Team IATF 10

Codename Phoenix – Verschollen im Nirgendwo Leseprobe

1.

»Gambit, hast du Casanova gesehen?« 

Joe schreckte von der Hantelbank hoch, als Commander Lutrell neben ihm auftauchte. Seine Gedanken rasten, ehe er ein »Nein, Sir« hervorbrachte und gleichzeitig wusste, dass er seinen Vorgesetzten anlog. Gleich würde Lutrell ihn brüllend zur Schnecke machen und verlangen, dass er die Wahrheit sagte. 

»Okay.« Commander Lutrell machte kehrt und verschwand aus dem Kraftraum der Bagram Airbase. 

Joe starrte seinem Vorgesetzten erstaunt nach. 

Okay? Mehr nicht? Einfach nur Okay? Das war so gar nicht Lutrells Art.

Normalerweise konnte der Commander Lügen Meilen gegen den Wind riechen. Joe wusste durchaus, wo sein Kollege sich zu diesem Zeitpunkt aufhielt. Wesley, der von allen nur Casanova genannt wurde, hatte sich unerlaubt vom Stützpunkt entfernt, um sich mit seiner derzeitigen Affäre zu treffen. Sollte Lutrell das rausbekommen, und das würde er sicher, würde es Ärger geben. Nicht die Art Ärger, die sie ohnehin jeden Tag wegen nicht gemachter Betten und unaufgeräumter Schränke hatten. Es würde die Art Ärger werden, nach der Casanova seine Sachen packen könnte und nie wieder einen Fuß auf einen Armystützpunkt setzen dürfte. Seit den Überfällen und Anschlägen der letzten Tage galten strenge Regeln. Niemand durfte das Gelände verlassen, niemand kam rein. Und jeder, der sich nicht an die Regeln hielt, war seinen Job los. 

Verfluchte Scheiße. 

Joe sprang auf und rannte hinter seinem Vorgesetzten her. Irgendetwas war nicht in Ordnung und er wollte wissen, was dieses Irgendetwas war. Lutrell hatte die Ausgangstür bereits erreicht, was bedeutete, dass er wesentlich schneller unterwegs war als sonst. 

»Sir?« Wie er diese Ansprache hasste. Zum Glück blieb Lutrell stehen. Was sollte er jetzt sagen? Sollte er direkt erwähnen, dass er sehr wohl wusste, wo Casanova war? Sollte er fragen, warum sein Kollege gesucht wurde? 

»Nicht hier. In fünf Minuten in meinem Büro. Bringen Sie Kaffee mit.« Der Commander zog die Tür auf und verschwand nach draußen, ohne ihn angesehen zu haben. Ja, etwas war definitiv nicht in Ordnung, und es war keine Kleinigkeit. Ins Büro wurde er regelmäßig zitiert, aber nie in diesem Ton und schon gar nicht mit der Bitte, Kaffee mitzubringen. 

Fünf Minuten später betrat er mit einem Becher Kaffee das Büro von Lutrell. 

»Tür zu, Joe«, blaffte dieser, ohne von seinen Papieren aufzusehen. 

»Aye.« Irritiert, da er noch mitten in der Tür stand, als der Befehl kam, zog er die Tür hinter sich zu und stellte den Kaffee ungefragt auf den Schreibtisch. Wenn er Pech hatte, würde Lutrell ihn nun einen Kopf kürzer machen. Im Geiste ging er seine Verfehlungen der letzten achtundvierzig Stunden durch, war sich aber sicher, dass nichts davon die Laune des Commanders erklären konnte.

»Wo ist er?« Lutrell hob seinen Kopf und sein Blick bohrte sich in ihn.

»Bei seiner Neuen im Dorf.« Joe atmete aus, mit der Befürchtung, nie wieder einatmen zu können.

»Hol ihn her, sofort! Setz ihn an den PC. Lass ihn den Chatverlauf von Flynt und Lancaster überprüfen. Und dann soll er rausbekommen, wo Flynt hier abgestiegen ist. Von wo er sich in das System eingehackt hat und wo er jetzt ist!«, blaffte sein Gegenüber. 

»Hat man sie gefunden?« Inständig hoffte Joe, dass man die Kommunikationsoffizierin und die Soldatinnen endlich gefunden hatte, die seit dem Überfall vor einer Woche vermisst wurden.

»Nein, oder vielleicht doch. Keine Ahnung. Auf alle Fälle ist Warrant Officer Class 1 Harry Flynt ebenfalls verschwunden. Es gibt seit vierundzwanzig Stunden kein Lebenszeichen mehr von ihm. Hol Wesley her, tritt ihm in den Arsch. Der soll aus dem Bett raus und herkommen. Wegtreten.«

»Aye.« Joe Burnett, der den Spitznamen Gambit trug, drehte sich um und trat aus dem Büro. Erst als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete er tief durch. Er musste seinen Kollegen Wesley Stone, der nicht umsonst seinen Spitznamen trug, finden. Vor allem musste er ihn schnell finden. So aufgebracht war Lutrell nicht mal direkt nach dem Anschlag gewesen. 

»Ach, und Gambit?« 

Er zuckte zusammen, als der Commander hinter ihm die Tür aufriss.

»Ja?« Er drehte sich um.

»Schaff mir Ferret her. Sofort!«, bellte Lutrell so laut, dass ein Soldat, der in der Nähe stand, zusammenzuckte. 

