Mission Withdrawal – Tage der Verzweiflung

1.

                    

Krachend flog eine Tür im Flur gegen eine Wand und sorgte so dafür, dass sie ihre Gespräche in der großen Küche unterbrachen.

»Die sind doch alle bescheuert, das können die doch nicht ernst meinen!«, blaffte Ryan DeSanto so laut, dass man ihn vermutlich im gesamten Gebäude hören konnte.

»Jhesus, wenn wir den Befehl haben, müssen wir das machen!«, bellte Sean Harrison nicht weniger leise den Captain des Bravo-Teams an.

»Befehl, wenn ich das schon höre. Als wenn du dich immer an Befehle hältst, Harrison«, blaffte Ryan nun Sean an.

»Was soll ich machen? Ich kann ja schlecht sagen, alle bleiben da. Du weißt ebenso gut wie ich und alle anderen, dass es hier um politische Entscheidungen geht, denen wir uns beugen müssen.« Sean mit solch bodenständigen Argumenten zu hören war ungewöhnlich. Yvonne konnte die Wut und Enttäuschung der beiden Männer im Flur bis hierher in die Küche spüren.

»Das ist Wahnsinn. Was soll denn aus den Kindern werden? Und den Frauen? Und denen, die aktuell da studieren, die verlieren doch alles! Oder glaubst du, man lässt sie weiter-machen? Die sind doch dem Tod geweiht«, erwiderte Ryan immer noch aufgebracht.

»Die Taliban haben versprochen …«

»Harrison, hörst du dir gerade selbst zu? Die und was versprechen? Hast du je einem von denen vertraut? Auch wenn wir ab und an mit ihnen zusammengearbeitet haben, habe ich ihnen nicht vertraut. Die schießen dir doch in den Rücken, wenn es von Vorteil für sie ist. Erzähl doch nicht so eine Scheiße. Wenn wir da weggehen, war das alles umsonst. Zwanzig beschissene Jahre wofür? Für nichts, verdammt!« Ryans Emotionen kochten über, als er Sean unterbrach.

In der Küche schien jeder die Luft anzuhalten. Viele von ihnen sahen es wie Ryan. Yvonne wusste, dass auch Sean dieser Meinung war. Zwei Jahrzehnte des Krieges würden innerhalb weniger Monate nur eines hinterlassen – tiefe Narben bei allen. All die, die gefallen waren, das, was sie erreicht hatten, würde schnell aus den Erinnerungen der Bevölkerung verschwinden, wie es so oft passierte, wenn nicht mehr aus Krisengebieten berichtet wurde. Sie wussten es und sie alle verstanden nicht, warum die Politiker es nicht auch so sahen. Warum hörte man auf den Teil der Bevölkerung, der sagte, die Soldaten sollten heimkommen? Warum sah niemand das Leid der Menschen in Afghanistan? Warum verstand niemand, welches Elend auf diese Familien zukam? Wie konnte man da wegschauen?

»Wir haben ihnen wenigstens den Weg gezeigt.« Seans Erwiderung war leise und schien dem aufbrausenden Gespräch mit einem Mal die Luft zu nehmen.

Ryan schwieg eine Weile, bevor er frustriert aufseufzte. »Ich begreif das nicht.«

Yvonne war zu einer Zeit in das Team gekommen, in der noch alle davon ausgegangen waren, dass es gelingen würde, alle Terroristenführer zu töten oder gefangen zu nehmen und den Afghanen ein friedliches Leben zu ermöglichen. Nur wenige hatten schon damals befürchtet, dass sie gegen Windmühlen kämpfen würden. Nun, wo sie Milazim endlich gefasst hatten, würde man Afghanistan sich selbst überlassen. Aber das wäre wohl so oder so passiert. Der Plan des Abzuges stand seit langer Zeit und ebenso lange wurden die Diskussionen geführt, die gerade hochgekocht waren. Die einen fanden es gut, dass die Soldaten endlich nach Hause kamen und dass die tägliche Angst vor Sprengfallen, Angriffen und dem Tod im Hindukusch enden würde. Die anderen litten unter der Vorstellung, dass die Kinder und Jugendlichen, die Frauen und alle, die begonnen hatten, das angstfreie Leben auszukosten, nun wieder jeden Tag in Angst leben mussten.

