Leseprobe
1.
Wieder horchte Riccardo auf das Freizeichen im Telefon. Es war das gefühlt hundertste Mal, dass er die Nummer, die er auf der Visitenkarten gelesen hatte, wählte. Und wieder war es nur die Mailbox, in der eine Stimme darum bat, eine Nachricht zu hinterlassen. Seit einer Woche versuchte er zu beinah jeder Tages- und Nachtzeit den Mann zu erreichen, der ihm vielleicht mehr zum Tod seines Bruders sagen konnte. Aber immer wieder war es die monotone elektronische Bandansage, die sich meldete. Irgendwann musste doch auch ein CIA-Agent mal an sein Mobiltelefon gehen, oder? Natürlich bestand auch die Möglichkeit, dass die Nummer schon lange nicht mehr dem Agenten gehörte, aber dann, so meinte Riccardo, würde man die Nummer doch sperren lassen, oder? Er beendete das Gespräch mitten in der Ansage und zog sich seinen Laptop wieder auf den Schoß.
Eine Woche war er schon wieder in Padua. Eine Woche, in der er keine Bewaffneten gesehen hatte und ohne Explosionen und Sirenen. Die anfänglich gedrückte Stimmung war inzwischen umgeschlagen. Es herrschte Freude darüber, dass er wieder da war. Allerdings fühlte er sich alles andere als wohl. Oft stand er in den Nächten vor der Tür und starrte in den Himmel. Immer auf der Suche nach den Sternen, die er in Afghanistan jede Nacht gesehen hatte. Aber hier sah alles fremd aus. Da waren noch weniger Sterne als in Kabul, die es schafften, sich gegen das Licht der Stadt durchzusetzen. Und selbst mitten in der Nacht leuchteten einige Straßenlaternen noch. Es schien, als würde hier in Padua nie Ruhe einkehren. Wie hatte er es nur all die Jahre hier ausgehalten? Er hatte das Gefühl, nicht hierher zu gehören. Er vermisste Waras und er vermisste Malika. Das einfache Leben in Afghanistan hatte ihm so viel bedeutet, dass er sich hier, wo es alles im Überfluss gab, nicht mehr daheim fühlte. Und doch brannte ein Feuer in ihm, das ihn hier hielt. Hier, so war er sich sicher, hatte er die Möglichkeit, herauszubekommen, was mit seinem Bruder passiert war.
Über Miguel hatten seine Eltern seit dem Morgen, an dem sein Vater ihm die Karte des Agenten in die Hand gedrückt hatte, keine Silbe mehr verloren. Dafür kümmerte seine Mutter sich um ihn wie zu Kindertagen, an denen er mit Fieber auf dem Sofa gelegen hatte. Sein Vater hatte ihm mit einem Zähneknirschen einen Laptop besorgt. Im Gegenzug sollte er sich einen neuen Job besorgen. Aber das Einzige, was Riccardo tat, war nach Informationen zu suchen. Nur kam er nicht voran. Es gab einige Stellen, an denen er von einem Drohnenangriff gelesen hatte, aber über Opfer wurde nie geschrieben. Was jedoch groß in der Presse zu finden war, war der gescheiterte Angriff auf das Kinderkrankenhaus, von dem er selbst so viel gehört hatte. Es wurde in dicken Lettern angekündigt, die Verantwortlichen für dieses fatale Unglück zur Rechenschaft zu ziehen. Aber es war, wie es schien, bei den Schlagzeilen geblieben. Nirgends hatte er anschließend gelesen, dass auch nur ein Soldat seinen Posten verloren hatte oder zur Verantwortung gezogen worden war. Es war nur immer die Rede von einem bedauerlichen Zwischenfall, von falschen Daten und Piloten, die nur ihre Arbeit gemacht hatten. Schuldige gab es nicht.
Es existierten schreckliche Bilder aus dem Krankenhaus. Blutende Kinder, Ärzte, denen man die Verzweiflung darüber ansehen konnte, dass sie nicht alle retten konnten und überall lagen mit Tüchern bedeckte Leichen zwischen den Trümmern. Niemand wollte dafür die Verantwortung tragen, oder den Opfern langfristig helfen.
Riccardo atmete tief durch. Jedes Mal, wenn er die Bilder sah oder auch nur daran dachte, musste er an Tican und Rahim denken. Dann wanderten seine Gedanken automatisch wieder zu Malika. Seine Erinnerungen holten ihn wieder und wieder ein und kochten aus Trauer, Hass und seinen immer wieder aufflammenden Kopfschmerzen eine gefährliche Mischung.