»Aye Sir.« Joes Herz begann zu rasen. So kannte er seinen Vorgesetzten nicht. Die Lage musste ernst sein, sehr ernst. Im Laufschritt machte er sich auf den Weg aus dem Gebäude. Vor der Tür schlug ihm ein frischer Wind entgegen und die Sonne ging bereits unter. Hoffentlich war Wesley genau dort, wo er ihn vermutete. Er hatte wenig Lust, seinen Kollegen lange zu suchen. In einiger Entfernung stand ein Humvee, von dem er wusste, dass der Schlüssel steckte, da der Wagen schon vor zwei Tagen von der Werkstatt hätte abgeholt werden sollen. Aber bisher hatte sich niemand blicken lassen. Leicht außer Atem erreichte Joe den Wagen, riss die Tür auf und zuckte zusammen, als er seinen Kollegen Steve entdeckte, der sich im Fußraum des Wagens an Kabeln zu schaffen machte.

»Sheep. Alter«, knurrte er den sechsundzwanzigjährigen Mann an, der mit seiner wirren schwarzen Haarpracht, die an das Fell eines Schafes erinnerte, verblüfft zu ihm aufsah. Seinen Spitznamen hatte er schon in seiner Ausbildung erhalten. ‚Sheep‘ war wohl nicht nur wegen der Haare passend, sondern auch, weil er oft etwas anders funktionierte als andere. Er war halt das schwarze Schaf. 

»Boah, sag mal, willst du mich zu Tode erschrecken?« Der dunkelhäutige Mann starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

»Ich dich? Was machst du hier?« Joes Herzschlag beruhigte sich langsam wieder.

»Ähm, die Kiste reparieren?« Fragend und eindeutig verwundert sah Steve ihn an.

»Läuft das Teil? Ich muss Casanova finden. Irgendwo brennt es gerade, Lutrell ist auf hundertachtzig.« Er hatte keine Lust auf lange Erklärungen. Und vor allem wollte er nicht wissen, warum Steve den Wagen reparierte und nicht jemand aus der Werkstatt. Auf noch mehr Ärger hatte er gerade keine Lust. 

»Definitiv nein, der steht ja nicht umsonst hier. Aber der dahinten läuft. Damit bin ich hergekommen.« Steve richtete sich auf und ließ sich auf den staubigen Sitz fallen, während er auf einen kleinen Buggy deutete, mit dem sonst die SEALs unterwegs waren. Das eigentliche Geschütz am Dach des Gefährts war nicht montiert und so wirkte es fast wie ein normaler Strandbuggy. 

»Wo ist der Schlüssel?« Joe wandte sich zum Gehen. 

»Steckt.« 

Joe konnte hören, wie Steve aus dem Humvee sprang und grinste. Es war klar, dass sein Kollege sich eine rasante Fahrt nicht entgehen lassen würde. 

»Du glaubst doch nicht, dass ich dich fahren lasse.« Steve spurtete an ihm vorbei und schwang sich in den Buggy. Als Joe den Überrollbügel zu fassen bekam und sich ebenfalls elegant auf den harten Schalensitz warf, lief der Motor bereits und sein Kollege jagte, ohne das Ziel zu kennen, los.

»Sag mal, wie wäre es, wenn ich dir erst sage, wo wir hinwollen?« Joe klammerte sich an den Überrollbügel, während Steve über eine mit Schlaglöchern übersäte Straße raste.

»Wenn du Wesley suchst, weiß ich sehr genau, wo der ist, der ist mit DJ los. Sie haben Patrik heute Vormittag noch aufgezogen und Lexi vorgeschlagen sie könnte sich ja mal um den Kleinen kümmern.« 

Der Wagen landete nach einer Bodenwelle hart auf der Straße. Joe verkniff sich einen Kommentar und vertraute darauf, dass Steve wusste, wo seine Kollegen sich befanden. Dass wieder einmal der Jüngste im Team unter den selten dämlichen Kommentaren seiner Kollegen hatte leiden müssen, störte ihn dieses Mal nicht weiter, da auch DJ bei dem Wortgefecht anwesend gewesen war. 

Auch wenn es nach außen hin anders wirkte, so war der musikalische Achtundzwanzigjährige mehr oder weniger der Mentor von Patrik. Da er nicht nur der Jüngste unter ihnen war, sondern oft auch wegen seines Aussehens blöde Sprüche einstecken musste, wusste er normalerweise, wie er mit den Anfeindungen umzugehen hatte. Anders sah es bei Lexi aus. Sie mochte nach außen hin klein, zierlich und zerbrechlich wirken, aber sie war das genaue Gegenteil. Sie wusste, was sie wollte, und ging notfalls auch über Leichen. Wenn man sie reizte, konnte es sein, dass man schneller am Boden lag, als einem lieb war. Genau das war wohl der Grund, warum sie nun mit ihnen zusammen direkt unter Lutrells Kommando stand. 

Sie alle hatten Leichen im Keller, die normalerweise die Arbeit in der Army unmöglich machten.

2.

Harrys Puls kam nur langsam zur Ruhe. Die letzten Stunden forderten nun ihren Tribut. Eine lähmende Müdigkeit ergriff hartnäckig Besitz von ihm. Was zum Teufel tat er hier? Sein Blick wanderte zu den beiden Männer, die vor ihm in einem gestohlenen Humvee der Bagram Airbase saßen. Der Beifahrer, ein Mann von seiner Größe, den er bisher nur unter dem Namen DJ kannte, drehte sich zu ihm um. 