Im Prinzip kannte jeder, der einmal in Afghanistan stationiert gewesen war, einen Einheimischen. Je länger man vor Ort war, desto besser kannte man die Menschen dort. Teilweise entwickelten sich vorsichtige Freundschaften. Vorsichtig deshalb, weil das Vertrauen nie komplett da war. Diese Verbündeten nun im Stich zu lassen machte vielen auch dann zu schaffen, wenn diese Bruderschaften nur während der Einsätze gepflegt worden waren.

Die Taliban hatten versprochen, dass Frauen studieren und Mädchen weiterhin zur Schule gehen dürften, aber niemand glaubte an diese Versprechen. Wochenlang hatten hunderte Menschen versucht, Gefährdungsprofile für die Personen zu erstellen, die jahrelang für die USA in Afghanistan gearbeitet hatten.

Übersetzer, Handwerker, Informanten, Händler. Für die, die mit dem Abzug am stärksten gefährdet waren.

Aber nur wenige dieser Dokumente waren fertig und genehmigt und noch weniger der Mitarbeiter waren ausgeflogen worden. Sie bekamen täglich Bilder zu sehen, die sie nur schwer ertragen konnten. Alles, was nicht in die Heimat geholt werden konnte, wurde unbrauchbar gemacht. Fahrzeugen wurden die Kabelbäume entrissen. Computer und medizinische Geräte wurden zerschlagen und so in Bagram zurückgelassen. Nach und nach wurde alles, was nicht nach Hause sollte, mit roher Gewalt zertrümmert. Das, was viele von ihnen unter Einsatz ihres Lebens ins Land gebracht hatten. Teilweise wurden zehn-tausende Dosen Bier ausgeflogen, während Fahrzeuge zerstört wurden. Die Fahrzeuge und die Technik sollten nicht in die Hände der Taliban fallen. Und um alles außer Landes zu bringen, fehlte die Zeit. Schließlich konnte man nicht in wenigen Monaten das Material bewegen, welches man in Jahren ins Land gebracht hatte. Dazu wäre es mit so enormen Kosten verbunden, dass man sich dagegen entschieden hatte. Das Bier würde in Kabul niemand trinken. Wer allerdings entschieden hatte, dass es kostentechnisch in Ordnung war, es auszufliegen und nicht auf dem staubigen Boden Afghanistans zu verteilen, wusste niemand. Es war ein nur schwer zu ertragendes Schauspiel, welches sich jeden Tag weiter dem Finale näherte. Dem Tag, an dem der letzte ausländische Soldat das Land verlassen würde. Und jeder von ihnen hatte ein ungutes Gefühl in der Magengegend, was diesen Augenblick betraf. Keiner konnte sich vorstellen, dass die Taliban sie einfach abziehen lassen würden. Selbst wenn die Führung es anordnen sollte, gab es viele Zellen, die es ausnutzen könnten, dass sie in diesem Moment ohne Schutz, ohne Rückendeckung wären. Was, wenn die Letzten von ihnen bei dem Abzug umkommen würden? Dann würden die Taliban sich als Gewinner des Krieges feiern. Sie ließen es ohnehin schon wie einen Sieg ihrer Seite aussehen, dass die Truppen endlich abzogen.

Sie hatten diesen Krieg ausgesessen.

Zwei Jahrzehnte hatten sie mit mehr oder weniger gezielten Nadelstichen dafür gesorgt, dass die Weltbevölkerung nur noch eines wollte: Dass ihre Kämpfer, ihre Söhne und Töchter wieder in den sicheren Hafen der Heimat kamen, weil niemand mehr auf Dauer mit dem Unwissen über den nächsten Angriff leben wollte. Weil man es leid war, dass man diesen Terror in zwanzig Jahren nicht hatte beseitigen können. Dass zwanzig Jahre etliche Milliarden Dollar, Euro und viele andere Währungen in einen Krieg geflossen waren, der unberechenbar und nicht zu gewinnen war.