Immer noch lag sein Blick auf dem Bildschirm des Laptops, der ihm die Internetseite einer Zeitung zeigte. Wie lange sollte er noch versuchen, diesen Mann zu erreichen? Einen Moment grübelte er über die Frage nach, ehe er wieder zum Handy griff und die Wahlwiederholung drückte. Einen letzten Versuch wollte er noch wagen, dann würde er versuchen, über das Konsulat der USA oder die Polizei Informationen zu bekommen. Er wollte genau wissen, was damals passiert war.
Wie all die Male zuvor klingelte es am anderen Ende eine gefühlte Ewigkeit, ehe sich die Mailbox meldete, und darum bat, eine kurze Nachricht mit seinem Anliegen zu hinterlassen. Riccardo atmete durch.
»Guten Tag Agent Ballot. Ich bin Riccardo Liccardi und habe einige Fragen zum Tod meines Bruders. Sie haben meinen Eltern Ihre Karte dagelassen. Ich möchte Sie bitten, mich zurückzurufen.« Er legte auf und starrte über den Bildschirm hinweg zur Wohnzimmertür, wo Alessandra stand und den Kopf schüttelte.
»Du kannst die Sache auch nicht einfach auf sich beruhen lassen, oder?«
»Wenn du das kannst, bitte. Ich kann es nicht. Miguel ist mein Bruder.« Riccardo stand auf, klappte den Laptop zu und ging an seiner Cousine vorbei.
»War … das war er. Er ist tot. Da hilft es dir auch nicht, irgendwelche Agenten anzurufen. Er wird nicht wieder lebendig. Wo willst du hin?«
»An die frische Luft. Oder darf ich nicht mehr aus dem Haus, weil ich verloren gehen könnte?«, raunte er ihr über die Schulter zu. In ihm tobte eine unbändige Wut auf seine Cousine, da sie derart abwertend von seinem Bruder sprach.
»Bis später Mom, Dad.« Er hatte die Tür erreicht und sprach die Worte so laut aus, dass seine Eltern ihn gehört haben mussten. Er wollte nicht, dass sie sich sorgten. Er würde in einer Stunde zurück sein. Vielleicht auch erst in zwei, aber er würde zurückkehren. Seine Eltern antworteten ihm nicht, aber er konnte hören, wie in der Küche Porzellan gegeneinander schlug. Er war sich sicher, dass sie ihn gehört hatten. Womöglich hatten sie auch das Gespräch zwischen ihm und Alessandra mitbekommen.
Nach einer halben Stunde hatte er einen kleinen Park erreicht. Hier traf man meist nur auf Hundebesitzer, die sich und ihren Tieren hier eine Auszeit verschafften. Ab und an versammelten sich auch Jugendliche hier. Glasscherben und Kronkorken an einer Parkbank zeugten davon, dass vor nicht allzu langer Zeit jugendlicher Leichtsinn hier getobt hatte. Er ging ein Stück weiter und fand sich einige Minuten später unter einem gewaltigen Baum wieder. Die Bank, auf der er saß, hatte wie die meisten in der Umgebung, die beste Zeit hinter sich. Aber ihm war egal, dass seine blaue Jeans durch Moos und Algen grüne Flecken bekam. Er starrte auf den Boden und schob mit den Füßen das alte Laub zur Seite, als das Klingeln seines Handys ihn zusammenzucken ließ. Er zog das Mobiltelefon, das ihm ebenfalls sein Vater besorgt hatte, aus seiner Hosentasche, und starrte die Nummer an. Er kannte sie nicht. Wer sollte ihn anrufen? Es kannte doch niemand seine Nummer.
»Liccardi.« Er nahm das Gespräch zögernd an.
»Ballot, schön, dass Sie sich dazu durchgerungen haben, mir eine Nachricht zu hinterlassen.«
Riccardo starrte fassungslos auf eine Gruppe Bäume, die in einiger Entfernung standen. »Bitte?« Damit, dass der Agent sich so schnell melden würde, hatte er nicht gerechnet.
»Sie haben doch schon mehrfach versucht, mich anzurufen. Ich rufe aber aus Prinzip erst zurück, wenn mir jemand eine Nachricht hinterlässt.«
»Ah ja.« Riccardo wollte keine weiteren Erklärungen dafür, warum der Mann am anderen Ende nicht schon früher zurückgerufen hatte, auch wenn es ihn störte und er sich darüber ärgerte, dass er nicht viel früher eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen hatte.