»Mach die Augen ´ne Stunde zu. Wir wecken dich, wenn es die Kugeln nicht machen.« 

Harry schloss die Augen. Nicht, um zu schlafen, sondern um die letzten Stunden und Tage Revue passieren zu lassen. Langsam zweifelte er an seinem Vorhaben. 

San Diego auf eigene Faust zu verlassen war das eine. Alles was er danach getan hatte, würde dafür sorgen, dass er nie wieder in irgendeine militärische Einheit zurückkonnte. 

Sharleen Porter, die Pilotin, die ihn verbotenerweise mit einem B2-Bomber aus San Diego hier hergebracht hatte, hatte ihn noch während des Ausrollens aus dem Flieger springen lassen. Es war ihm gelungen, bis in die Abendstunden ohne bemerkt zu werden zwischen großen Containern zu verharren.

Noch nie war so viel Adrenalin so lange in seinen Adern rotiert. Dutzende Male hatte er sich eingebildet, dass irgendjemand um die Ecke der Stahlbehälter kam. Aber immer wieder war es ihm gelungen zwischen den vielen Containern zu entwischen, als man nach ihm gesucht hatte. Nachdem die Suche auf den Rest der Base verlagert worden war, hatte er mit angesehen, wie man Sharleen abgeführt hatte. Aber er hatte auch gesehen, wie sie am späten Abend zur Landebahn zurückgekehrt war. Also hatte man sie zumindest für den ersten Moment, von einem eventuellen Tatverdacht freigesprochen. Vielleicht hatte man ihr auch geglaubt, dass er abgesprungen war, dass zumindest hatte sie versucht, ihrem Vorgesetzten weiszumachen. Dachte man genauer darüber nach, musste man aber zu dem Schluss kommen, dass das für ihn hätte tödlich ausgehen können und auch Sharleen wäre ein unkalkulierbares Risiko eingegangen, da sie die Kontrolle über den Bomber hätte verlieren können. 

Erst in der Nacht hatte er sich mit seiner Ausrüstung auf den Weg zu einem der Technikräume gemacht, wo er sich erstaunlich schnell Zutritt verschafft hatte. Sogar der Mann, der dort Wache hatte schieben sollen, war nicht anwesend gewesen. Harry hatte damit gerechnet, auf einen Wachmann zu treffen, aber der Raum war leer, und so war es für ihn ein Leichtes gewesen, das Sicherheitssystem lahmzulegen. Mit dieser Handlung hatte er im Prinzip seinen Rauswurf unterschrieben. Das Löschen einiger Überwachungsbänder, auf denen er Bilder von sich vermutete, hatte nur Sekunden gedauert und er hatte gewusst, dass er nur wenige Minuten haben würde, ehe auffallen würde, dass der Großteil der Überwachungskameras und Sicherheitssysteme offline waren. 

Das war sein Zeitfenster gewesen, um von der Base zu verschwinden und in Bagram unterzutauchen. Einen Wagen hatte er schnell gefunden und es war ihm gelungen, das Gelände zu verlassen, ehe das komplette Chaos ausgebrochen war, nachdem die nicht funktionierenden Kameras aufgefallen waren. Da er sich nicht dazu imstande gefühlt hatte, den Wagen hunderte Kilometer zu fahren, hatte er beschlossen, in einer Art Bar Unterschlupf für eine Nacht zu suchen. Der Besitzer des kleinen Ladens hatte ihn zwar mehr als nur verwundert angesehen, als er nach einer Übernachtungsmöglichkeit gefragt hatte, stellte aber keine Fragen mehr, nachdem Harry ihm fünfzig Dollar in die Hand gedrückt hatte. Hier war es simpel, die Leute zum Schweigen zu bringen, und er war nicht der Einzige, der das ausnutzte. Auch die Terroristen zahlten für das Schweigen oder die Loyalität der Menschen. Aber sie zahlten weit weniger. Meist waren es nur wenige Dollar, mit denen sie junge Männer zu sich holten oder Frauen kauften. Wenige Dollar waren hier schon ein kleines Vermögen.

Harry schüttelte es bei dem Gedanken.

Als er am Nachmittag eine Kleinigkeit hatte essen wollen, hatte er den Mann getroffen, der nun den Wagen lenkte. Wesley, der von seinem Kollegen bisher meist nur Casanova genannt wurde. Wesley hatte am Nachmittag, als Harry essen wollte, eindeutige Ziele bei einer jungen Frau verfolgt, die wiederum wenig von seinen Annäherungsversuchen hielt. Sie hatte immer wieder versucht, dem großen Mann klar zu machen, dass sie weder geküsst noch angefasst werden wollte. Diesen Umstand hatte Harry nicht mit ansehen können. Es war wahrscheinlich nicht die beste Idee seines Lebens gewesen, einen Mann wie Wesley einfach zurückzuziehen, aber er hatte die Faust kommen sehen und war so Wesleys Schlag ausgewichen. Wesley, der überrascht von Harrys Reaktion gewesen war, hatte ihn verwundert angestarrt und ihn dann angebrüllt, was er sich einbilden würde. 