Es war und blieb ein riesiger Berg an Pros und Kontras. Yvonne war sich sicher, dass es nie eine wirkliche Einigung geben würde. Selbst dann nicht, wenn Afghanistan tatsächlich ein Land ohne Terror werden würde, wie die Taliban es versprochen hatten. Überall, wo die Soldaten nun abgezogen waren, übernahmen sie das Regiment. Und das in ihrer typischen Art. Mit Motorrädern oder Autos fielen sie in die Dörfer und Städte ein. In die Luft schießend und Fahnen schwenkend ließen sie sich feiern. Diejenigen, von denen sie dachten, sie könnten ihnen gefährlich werden, wurden zwar nicht getötet, aber ihnen wurde gedroht. Niemand wusste, wie lange es bei diesen Drohungen blieb. Vielleicht würde man sie abschlachten, sobald der letzte ausländische Soldat verschwunden war.

»Training fällt aus. Briefing in zehn Minuten.« Sean war in der Küchentür aufgetaucht, sah aber niemanden an, sondern tippte auf seinem Handy herum. Yvonne vermutete, dass er eine Nachricht verschickte, um die fehlenden Kollegen herzu-beordern. Einigen konnte sie ansehen, dass sie froh waren, dass das Training heute nicht mehr stattfand. Ob das auch nach dem Briefing noch so sein würde, bezweifelte sie.

»Ich hab kein gutes Gefühl dabei.«

Sie konnte Joes geflüsterte Worte hören.

Auch ihr war nicht wohl bei der Sache. Es war, als würde sich ein Schatten über das Team und die gesamte Coronado Base legen. Sie ahnten alle bereits seit einer Weile, dass es sie noch ein letztes Mal nach Afghanistan führen würde. Für einige von ihnen würde es schwer werden, das Land seinem Schicksal zu überlassen. Yvonne hatte nicht so viele Bezugspunkte zu Land und Leuten wie zum Beispiel Joe, der Wesley gegenüber-saß. Die beiden Männer hatten zusammen mit einigen anderen mehr Einsätze dort hinter sich gebracht als viele andere. Sie hatten viele Kameraden gerettet und einige verloren. Aber immer hatten sie dafür gesorgt, dass diese Kameraden nach Hause kamen. Und sie hatten mit vielen anderen im Laufe der Jahre versucht, das Land von seinem mittelalterlichen Glauben und den Terroristen zu befreien. Sie hatten den Menschen den Weg zu Bildung und somit zu Wohlstand ebnen wollen und scheiterten jetzt.

»Ich auch nicht.« Wesleys ebenso leise Antwort registrierte sie kaum, da Syrell nach ihrer Hand griff. Er stand neben ihr und sah zu ihr herunter. »Komm.« Flüsternd forderte er sie auf, aufzustehen. Eigentlich könnte sie hier sitzen bleiben. Wahrscheinlich würden weder Sean noch Ryan sich daran stören, wenn sie beim Briefing nicht anwesend war. Dann würden ihre Vorgesetzten davon ausgehen, dass Syrell in den Einsatz gehen und sie hier bleiben und ihre Tochter hüten würde.

»Ich gehe, kein Widerspruch. Da kann alles passieren«, erklärte ihr Mann ihr, als sie neben ihm stand.

»Es kann immer überall alles passieren. Du tust gerade so, als wären unsere Einsätze unterschiedlich gefährlich.« Yvonne rang mit einem Gefühl, welches langsam in ihr emporstieg. Syrell hatte sie seit der Geburt ihrer Tochter noch nicht wieder auf einen Einsatz gelassen. Selbst die kleinsten und kürzesten Missionen hatte er mit ähnlichen Gründen wie gerade selbst übernommen. Sie warf einen schnellen Blick an ihm vorbei. Die Küche hatte sich bereits geleert.

»Bitte.« Syrell griff auch nach ihrer anderen Hand. »Es …«

»Es wird immer gefährlich sein. Darüber waren wir uns von Anfang an im Klaren.« Sie musste sich zwingen, ruhig zu bleiben. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie eines Tages nur noch daheim sitzen würde, um sich um Kind, Haushalt und Hund zu kümmern. Sie war davon ausgegangen, dass sie wieder mit ihren Kameraden auf Missionen gehen würde. Dass sie selbst wieder das Adrenalin spüren würde.

Syrell stieß die Luft aus. Ihm war bestimmt klar, dass sie diese Diskussion nicht hier und jetzt führen und schon gar nicht hier und jetzt beenden würden.

Aber sie müssten sie führen, damit sie nicht an ihrer Beziehung erstickten.

 

 

2.