»Ich denke, Sie möchten Informationen zum Tod ihres Bruders, oder?«
»Ja, hatte ich doch in meiner Sprachnachricht erwähnt, oder?« Riccardo rollte mit den Augen. Was sollten diese Fragen?
»Ich kann Ihnen einiges per Mail schicken, alles andere müssten wir in einem Vieraugengespräch klären, da es sich um streng vertrauliche Dinge handelt. Ich denke auch, dass das, was ich Ihnen schicken kann, für Sie nichts Neues ist.«
»Woher wollen Sie das wissen?« Riccardo bemerkte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Warum wollte der Agent ihm einige Dinge nur unter vier Augen sagen?
»Nehmen Sie einfach hin, dass ich es weiß. Ich schicke Ihnen die Informationen zu, wenn Sie dann immer noch mehr wissen wollen, rufen Sie mich wieder an. Aber sprechen sie auf die Mailbox, sonst sehe ich dieses Gespräch als einmalige Sache an. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Mister Liccardi.«
Die Verbindung war beendet, ehe Riccardo dem Mann auch nur seine E-Mail-Adresse nennen konnte. Verwundert musterte er sein Handy. Woher wollte der Mann am anderen Ende wissen, was er bisher in Erfahrung gebracht hatte? Das konnte doch niemand, abgesehen von seiner Familie, wissen. Stand sein Vater immer noch im Kontakt zu dem Mann und hatte es ihm bisher nicht erzählt? Wusste der Agent deswegen Bescheid?
Riccardo schloss einen Moment die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Er lauschte auf die Geräusche des Parks. Viel zu schnell war da nicht nur das Zwitschern der Vögel und das leise Rauschen des Windes, der zwischen den Ästen und Blättern hindurch strich. Sondern er konnte auch die Autos, die auf einer Straße, die um den Park führte, fuhren, deutlich hören. Er hörte die Stimmen, Gespräche, bellende Hunde und hupende Autos, was ihm fehlte, war die Stille, die er in Waras so geliebt hatte. Dieser ständige Lärm im Hintergrund nervte ihn von Minute zu Minute mehr. Er bildete sich ein, dass genau diese Geräusche immer lauter wurden. Auch begann er, seinen eigenen Herzschlag dröhnend wahrzunehmen.
»Hier kann man die Ruhe genießen.«
Riccardo riss die Augen auf und musterte einen älteren Herren, der sich neben ihm auf die Bank gesetzt hatte und ihn von der Seite ansah.
»Ruhe? Der Lärm hier ist unerträglich«, fuhr er den Mann an, der erschrocken zur Seite rutschte, ehe Riccardo aufstand. Er konnte noch hören, wie der Mann sich leise über ihn beschwerte, als Riccardo versuchte, seinen rasenden Puls zu beruhigen. Er hatte keine Ahnung, was gerade geschah. Der Lärm wurde immer unerträglicher. Es fühlte sich an, als würde er zwischen tausenden Menschen mitten auf der Autobahn stehen. Eilig machte er sich auf den Weg aus dem Park. Als er auf den gepflasterten Weg trat, der ihn wieder zum Haus seiner Eltern führte, hallte jeder einzelne Schritt ohrenbetäubend in seinen Ohren. Kalter Schweiß rann über seinen Rücken und mit jedem Schritt ging er schneller. Er stieß mit Passanten zusammen, die ihn wütend anfuhren. Das, was er von seinem Umfeld noch wahrnahm, verringerte sich immer mehr, bis es nur noch ein kleiner Kreis war, in dem er endlich die Haustür seines Elternhauses sah. Mit zitternden Fingern versuchte er mehrfach, den Schlüssel in das Schloss zu stecken. Mit jedem gescheiterten Versuch wurde sein Herzschlag lauter und sein Zittern stärker. Plötzlich verschwand das Schloss vor seinen Fingern, die den Schlüssel versteinert an der Position hielten, an der eben noch das Schloss gewesen war.
»Hast du noch nie … Was ist denn mit dir passiert?« Es klang, als stünde seine Cousine am Ende eines sehr langen Flures.