Irgendwann war aus dem lauten Streit ein vernünftiges Gespräch geworden, denn kurz bevor die Situation beinahe eskaliert wäre, war DJ dazugekommen und hatte es geschafft sie zu trennen und zu beruhigen. Die beiden Männer hatten Harry erzählt, dass sie Soldaten waren, was seinen Puls kurzfristig in die Höhe hatte schnellen lassen. Einen Moment war er fest davon überzeugt gewesen, dass die beiden ihn suchten. Er hatte in einem unüberlegten Moment gestanden, dass er ebenfalls Soldat war. Nachdem die zwei recht schnell mit einer durchaus geschickten Fragetechnik festgestellt hatten, dass er zu keiner der zurzeit stationierten Teams gehörte, war er aufgeflogen. So war ihm nichts anderes übrig geblieben, als ihnen den wahren Grund für seinen Aufenthalt in Bagram zu erklären. Allerdings reagierten Casanova und DJ anders als erwartet und trafen sich wenig später ohne fremde Zuhörer in Harrys provisorischen Unterkunft, die mehr einem Verschlag denn einem Zimmer glich. Harry, der sein Notepad gut gepolstert in seinem Gepäck dabei hatte, zeigte Wesley und DJ die Bilder, die er bisher gefunden hatte, ebenso die möglichen Koordinaten. DJ, dessen richtigen Namen Harry immer noch nicht kannte, hatte sich die Fotos erstaunlich lange angesehen, hatte irgendwann den Kopf geschüttelt, seinen Kollegen angesehen und ihm zugeraunt. »Casanova, dir ist klar, wo das ist, oder?« 

Mit diesem Satz hatte DJ Harrys volle Aufmerksamkeit erlangt. Er wollte – nein – er musste wissen, wo die Bilder aufgenommen worden waren und dass Wesley den Kopf zur Seite gelegt und sich tiefe Falten auf seiner Stirn gebildet hatten, war ein eindeutiges Zeichen dafür gewesen, dass auch er etwas auf den Bildern wiedererkannt hatte. Harry hatte die NGA nicht in seine Suche einbezogen, aus Angst, dass man ihn auf diese Weise finden würde, ehe er Trisha gefunden hätte. Er war sich sicher, dass die NGA durchaus wusste, dass er sich regelmäßig illegal Informationen von ihnen besorgte und dass sie bisher nichts dagegen unternommen hatten, da es sich immer um offizielle Einsätze gehandelt hatte, die er so unterstützt hatte. 

»Diese Schweine, das war unser Stützpunkt.« Die Worte von Wesley waren eindeutig nicht für seine Ohren gedacht gewesen, da sie nur ein leises Raunen gewesen waren.

»Wo ist das?« Harry fühlte sich zu dem Zeitpunkt wie ein Schuljunge, der etwas sehr Wichtiges nicht mitbekommen hatte. Wenn es sich um einen Stützpunkt handelte, warum kannte er ihn nicht. Er war bisher der Meinung gewesen, alle Stützpunkte in Afghanistan zu kennen. Er war doch schon an so vielen gewesen und hatte von vielen gehört, aber nie war in den Erzählungen ein Stützpunkt aufgetaucht, der einer Baustelle glich. Man sah auf den Bildern nur einen provisorischen Holzbau, von dem man nur die Hälfte hatte erkennen können. 

»Das ist in der Nähe eines aufgegebenen Stützpunktes, oben am Pech-Tal«, erklärte DJ nickend, der sich gemeinsam mit Wesley weitere Bilder auf dem Notepad angesehen hatte.

Harry ging im Geiste die Karten durch, die er über Tage studiert hatte. Es dauerte eine Weile, bis ihm der Fluss Pech in den Sinn kam, der, nachdem er über viele Kilometer durch das Gebirge geflossen war, bei Asadabad in den Kunar mündete. Aber wo um alles in der Welt gab es dort einen Stützpunkt? Den beiden Männern war wohl sein verwirrter Ausdruck aufgefallen, denn Wesley hatte ihm dann erklärt, dass es vor Jahren bereits einen Versuch gegeben hatte, die Gegend einzunehmen und von Terroristen zu säubern, nur war dieser Versuch damals gescheitert. Es hatte viele Tote gegeben und viele der Dinge, die dort geschehen waren, hatte man unter den Teppich gekehrt. Die USA hatten nicht zugeben wollen, dass sie an diesem Punkt gescheitert waren. Dass es nicht gelungen war, eine Straße zu bauen und dass vielleicht auch eine tote Kuh Schuld daran trug, dass die Bewohner der Gegend sich nicht mit den Amerikaner anfreunden konnten. 

DJ hatte nur kurz die Geschichte einer verirrten Kuh angerissen, die sich im Draht des Stützpunktes verfangen hatte und elendig zugrunde gegangen wäre, hätte man sie nicht erlöst. Der Fehler, den die Soldaten dann gemacht hatten, hatte für viele Probleme gesorgt. Sie zerlegten das Tier und bereiteten daraus einige Mahlzeiten zu. Der Besitzer des Tieres stellte die Männer zur Rede und forderte einen Ersatz oder Geld. Das Einzige, was man ihm anbieten konnte, waren Lebensmittel im Gewicht des Tieres, da die Vorgesetzten sich zu fein gewesen waren, einige hundert Dollar auszugeben. Da es über Monate nicht gelang, die Dorfbewohner auf die Seite der Amerikaner zu ziehen, und gleichzeitig die Gefechte immer mehr Opfer forderten, wurde der Stützpunkt zusammen mit einem weiteren und einem der sich im Bau befand, aufgegeben. 