 

Das, was als Briefing begonnen hatte, endete zwei Stunden später in einer heftigen Diskussionsrunde im Keller an den Käfigen, in denen sie ihre Ausrüstung aufbewahrten. Lexi hatte sich bereits aus den immer lauter werdenden Argumentationen ausgeklinkt und warf prüfend einen Blick auf ihr Equipment. Im Hintergrund vernahm sie das Gespräch von Sean und Syrell, in dem es darum ging, dass Syrell seinem Freund und Vorgesetzten dafür dankte, dass er Yvonne bei diesem Einsatz noch freigestellt hatte. Ihr war allerdings nicht entgangen, dass Yvonne durchaus bereit gewesen wäre, nach Kabul zu gehen. Sie hatte zwar nicht darum gebettelt, aber doch klar gemacht, dass es für sie an der Zeit wäre, wieder vom Herd an die Front zu kommen. Lexi stellte sich die Frage, ob es später in den heimischen vier Wänden des Paares zu einem Streit kommen würde. Stritten Yvonne und Syrell überhaupt? Die beiden verstanden sich ohne Worte und waren durch irgendetwas miteinander verbunden, von dem niemand auch nur irgendeine Ahnung hatte.

Lexi riss sich selbst mit einem Kopfschütteln aus ihren Gedanken, als sie ein zweites Paar Ersatzbatterien in die Seitentasche ihres Rucksackes gleiten ließ und dann die Taschenlampe hineinschob. Es ging sie nichts an.

Würde sie mit Joe in einen Streit geraten, wenn sie in einer ähnlichen Situation wäre? Aber schon der Gedanke daran, dass sie ein Kind, ihr Kind, in den Armen halten könnte, erstickte die Überlegung. Kinder lagen ihr nicht. Sie wollte keine. Wie sollte sie einem Kind das erklären, was in der Welt geschah und wie es davor beschützen? Sollte sie ihm von Beginn an beibringen, wie man kämpfte? Auch wenn es ihr im Blut lag, ihr Kind sollte das nicht müssen. Es sollte nicht den Hass spüren, wenn es Nachrichten aus Krisengebieten und von Verbrechen sah. Da blieb sie lieber ohne Kinder und gab ihre Kraft und notfalls ihr Leben dafür, dass die Kinder anderer in Sicherheit leben konnten. Selbst wenn diese nur wenige Jahre hielt. Vor allem der letzte Teil ihrer Gedanken ließ sie mit den Zähnen knirschen. Sie sollten nicht nur kurz, sondern immer in Frieden leben können. Ihre Beschützer sollten nicht wie feige Hunde weglaufen, weil es anstrengend, ungemütlich oder zu teuer wurde. Überhaupt sollte man Frieden nicht mit Geld erkaufen oder aufwiegen.

»Hey.«

Lexi sah auf. Joe stand in der Tür ihres Käfigs. Sein Anblick brachte sie zu der Frage, wie oft Paare gemeinsam in einen Einsatz gingen und wie oft dann Kinder im Spiel waren, die ohne Eltern in der Heimat blieben. Wurden diese Kinder je wieder glücklich, wenn sie die Eltern im Einsatz verloren?

»Hey.« Sie ging auf ihn zu und gab ihm einen sanften Kuss. Spätestens in Kabul würde sie auf die Zärtlichkeiten verzichten. Dann mussten sie die Gefühle hintanstellen. Etwas, das ihr bisher nie schwergefallen war. Sie war sich sicher, ihr würde es auch dieses Mal gelingen. Sie war in der Lage, einen Schalter umzulegen.

»Komisches Gefühl, oder?« Fragend sah er an ihr vorbei auf ihre Tasche.

