihn ausfragte?

Aidan hob interessiert die Augenbraue, als er sich zu Mike umdrehte. 

»Wie sieht der andere aus?« Mike deutete auf sein Gesicht.

»´Nen bisschen schlimmer.« Wenn er eines nicht konnte, war es seinem ehemaligen Vorgesetzten ins Gesicht zu lügen. 

»Nur ein bisschen? Dann hast du nachgelassen. Was war der Grund?« 

Aidan stieß amüsiert die Luft aus. Ja, womöglich hatte er nachgelassen, vielleicht hatte er sich auch nur ausreichend unter Kontrolle gehabt. Sonst wäre die Angelegenheit wohl völlig eskaliert.

»Geld.« Er wich dem Blick des ehemaligen Commanders aus.

»Hast du Geldprobleme? Dann solltest du mit Sean sprechen.« Mike Lutrells Aufmerksamkeit lag voll auf ihm. Aidan konnte den sorgenvollen Blick kaum ertragen. 

»Ich nicht.« Er schüttelte den Kopf und wusste, dass er nicht mehr umhinkommen würde, zumindest Mike reinen Wein einzuschenken.

»Auf die Geschichte bin ich gespannt.« 

»Es war nichts Wildes, wirklich nicht.« Würde Mike diese Worte so im Raum stehen lassen? 

»Okay, wenn das nichts Wildes ist, dann lass uns über was anderes sprechen, was ich als durchaus wild empfinde. Wann hat das mit deinem Schlafproblem angefangen? In Bagram warst du doch immer clean.« 

»Danach.« Aidan wollte nicht über seine Tablettensucht reden. Alleine schon aus dem Grund nicht, weil er sich selbst nicht für süchtig hielt. Sein größtes Problem war sein Schlafmangel, und das würde er alleine lösen. Seine Befürchtung, dass sein ehemaliger Vorgesetzter ihn nun belehrte, trat jedoch nicht ein. Mike strich sich über das Kinn und nickte nach einer gefühlten Ewigkeit bedächtig. 

»Schlafmangel ist ein Arsch. Würde es dich stören, wenn ich mal schaue, wie ihr euch so schlagt? Wir konnten ja nie trainieren.« Mike zwinkerte ihm nach dem schnellen Themenwechsel zu.

»Kein Problem.« Er fügte nicht hinzu, dass das, was sie hier taten, beinahe langweilig war. In Afghanistan hatten sie zwar nie Zeit gehabt, um ihre Vorgehensweisen zu üben oder gar im Nachhinein mit Videos zu analysieren, dafür hatten sie Unmengen Häuser von innen gesehen und hunderte Ortschaften ausgekundschaftet. Ihr Training waren die täglichen Einsätze gewesen. Die sich ständig ändernden Gegebenheiten. Das war nicht mit dem zu vergleichen, was sie hier taten. Auch wenn sie die Wände im Killhouse umstellen konnten und die Räume immer wieder neu aufteilten, so hatte er alle Variablen inzwischen so oft durchgespielt, dass er es mit verbundenen Augen schaffen würde. Das war völlig anders als die Realität. Hier gab es keinen Raum, in dem die Decke unter zwei Meter hoch war, oder an dessen Boden Mist von Tieren lag. Hier liefen sie nicht Gefahr, von Querschlägern getroffen zu werden, die von den steinigen Wänden abprallten. Hier waren es Kugeln, die durch die Holzwände schlugen und deswegen gefährlich werden konnten. Vieles, was er bereits live erlebt hatte, konnten sie hier nicht im Ansatz nachstellen. 

Schweigend kamen sie an dem großen grauen Betonbau an, in dem Schüsse und Explosionen zu hören waren.

»Sean sagte, ihr geht in den nächsten Tagen nochmal aufs Gelände, am Häuserkampf feilen«, erklärte Mike, als Aidan die Tür zum sicheren Bereich des Killhouses öffnete. Sie gingen die hölzerne Treppe hinauf und fanden sich kurz darauf auf einer Balustrade wieder, von der man nach unten in die Räume schauen konnte. Es dauerte nur wenige Minuten, ehe sie von einigen seiner Kollegen bemerkt wurden, die sich darüber freuten, Mike zu sehen. 

Aufgrund von Mikes Besuch wurde das Training für eine halbe Stunde unterbrochen, ehe auch Aidan sich im unteren Bereich seinen Aufgaben stellen musste. Allerdings waren seine Gedanken immer noch bei dem Moment, in dem Sean die Unterlagen zerrissen und entsorgt hatte. Sein Traum war es schon immer gewesen, zu fliegen, nun lag er in kleinen Stücken im Papierkorb. Dass seine Chancen mehr als schlecht gestanden hätten, hätte das Gesuch Seans Schreibtisch verlassen, verdrängte er.

»Pass doch auf.« 

Das Licht um sie herum flammte auf und ihm wurde klar, dass er gerade seinen Kollegen Dennis erschossen hätte, hätten sie mit scharfer Munition gearbeitet. 

»Das war mein Quadrant«, ranzte Dennis ihn nun an, der nur einen knappen Meter von Aidan entfernt genau dort war, wo er zu stehen hatte. Aidan selbst bemerkte, dass er an einer Position stand, die es nicht in ihrer Aufteilung gab. 

»Skotti, wach auf!«, blaffte Bear von der Balustrade aus. »Nochmal!«

Aidan warf einen Blick nach oben, konnte aber gegen das Licht nur die Konturen seiner dort stehenden Kollegen erkennen. Dass nicht mehr gesagt wurde außer ein Nochmal, begründete er damit, dass Mike ebenfalls dort oben stand. Wobei ihm sein Versagen unter Mikes Augen sauer aufstieß. Sein ehemaliger Vorgesetzter war es gewohnt, dass sie hundert Prozent perfekt ihre Aufgaben erledigten und nicht, dass sie im Kreuzfeuer eigene Leute umbrachten. Das war ihm in all den Jahren im Einsatz nie passiert und er schob es auf die Routine in diesem tristen Betonklotz, in dem er nicht ausblenden konnte, dass es nur eine Übung war. Im Ernstfall würde er nicht versagen.