»Hey, Augen auf. Wir brauchen deine jetzt auch.« DJs tiefe Stimme riss ihn aus dem Schlaf, in den er nicht hatte fallen wollen. »Wenn wir Pech haben, kommen wir nicht mal in einem Stück da oben an. Ein paar Kilometer können wir noch fahren. Danach gehen wir zu Fuß weiter, oder was denkst du?« DJs Blick wanderte zu Wesley, der auf die mit Löchern übersäte Straße konzentriert war. 

»Mal schauen, wie der Weg weiter oben aussieht. Eigentlich sollte er weiter hoch führen, wenn kein Steinschlag die Straße verschüttet hat. Ich erwarte zwar nicht, dass wir die Frauen da finden, aber vielleicht finden wir ein paar Hinweise.« 

»Alter, du willst da nicht ernsthaft mit dem Humvee hochfahren.« DJ sah seinen Kollegen ungläubig an.

»Warum nicht?« 

»Ey, dann kann ich das Teil ja gleich in neongelb ansprühen und ´ne Zielscheibe draufmalen. Die werden sich sicher freuen, wenn sie uns gleich sehen.« DJ schüttelte den Kopf und Harry fühlte sich plötzlich wie ein Zuschauer. 

»Mit dem Teil kann ich aber schneller abhauen, als wenn ich zu Fuß laufen muss.« Wesleys Antwort war bissig. 

»Also ihr könnt mich auch hier rauslassen. Ich hab ja die Koordinaten.« Die Zweifel nagten an Harry. Brachte er gerade zwei Männer in Gefahr, die er kaum kannte? DJ und Wesley kannten Trisha zwar nur vom Sehen, aber sie sorgten sich ebenfalls um sie und die anderen Frauen. Die Männer verfluchten ihren Vorgesetzten, weil der ihnen nicht gesagt hatte, dass man bereits Frauen hingerichtete hatte, die gemeinsam mit ihnen auf der Airbase gearbeitet hatten. 

Es wäre besser, wenn er den Rest des Weges alleine hinter sich brachte. Ein Mann alleine fiel nicht so sehr auf wie drei, schon gar nicht wenn diese mit einem Humvee unterwegs waren, der unübersehbar zum Militär gehörte. Vielleicht könnte er sich sogar mit den wenigen Fetzen Paschtu, die er sprach, irgendwo durchfragen, und in Erfahrung bringen, wo Trisha war.

»Vergiss es, das wäre, als würden wir sie offiziell zum Tontaubenschießen einladen.« Wesley warf ihm einen kurzen Blick über die Schulter zu und riss ihn so aus seinen Gedanken. 

»Ah so, Tontauben, und was ist es, wenn wir mit dem Auto da ankommen? Schiffeversenken?« DJ schüttelte den Kopf. 

»Stell dich nicht so an. Wir wollen da keinen Wochenendurlaub machen, sondern uns nur umschauen. Wir werden weder ein Eichhörnchen noch eine Kuh erschießen. Wir werden aussteigen, uns umsehen und wieder fahren. Und zwar zu dritt.« Erneut sah Wesley sich um und Harry wagte es nicht, ihm zu widersprechen. Ein solcher Blick duldete keine Widerworte. 

3.

Nachdem sie zurückgekehrt waren, strich Joe sich verärgert über das Kinn, während er mit Steve auf Commander Lutrell wartete, der vor wenigen Minuten ihrem Kollegen Randall lautstark die Leviten gelesen hatte. 

»Alter, der ist geladen wie C4«, flüsterte Steve ihm zu. 

»Jup.« Joe starrte die Akten an, die auf Lutrells Schreibtisch lagen. Es hatte ihren Vorgesetzten absolut nicht erfreut, dass sie Casanova nicht gefunden hatten. Und seine Laune war ins Bodenlose gesunken, als sie ihm berichteten, dass DJ wahrscheinlich mit Casanova zusammen einen Humvee geklaut hatte und mit einem Mann verschwunden war, der durchaus der gesuchte Harry Flynt sein könnte. Lutrell war förmlich an die Decke gegangen. Die ganze Angelegenheit roch nach Ärger, viel Ärger.

Die Tür hinter ihnen flog krachend auf und Joe zuckte erschrocken zusammen, während Steve neben ihm Haltung annahm und die Hände hinter dem Rücken verschränkte. 

»Seid ihr wahnsinnig geworden? Ich hab für jeden von euch meinen Kopf hingehalten. Einen Humvee klauen, geht´s noch? Was fällt euch ein. Habt ihr eine Ahnung, wo die hinwollen?«, donnerte Lutrell los, ehe er die Tür mit ebenso viel Kraft wieder ins Schloss warf. »Haben deine Leute den Verstand verloren, Gambit?«, drohend baute der Commander sich nur Zentimeter vor Joe auf. »Hab ich euch nicht vor der Gosse bewahrt, Sheep?« Lutrell wechselte die Position und brüllte Steve an. 

»Doch, Sir«, erwiderte dieser laut.