»Ja.« Dieses Gefühl ließ sich nicht beschreiben. Rückblickend brannte der Konflikt in Afghanistan schon ihr ganzes Leben. In Wirklichkeit seit ihrem sechsten Lebensjahr. Aber damals hatte sie sich noch nicht damit beschäftigt. Es war alles weit weg gewesen und die Erwachsenen hatten ab und an davon gesprochen. Nach dem Ende ihrer Schulzeit und dem Beginn in der Navy hatte es dann tatsächlich nichts anderes mehr gegeben. Ihr lockeres Mundwerk und ihre aufmüpfige Art hatte sie nicht nur hier her, zu dem Mann gebracht, den sie liebte und der dafür einen langen Weg gegangen war, sie hatte auch Jahre in Afghanistan verbracht. Bagram war eine Art Heimat geworden. Ein Leben auf dem Stützpunkt, der wie eine Großstadt alles geboten hatte, was man benötigte. Sie hatte eiskalte Nächte im stockfinsteren Hindukusch erlebt und ebenso die heißen Tage. Es war normal gewesen, bei jedem Schritt und jeder Fahrt außerhalb des Geländes auf jeden Menschen zu achten und immer den Blick auf dem Boden und der Umgebung zu haben, um Sprengfallen oder Hinterhalten zu entgehen. Sie hatte unzählige schwere Verletzungen gesehen. Millionen an Schmerzensschreien gehört und die verzweifelten Bitten, man möge sie retten, hatte sie nie gezählt. Zu oft hatten sie tote Kameraden bergen müssen. Es war ein Alltag gewesen, der sie zwischen Kugelhagel und Tod abgestumpft hatte. Einige Kollegen hatten diesen Irrsinn mit in die Heimat genommen. Sie wurden davon verfolgt. Er klebte an ihnen wie alte Kaugummis auf den Straßen San Diegos. Sie verschwanden nie vollständig und wenn doch, hinterließen sie tiefe Narben. Lexi schätzte sich glücklich, dass sie mit diesen Kaugummis leben konnte. Dass sie sich nicht daran störte. Sie waren vielleicht da, aber es war ihr egal. Sie beachtete sie nicht weiter. Sie hatte sich über die Jahre einen Platz in dem harten Gefüge der Armee gesucht und gefunden. Ihre männlichen Kollegen hatten sie akzeptiert und das nicht nur, weil auch sie ihren Trieben hin und wieder erlegen war. Sie hatte ihre Gefühle immer an- und ausschalten können, wie eine Lampe und sie war mit ihnen umgegangen wie mit wertvollem Strom in einem Land, in dem es ihn nicht überall gab. Nun brannte die Liebe fast durchgehend, aber der Irrsinn war in Afghanistan geblieben. Er hatte nicht geendet, als sie mit ihren Kameraden nach San Diego gekommen war.

In zwei Wochen wären die Einsätze in Afghanistan Ver-gangenheit. Nie wieder sollten Soldaten dort das erleben, was sie erlebt hatten. Es war ein wirklich seltsames Gefühl. Eine zuknallende Gittertür holte sie endgültig aus ihrer Grübelei. Es war keine Zeit mehr, um sich über die Vergangenheit Gedanken zu machen. Außerdem war sie der Ansicht, dass es nichts brachte, wenn sie sich nun Sorgen um die Zukunft des Landes machte. Sie hatte dort ihren Job gemacht, mit Menschen, die in zwei Jahrzehnten nicht dazu bereit gewesen waren, von ihrem mittelalterlichen Gedankengut abzulassen.

»Hast du alles?«

»Ich glaube ja. Notfalls packe ich es heute Nacht ein.« Lexi vergaß eigentlich nie etwas. Aber es war bereits vorgekommen, dass sie wenige Stunden vor dem Aufbruch noch etwas eingepackt hatte, von dem sie dachte, sie könnte es brauchen.

»Ich seh dich schon laufen. Lass uns was essen gehen. Die nächsten Tage gibt es bestimmt nur irgendwelche Reste, die sie noch gefunden haben, weil alles andere bereits nach Hause geflogen wurde …«

»Oder sie haben es an die Einheimischen verkauft«, warf Wesley ein.

»Ach komm, Alkohol dürfen sie nicht und das Schweine-fleisch wollen viele mit Sicherheit nicht haben«, legte Bear nun nach.

»Das sollte dich als bekennenden Fleischesser doch freuen, dann findet sich bestimmt das ein oder andere Stück, das du dann über einer alten Öltonne grillen kannst.« Nick lachte auf.

»Werd nicht frech Kleiner, wer weiß, wie viel verkohltes Fleisch du da zu sehen bekommst.« Bears Worte, die sich nicht auf Grillfleisch bezogen, erstickten die aufkommende gute Laune im Keim.