Langsam hob er den Blick und versuchte sich auf Alessandra zu konzentrieren, die vor ihm stand und tiefe Falten zwischen den Augenbrauen hatte. Riccardo blinzelte mehrfach, um mehr sehen zu können. Konnte sie nicht einfach aus dem Weg gehen und ihn in das Haus lassen? Sein rasender Herzschlag machte ihn wahnsinnig. Dieses permanente Hämmern auf den Ohren weitete sich zu einem unerträglichen Kopfschmerz aus.
»Komm rein.«
Endlich trat sie zur Seite und Riccardo betrat schwankend das Haus.
»Hast du getrunken, oder was?« Vorwurfsvoll wetternd folgte sie ihm über den Flur.
»Nein.« Er schluckte. Sein Hals war staubtrocken und nur langsam beruhigte sich sein Herzschlag wieder.
»Du siehst …«
»Halt einfach deine Klappe!« Er wirbelte herum, als er sie anfuhr. Seine rechte Hand landete an der Wand, wo er sich schwer atmend abstützte. Er registrierte, wie Alessandra einen Schritt nach hinten machte und ihn mit großen Augen anstarrte.
»Was ist denn hier los?«
Es war die Stimme seiner Mutter, die ihn wie durch Watte erreichte. Sie war irgendwo hinter ihm.
»Er hat was getrunken.«
»Hab ich nicht!«, fuhr er seine Cousine erneut an und drehte sich um. Seine Mutter stand nur einen knappen Meter hinter ihm. Er konnte ihren Blick förmlich spüren. So konnten nur Mütter einen ansehen. »Ich habe nichts getrunken. Mir ist nur nicht gut gerade.« Die letzten Worte waren eine Untertreibung. Er hatte keine Ahnung was gerade mit ihm passierte oder was passiert war. Das seltsam dumpfe Körpergefühl ließ endlich nach. Dafür kehrte der hämmernde Kopfschmerz zurück, der ihn seit dem ersten Anschlag in Afghanistan so oft heimgesucht hatte, nur bildete er sich ein, dass er weit intensiver war als früher.
»Komm in die Küche und trink erstmal was.« Seine Mutter schob ihn bestimmend in die kleine Küche, wo sein Vater von der Zeitung aufsah. »Hinsetzen! Cola?« Seine Mutter legte den Kopf zur Seite und musterte ihn, als könne sie so in seinen Kopf schauen und analysieren, was ihm fehlte. Aber wahrscheinlich konnten Mütter eben genau das. Sie mussten ihre Kinder einfach nur ansehen, um zu wissen, was ihnen fehlte. Bei diesem Gedanken stellte sich Riccardo eine neue Frage. Warum hatte sie ihn aufgegeben? Wenn sie doch genau wusste, was ihren Kindern fehlte, dann hätte sie doch wissen müssen, dass er noch am Leben war. Sie hätte es zumindest ahnen müssen.
»Wasser.« Er schluckte. Warum hatte er das Gefühl, als hätte er die halbe Sahara im Hals stecken? Blinzelnd starrte er auf die Zeitung, die sein Vater in der Hand hielt, während er im Hintergrund hörte, wie seine Mutter ein Glas füllte. In der Zeitung wurde von einem Drohnenangriff gegen Aufständische in Afghanistan berichtet und davon, dass man einen der führenden Köpfe der Terroristen getötet hatte. Ein unglaublicher Druck legte sich auf seine Brust.
»Austrinken.« Ein Glas schob sich in sein Sichtfeld. Riccardo sah zu seiner Mutter, die die Hände in die Hüften gestemmt hatte. Dieser Blick duldete keinen Widerspruch und trennte ihn von der aufkochenden Wut in seinem Inneren.
Es dauerte eine Viertelstunde, ehe seine Mutter ihn wieder aus den Augen ließ und sich der Zubereitung des Abendessens widmete. Sein Vater hatte nur ein Mal kurz über den Rand der Zeitung gesehen und seine Cousine saß ihm mit einem bohrenden Blick gegenüber.
»Himmel, schau mich nicht so an«, raunte er ihr zu, darum bemüht, dass seine Mutter ihn nicht hörte.
»Hast du ´ne Ahnung, wie du eben ausgesehen hast?« Sie sprach ebenso leise und beugte sich zu ihm über den Tisch.
»Stell dir vor, nein«, brummend ließ er sich nach hinten in den Stuhl fallen, in der Hoffnung, sie würde nun nicht weiter sprechen. Er wollte sich nicht mit ihr streiten, zumindest nicht in Gegenwart seiner Eltern.