»Warum zum Geier machen die das? Was versprecht ihr euch davon? Wenn ich die beiden wieder hier habe, könnt ihr alle gehen. Ich habe keine Lust mehr, euch jeden Tag aus der Scheiße zu ziehen. Ich bin doch kein Kindermädchen.« Nun stand Lutrell wieder vor ihm. Sein Herz raste. In einer solchen Art hatte Lutrell ihn noch nie angefahren. Sie alle hatten Dreck am Stecken, aber Lutrell hatte sie so weit rehabilitiert, dass sie unter seinem Kommando zu einer Sondereinheit geworden waren, die eigentlich den Schutz und die Gunst des Commanders genossen.

»Sir, ich habe keine Ahnung, was Casanova und DJ denken.«

»Das solltest du aber wissen verflucht. Was soll ich Captain Harrison erzählen, wenn er ankommt? Dass meine Männer mit seinem Deserteur mal eben abgehauen sind, um einen Alleingang zu wagen?« Die Lautstärke ihres Vorgesetzten verringerte sich nicht. »Dass ich keine Ahnung habe, wo sie hin sind und was sie vorhaben? Gambit, ihr riskiert euren Job und die anderen beiden zusätzlich ihr Leben.« Lutrell holte tief Luft und Joe konnte einen kurzen Moment nur noch seinen eigenen Herzschlag hören. 

»Ich habe eine grobe Ahnung, wo sie hinfahren könnten.« Lutrells Lautstärke verringerte sich, was aber nicht hieß, dass er sich beruhigt hatte. Wenn er plötzlich leise wurde, konnte es durchaus sein, dass er im nächsten Moment explodieren würde. Die Ruhe vor dem Sturm sozusagen. Das passierte bei Lutrell äußerst selten, aber wenn, dann rollten Köpfe. Er drehte sich um und ging auf seinen Schreibtisch zu, wo er ein Stück Papier unter einigen anderen hervorzog und es an Steve weiterreichte. Joe riskierte einen Seitenblick auf das, was sich als Landkarte entpuppte. Ein unterdrückter Fluch von Steve festigte seinen ersten groben Eindruck. Er kannte die Gegend, aber dort hatte sich lange niemand mehr hingewagt, da der Widerstand der Terroristen dort ungebrochen hoch war. Dort verhielt es sich ein wenig wie in den Comics von Asterix und Obelix. Nur waren sie in diesem Fall die Römer und die Terroristen die Gallier. Was die amerikanische Regierung natürlich nie zugeben würde. Sie schafften es einfach nicht, die Region einzunehmen.

»Trommelt alle zusammen, Harrison kommt in zwölf Stunden mit seinen Leuten an. Mit ihm zusammen trifft Team 8 ein. Ihr geht mit der IATF ins Tal und sucht da nach Spuren. Wenn es Probleme geben sollte, unterstützt euch Team 8. Gambit, ich erwarte, dass ihr vernünftig zusammenarbeitet.« Lutrells Blick bohrte sich in seinen. Er wusste genau, worauf der Commander anspielte. In der Vergangenheit hatten sie sich als nicht oder nur wenig teamfähig erwiesen. Jetzt in diesem Moment wünschte Joe sich nichts mehr, als nicht derjenige zu sein, von dem Lutrell dachte, dass er Führungsqualitäten besaß. Angeblich war er aber laut Lutrells Aussagen der Einzige, der im Einsatz in der Lage war, das Rescue-Team in Extremsituationen, die sie viel zu oft vorfanden, zusammenzuhalten. 

»Aye Sir.« Steve riss ihn aus seinen Gedanken und er nickte Lutrell zu. 

»Wird gemacht.« Joe wandte sich ebenso wie Steve ab, der vor ihm die Tür erreichte und bereits aufgezogen hatte, als sich Lutrells Hand auf seine Schulter legte. 

»Joe, du bekommst das schon hin. Norde sie ein und dann kommt her. Da draußen sind zwei von euch in echten Schwierigkeiten.« Die Hand verschwand wieder und Joe lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Noch nie hatte der Commander ihn mit Vornamen angesprochen. Entweder war er Gambit, ein Weichei, eine Lusche oder ein Loser, aber noch nie Joe. Noch beunruhigter, als er das Büro betreten hatte, verließ er es wieder. Steve stand an der Ausgangstür und starrte hinaus, als er neben ihm ankam. »Meinst du, sie haben Probleme?« Steve sah ihn nicht an. Er starrte weiter in den Nachthimmel über der Airbase. 

»Wenn die da hin sind, haben sie nicht nur Probleme.« Joe strich sich über die Augen. 

Der Einzige, von dem er in diesem Moment genau wusste, wo er war, war Randall Brinker. Der Mann mit den feuerroten Haaren, der immer nur Ferret genannt wurde, saß im Büro neben dem von Lutrell und versuchte herauszufinden, was passiert war. Wo die Bilder der Frauen gemacht worden waren, schien ja nun endlich bekannt zu sein, aber warum seine Kollegen verschwunden und wahrscheinlich mit Harry Flynt gemeinsam unterwegs waren, war Joe ein Rätsel. Sie alle wussten, wie gefährlich das Pech-Tal und alles, was drumherum lag, war. Hatten sie vielleicht schon früher von den Bildern erfahren? Hatte man ihnen etwas vorenthalten? Was um alles in der Welt war in seine Kollegen gefahren? 