Niemand von ihnen wusste, wie die Stimmung vor Ort war. Sie mussten sich auf das verlassen, was man ihnen zugetragen hatte. Unter Umständen war jeder Schritt, den sie taten, lebensgefährlich, da sie zu jeder Zeit im Visier derer waren, die es nun feierten, dass sie das Land verließen. Lexi fürchtete das Gefühl, dass ständig der rote Dot eines Gewehrs auf ihr liegen könnte. Wahrscheinlich stellten sich die Schützen dann nur die Frage, ob es sinnvoll war, ein Gefecht zu beginnen. Sie hoffte, dass es nicht zu einer solchen Situation kommen würde. Eine innere Stimme sagte ihr, dass sie in der Unterzahl wären und sie keine Chance zur Flucht haben würden.

Sie ließ sich von Joe aus ihrem Käfig ziehen, nachdem sie einen letzten Blick auf ihre gepackten Taschen und die Waffen geworfen hatte. Es war alles dort, wo es sein musste, um am Morgen aufzubrechen.

»Wer ist eigentlich mit kochen dran?« Dennis Frage ließ sie zu Joe sehen. Sie hatte keine Ahnung und keine Lust, jetzt für die ganze Mannschaft kochen zu müssen. An diese Aufgabe hatte sie sich zwar gewöhnt, aber es gehörte nicht zu dem, was sie am liebsten tat. Ihr war es lieber, sich an den gedeckten Tisch zu setzen.

»LittleOne«, antworteten Nick und Syrell gleichzeitig.

Sie warf einen fragenden Blick zu Joe. Nicht, dass sie das Essen ihres Kollegen verschmähte, seine asiatische Küche war sehr gut, aber der Gedanke, dass es nun noch Stunden dauern konnte, bis er mit den Vorbereitungen fertig war, passte ihr nicht. Konnte sie ihren Freund dazu überreden, irgendwo essen zu gehen?

»Ja, gleich.« Nuyen trat aus seinem Käfig und strich sich durch die glatten, dunklen Haare. »Ich fange gleich an.«

»Klar. Und dann bist du in drei Stunden soweit, dass die erste Herdplatte an ist. Da lobe ich mir ein großes Stück Fleisch, das man einfach so auf den Grill schmeißen kann.« Bears Einwurf ließ Lexi grinsen. Er hatte ihren Gedanken ausgesprochen. »Nichts gegen deine Kochkünste«, bekräftigte Bear nun ebenfalls, als fürchte er um einen Kochstreit, den es ab und an zwischen einzelnen von ihnen gab.

»Falls es dir entgangen ist, ich war schon um drei auf und habe extra alles vorbereitet, damit ihr nicht wieder rumheult, es würde zu lange dauern. Ihr könntet mir auch mal helfen, dann würdet ihr wenigstens lernen, dass es nicht immer das Schwein auf Toast sein muss.« Mit einem Krachen warf Nuyen seine Käfigtür ins Schloss. Mit finsterer Miene ging er an ihnen vorbei zur Treppe und war schneller verschwunden, als ihr passende Worte eingefallen waren. Recht geben wollte sie ihm nicht, aber sie hatte das Gefühl, dass er gerade der Meinung war, dass niemand sein Essen wertschätzte. Und das entsprach absolut nicht den Tatsachen. Das Problem war die sich hinziehende Vorbereitungszeit. Das passte oft einfach nicht zu ihrem Job. »Oh, Vorsicht. Nicht dass er uns Kugelfisch ins Essen mischt.«

»Hör doch auf, du magst es doch auch. Es ist halt mit mehr Arbeit verbunden«, platzte es, an Bear gerichtet, aus Lexi heraus, der nur unschuldig mit den Schultern zuckte. »Komm.« Lexi griff nach Joes Hand, der sie irgendwann losgelassen haben musste.

»Essen gehen?« Joes geflüsterte Worte erreichten sie wenige Schritte vor der Treppe, er wollte der Wartezeit ganz offensichtlich ebenfalls entgehen.

»Ne, wir helfen dem Kleinen.«

Dass Joe sie verwundert von der Seite ansah, bemerkte sie zwar, aber sie zwang sich, nicht zu reagieren. Ihr war bewusst, dass es nicht ihre Art war, Nuyen zu helfen. Sie wusste aber auch nicht, was genau sie zu diesem Sinneswandel bewegt hatte. Vielleicht war es der verzweifelte Versuch, sich abzulenken, um nicht an die kommenden Tage zu denken.