Alessandra stieß ein Schnauben aus und verschwand aus der Küche, nachdem sie ihren Stuhl geräuschvoll nach hinten geschoben hatte. Riccardo warf einen Seitenblick zu seiner Mutter, die immer noch am Herd stand und zu seinem Vater, der den Blick nicht gehoben hatte. Entweder hatten sie das Gespräch nicht bemerkt oder sie wollten es nicht bemerken. Wahrscheinlich wollten sie heile Familie spielen. Eine Familie mit der klassischen Rollenverteilung. So wie er sie gerade sah. Die Frau kocht, der Mann liest Zeitung und schafft das Geld ran. Und es war nie etwas passiert, was diese Familie erschüttert hatte. Sie hatten einen Sohn verloren und taten so, als wäre alles beim Alten. Sie machten so weiter wie immer. Nur ohne Miguel.
»Ich hab keinen Hunger mehr.« Riccardo stand auf und ärgerte sich über seine Worte. Er klang wie ein trotziges kleines Kind. Wie ein Kind, das in eben einer solchen Familie lebte, die alles durch eine rosarote Brille sah und in der Lage war, weiterzumachen, als wäre nie etwas vorgefallen.
»Ich habe aber doch extra Safranrisotto gemacht, das magst du doch so gerne.« Seine Mutter sah verwirrt von dem Topf auf.
»Mom, das WAR einmal mein Lieblingsessen, ich bin keine zehn mehr.« Ohne auf die Reaktion seiner Eltern zu achten, verließ er die Küche. Im Wohnzimmer schnappte er sich seinen Laptop und ging in sein Zimmer. Auch wenn er hier sein ganzes Leben verbracht hatte, war ihm der Raum nun fremd. Selbst nach einer Woche fühlte er sich hier einfach nicht wohl. Sein Blick wanderte durch das Zimmer. Der große dunkle Kleiderschrank wirkte erdrückend und das kleine Sofa trug Spuren seiner Jugend. Selbst das Bett war ihm fremd. Dabei war es doch bequemer als die Schlafplätze, die er in den letzten Jahren gehabt hatte.
Es war einfach von allem zu viel. Zu viel Cola, zu viel Essen, zu viel Kleidung und zu viel Luxus. Es drohte ihn zu erschlagen. Er fühlte sich, als hätte er in der vergangenen Woche eine Reise vom tiefsten Mittelalter in die Gegenwart gemacht, mit dem Problem, dass ihm das Mittelalter besser gefiel. Was seine Familie und allen voran Alessandra allerdings nicht verstehen konnte.
Eine Stunde später klappte er den Laptop enttäuscht zu. Er hatte tatsächlich eine Mail von Ballot erhalten, allerdings hatte sie, wie von dem Agenten angekündigt, kaum etwas enthalten, was für ihn von Belang war. Es gab keine Hintergrundinformationen zu der Verbindung zwischen seinem Bruder und der Frau, die er gekidnappt hatte. Da waren nur spärliche Informationen zu dem Team in den USA, in dem Miguel ein halbes Jahr gedient hatte. Es gab einen Auszug aus seiner Akte, in dem stand, dass er wegen unehrenhaften Benehmens aus eben diesem Team entlassen worden war, mehr nicht. Dort stand nicht, was passiert war. Was jedoch auch in der Mail von Ballot stand, war, dass die CIA über den Tag, an dem er in Afghanistan sein Gedächtnis verloren hatte, genau Bescheid wusste. Diese Worte waren nicht wie alles andere in Akten niedergeschrieben, von denen Ballot ihm Auszüge geschickt hatte, sondern in einer Textdatei, die der Agent selbst verfasst hatte. Der Angriff auf die Fahrzeuge von angeblich ranghohen Terroristen war von langer Hand geplant worden und niemand hatte damit gerechnet, dass man einen ausländischen Zivilisten bei dieser Aktion verletzten würde. In der Mail verlor Ballot allerdings kein Wort darüber, warum man ihn dort hatte liegen lassen und nicht gerettet hatte.
Er griff zu seinem Handy und wählte die Nummer des Agenten. Dieses Mal wartete er nicht darauf, dass sich der Mann persönlich meldete, sondern nur darauf, dass endlich die Mailbox ansprang, damit er eine Nachricht hinterlassen konnte. Er musste sich zwingen, nicht zu schreien. Er war wütend. Man hatte ihn bewusst zurückgelassen. Diese Tatsache machte es ihm schwer, Ballot ruhig um einen Rückruf zu bitten.