»Ich hole Skipper.« Steve verschwand in der Dunkelheit. 

»Toll, dann bleiben ja nur sieben für mich«, zischte Joe an Steve gerichtet. 

Sein Blick auf die Uhr verriet ihm, das alle aus ihrem Team bereits in den Betten lagen und keiner begeistert sein würde, wenn er sie nun aus den Betten riss. Aber sie waren alle nicht hier, um ein ruhiges Leben zu führen. Wenn andere in der Klemme saßen, waren sie die Ersten, die aus den Betten mussten. 

Es war kurz nach Mitternacht und Skipper war mit Sicherheit der Einzige, den man nun noch wach im Aufenthaltsraum finden könnte. Somit hatte Steve sich den leichtesten Weg ausgesucht. Joe stieß den Atem aus und beobachtete die entstehende Dunstwolke, die in der Kälte gut zu sehen war. Der Sommer war vorbei und die Nächte in Bagram wurden empfindlich kalt. Einen kurzen Augenblick überlegte er, wen er als erstes aus dem Bett holen sollte und entschied sich dann für Lexi Walker. Wenn er mit Waffe in der Hand bei ihr auftauchen würde, wäre sie sofort wach und bereit. Die einzige Frage, die sie noch stellen würde, wäre die nach dem Ziel ihrer Mission. Aber jetzt war das Ziel Lutrells Büro und das würde sie nicht im Geringsten freuen. Sie würde es besser finden, wenn er ihr einen fertigen Plan vorlegen konnte.

»Alter, hast du keine Hobbys? Hau ab! Mach, dass du raus kommst, jetzt!«, fuhr sie ihn wie eine Furie fünf Minuten später lautstark an. »Der Sack kann auch warten, bis ich ausgeschlafen habe, wenn er mir keinen Einsatzplan vorlegen kann.« Ein Schuh landete nur Millimeter neben seinem Kopf an der Wand. Er wusste, dass sie ihn mit Absicht verfehlt hatte, denn wenn Lexi treffen wollte, tat sie es, und zwar mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks. Somit musste er seinen Puls zwingen, wieder ruhiger zu werden und sie nicht mit Gewalt aus dem Bett zu ziehen. 

»Bitch, beweg dich. Lutrell will uns sehen. Alle. Es ist wichtig. Casanova und DJ sind weg.« Wenn diese Aussage nicht ausreichte, um sie aus dem Bett zu holen, würde er sie tatsächlich herauszerren. 

»Boah, die sind wie Katzen, die kommen von alleine wieder. Hau ab, Gambit, und lass mich schlafen.« Ihr Ton wurde zwar ruhiger, aber ihre Worte machten klar, dass sie sich nicht bewegen würde. Das Quietschen des Feldbettes bestätigte seinen Verdacht. Sie drehte sich genervt um. 

»Die sind wahrscheinlich ins Pech-Tal.« Diesen einen Versuch wollte er noch starten, betrat aber schon das dunkle winzige Zimmer, um die blonde Frau aus den Federn zu ziehen.

»Die sind was?« 

Erneut protestierte das Bett unter ihren Bewegungen und er konnte sehen, wie sie sich aufsetzte.

»Ja, deswegen will der Boss uns sehen.« 

»Haben die den Verstand verloren?« 

Die Decke flog zurück und Joe stockte der Atem, als Lexi sich aus dem Bett schwang. Warum auch immer, aber sie war splitterfasernackt. Ging sie immer ohne Kleidung ins Bett? Er konnte zwar nur ihre Silhouette erahnen, da es zu dunkel war, aber was er sah, machte einmal mehr klar, dass sie ebenso gut auf einem Laufsteg arbeiten könnte. 

»Man, atme weiter«, blaffte die knapp einssiebzig große Frau ihn an und schlüpfte unter seinem verdutzten Gesichtsausdruck in ihre Sachen. Innerhalb von drei Minuten stand sie in Uniform vor ihm und gab ihm einen harten Stoß. 

»Ich hol Sticks und Pippa.« 

»Nein, Pippa hol ich. Geh du Sticks und Maverik wecken.« Er griff nach ihrem Arm, ehe sie an ihm vorbei war. Er wollte nicht, dass sie dem Jüngsten des Teams mitteilte, dass sein Mentor verschwunden war. Er wollte derjenige sein, der die Nachricht überbrachte. 

Eine halbe Stunde später standen sie zu zehnt in Lutrells Büro. Der Commander hatte einige Minuten Maverick angestarrt, da dieser durch ein blaues Auge unübersehbar für ihren Vorgesetzten wieder einmal unnötige Arbeit bedeutet. Aber es war das erste Mal seit langer Zeit, das der Commander Will Tenner nicht aufforderte zu sagen, wo diese Kampfspuren herkamen. Normalerweise musste Will berichten, was geschehen war, damit Lutrell wusste, wer ihn in einigen Stunden anrufen würde, um ihm mitzuteilen, dass einer seiner Männer sich ungebührlich verhalten hatte. Aber Lutrell hatte nur ein Stöhnen für Will über, der sich zwar mit Sprengstoffen auskannte, aber viel zu oft selbst wie TNT reagierte und sich selbst dann nicht an einer Explosion hindern konnte. Die Stimmung in dem kleinen Raum war angespannt, als Randall eine Karte am Flipchart befestigte. 

»Ich denke, ihr wisst, was los ist. Wir haben nur die Vermutung, dass Casanova und DJ Flynt dorthin begleiten.« Lutrell deutete auf das Tal, welches der Armee in den letzten Jahren derbe Verluste gebracht hatte. »Wenn sie auch nur ein bisschen Verstand haben … Und ich dachte, ich habe euch einprügeln können, dass ihr eure Köpfe benutzen sollt … Lassen sie ihn irgendwo raus. Was wiederum für Harrison ärgerlich wäre. Niemand möchte einen einzelnen Mann da haben. Aber vorausgesetzt sie haben Verstand, dann kommen sie schnell zurück und sagen uns, wo sie ihn hingebracht haben und wir stehen hier in vierundzwanzig Stunden und können in Ruhe mit Flynt die Frauen suchen. Wenn nicht …« Lutrell sprach nicht weiter. Sie alle wussten, was dieses wenn nicht war. Dann müssten sie nicht nur Frauen retten, von denen sie keinen genauen Aufenthaltspunkt hatten, sondern auch ihre Kollegen. Ihnen war klar, dass die Frauen sehr wahrscheinlich nicht mehr dort waren, wo man die Bilder aufgenommen hatte. Das wäre Selbstmord für die Terroristen und so dumm waren sie nicht. Vielleicht würden sie dort die Leichen der Frauen finden, aber selbst die Chance war gering. Joe grübelte sogar darüber nach, ob es Absicht gewesen war, die Frauen dorthin zu bringen, und die Bilder dann ins Netz zu stellen. Er war davon überzeugt, dass es einen Grund dafür geben musste, dass man die Bilder dort aufgenommen hatte. 

»Ich habe es Gambit schon gesagt und ich sage es jetzt nochmal. Ich erwarte von jedem von euch, dass ihr mit Harrisons Team zusammenarbeitet. Das sind Profis. Das sind keine Noobs, wie ihr so schön sagt. Die wissen, was sie tun. Ich erwarte, dass ihr euch in das Team einfügt.«

»Wir – uns – in ein anderes Team einfügen? Warum fügen die sich nicht bei uns ein? Das sind doch die mit dem Indianer oder?« Lexi fiel ihrem Vorgesetzten ins Wort. 

»Ja, das sind DIE mit dem Indianer.« Lutrell ging auf Lexi zu, die zu ihrem Vorgesetzten aufsehen musste. »Wenn du damit ein Problem hast, dann bleibst du hier und die großen Jungs dürfen alleine mit den bösen Buben spielen und du machst die Klos sauber.« Der Commander wandte sich ab, ehe sie etwas erwidern konnte. 

Joe wusste, dass diese Ansprache ihre Wirkung nicht verfehlt hatte. 

»Was ist mit der Deutschen? Ist die wirklich so gut?« Jetzt meldete sich der einzige ausgebildete Pilot ihres Teams zu Wort. Aiden McGregor war gebürtiger Schotte, aber schon als Kleinkind mit seinen Eltern in die USA gekommen. Joe hatte selten einen solchen Freak gesehen wie ihn. Selbst in seiner Freizeit nutzte er jede Möglichkeit, zu fliegen. Er flog sogar die kleinen Propellermaschinen, die die Landwirte nutzten, um ihre Felder gegen Unkräuter und Krankheiten zu spritzen. Wenn man Aiden während des Urlaubs suchte, musste man nicht im Wasser, auf Liegen oder vor dem TV suchen. Dann sollte man seinen Blick auf den Himmel richten und nach einem Flieger suchen, der mit waghalsigen Manövern auf sich aufmerksam machte. Irgendwer hatte mal die Behauptung aufgestellt, dass, wenn jemand die kleinen Propellermaschinen ins All fliegen könnte, es Aiden wäre. So kam er wohl auch zu seinem Spitznamen. 

»Skotti?« Lutrell ging auf den Piloten zu und holte Joe aus seinen Gedanken.

»Aye?« 

»Sie ist besser als Snipes und somit ist sie so gut, wie alle sagen. Noch Fragen?« Lutrell sah sie alle mit einem Blick an, der keine Fragen mehr zuließ. Cayden Harrison, von allen nur Snipes genannt, eilte ein Ruf voraus. Als plötzlich das Gerücht umging, dass der Scharfschütze aus dem Dienst ausschied, hatten alle es für eine Lüge gehalten, für ein Gerücht, das aufgekommen war, da er lange nicht auf Schießständen gesehen worden war. Dazu kamen dann Erzählungen, dass er seine Verletzung noch immer nicht auskuriert hatte. Also waren viele davon ausgegangen, dass es ein Gerücht war, dass er wieder auftauchen würde, wenn er wieder fit wäre. Niemand hatte sich vorstellen können, dass ein Mann wie Cayden Harrison einfach so, von heute auf morgen sagen könnte, er quittiert seinen Dienst, um zum liebevollen Familienvater zu werden. Erst als der Commander es bestätigt hatte, wurde es für sie real und seitdem begannen erneut die krankhaften Vergleiche der Scharfschützen. Das interne Ranking wurde wieder mit Argusaugen überwacht und Abschüsse gezählt. Vor Snipes Ausstieg war das Ranking eine Weile nur dazu da gewesen, um zu sehen, wie weit man unter ihm stand. Jetzt kam wieder die Frage auf, wer der Beste war.