Codename Penthos – Liebe ohne Plan

1.

Das Wasser an seinen Händen war eiskalt und vor ihm spiegelte sich der Vollmond im See, an dessen Ufer er kniete. Er hob den Blick und starrte auf die Berge, die sich tiefschwarz am Horizont abzeichneten. Nur die Sterne und der Mond spendeten ihm ein fahles Licht. Nathan hörte eine Stimme. Irgendwo hinter ihm war jemand. Er zog die Hände aus dem Wasser, strich sie an der Hose ab und versuchte, seinen rasenden Puls zu kontrollieren. Er entdeckte einen Schatten, der auf ihn zukam. Ruhig und langsam. 

»Du hättest nicht kommen dürfen.« 

Es war Derrin, der ihn ansprach, und Nathan fiel ein Stein vom Herzen. Sein Freund war am Leben. Seine größte Angst hatte sich nicht bewahrheitet.

»Du hättest nicht kommen dürfen, hier ist es zu gefährlich für dich.« Derrin hatte ihn fast erreicht, als Nathan ein kurzes Aufblitzen sah und einen Schuss vernahm. Sein Herz setzte aus. Derrin taumelte auf ihn zu und fiel ihm in die Arme. Seine offenen braunen Augen starrten ihn leer an und von überall hagelten Kugeln auf ihn ein.

»Harrison, lass los, verdammt! Du kannst nichts mehr für ihn tun! Lass mich dein Bein ansehen!«, brüllte Tom ihn an.

Tom? 

Schweißgebadet schreckte Nathan mit rasendem Puls aus dem Schlaf. Kaum in der Lage zu atmen, bemerkte er nur am Rand, dass Harper neben ihm erwachte. Es fiel ihm schwer, zwischen Realität und Traum zu unterscheiden. In diesen Sekunden ließen sie sich einfach nicht trennen. Sie klebten aneinander wie Kaugummi. Derrin, er hatte von Derrin geträumt. 

»Nath? Alles in Ordnung?« Harpers Stimme war vom Schlaf belegt, und als sie ihn berührte, fühlte es sich an, als würde sie ihn verbrennen. Ein unerträglicher Schmerz raste durch ihn hindurch.

»Nein, nichts ist in Ordnung.« Er sprang aus dem Bett und taumelte, nur mit Shorts bekleidet, aus dem Schlafzimmer. Dass Harper seinen Namen rief, registrierte er nur am Rande. 

Nein, es war nichts in Ordnung. Er schnappte nach Luft und fand erst auf dem Flur sein Gleichgewicht wieder. Stützend ließ er seine Hände an der Wand entlang gleiten, aus Angst, dass sie plötzlich verschwinden würde und der Traum ihn einholte. Sein Weg führte ihn, tief einatmend und mit Herzrasen, auf die Terrasse zu ihrem kleinen Garten. Erst mitten auf dem Rasen blieb er stehen. Die kühle Nachtluft nahm er kaum zur Kenntnis, sein Blick wanderte ziellos über den Himmel. Nach was suchte er eigentlich? 

»Nathan?« 

Er nahm Harpers Stimme wahr, war jedoch nicht in der Lage, sich zu ihr umzudrehen, denn ihm wurde bewusst, wie er sie gerade angefahren hatte. Das hatte er nicht gewollt, genauso wenig wie er ihr Angst einjagen wollte. Aber dieser Traum … er hatte sich so real angefühlt.

»Darf ich zu dir kommen?« Ihre Stimme zitterte und er konnte ihre Angst heraushören. Wieder tief einatmend zwang er sich, die Kontrolle über sich wiederzuerlangen, ehe er nickte. Sah sie diese Geste? Er konnte gerade nichts sagen. In seinem Kopf herrschte ein Gewitter, das sich in diesen Sekunden zu einem penetranten Kopfschmerz entwickelte. Von jetzt auf gleich war da ein Stechen in jedem Millimeter seines Gehirns. Er wollte seine Hände an seine Schläfen pressen, tat es aber nicht. Er wollte Harper diesen Schmerz nicht zeigen. Sie sollte keine Angst um und schon gar nicht vor ihm haben. Er spürte, wie sie eine Wolldecke über seine Schultern legte und neben ihm stehen blieb. 

Sie hatten, kurz nachdem sie ein Paar geworden waren, eine Abmachung getroffen. Nathan hegte die Angst, dass er Harper während eines Flashbacks verletzen könnte, daher hatten sie sich darauf geeinigt, dass sie ihn in Momenten wie diesem ansprechen sollte. Sollte er ihr nicht antworten, war es besser, wenn sie sich fernhielt. Sollte dieser Zustand länger anhalten, hatte er ihr gesagt, dass sie seine Brüder informieren und das Haus verlassen sollte. Auf diesem Weg wollte er sie vor seinen Dämonen schützen, sollten diese je die vollkommene Kontrolle über ihn erlangen. Bisher war es zum Glück nie zu einem solchen Moment gekommen, aber in den letzten Nächten hatte er nur wenig Schlaf gefunden und war immer wieder von Albträumen heimgesucht worden. So intensiv wie gerade war es jedoch bisher nur selten gewesen. Er kannte den Ort, den er im Traum gesehen hatte. Es war ein See in Afghanistan und die Worte, die Tom ihm im Traum zugebrüllt hatte, hatte dieser auch im Realen schon einmal gerufen. Vor Jahren, als sein bester Freund Shane in seinen Armen verblutet war. Nathan konnte spüren, wie sich der Traum langsam von ihm löste und seine Dämonen ihn für den Moment freigaben. Er strich sich mit der Hand durch die nassgeschwitzten Haare und wandte sich dann schweigend Harper zu. 

»Danke.« Er griff nach den Ecken der Decke, die über seinen Schultern hing, legte seine Arme um seine Freundin und hüllte sie so ebenfalls ein. »Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.« 

Schweigend legte sie ihren Kopf an seine Brust. Sie würde nichts sagen. Schon oft hatte es ähnliche Momente gegeben, in denen sie sich wortlos hielten. Bei jedem Aussetzer hatte er sich bei ihr entschuldigt und immer hatte sie nicht reagiert. Er war stolz auf sie, dass sie seine Flashbacks schweigend ertrug. Aber auch sie litt gelegentlich unter ihren Albträumen. Ihre waren weniger geworden in den letzten Monaten. Es war, als wäre es ihr gelungen, ihre Vergangenheit in die Schranken zu weisen. Sie so wegzusperren, dass sie nicht zurückkonnte. Darum beneidete er sie. Auch er wollte seine Dämonen wegsperren. Für immer. Aber es gelang ihm einfach nicht. Entweder war er zu schwach oder die Dämonen zu stark. Obwohl, zu schwach war er nicht, sonst würde er Harper jetzt nicht im Arm halten. Ihr warmer Atem strich wie ein heilendes Pflaster über seine Brust. Seinen Kopf an ihren lehnend schloss er einen Moment die Augen. 

»Wie spät ist es eigentlich?« Er war aufgesprungen, nach draußen gerannt und konnte im Augenblick nur die Lichter der Stadt sehen. Er hatte keine Idee, wie spät es sein könnte. Es war so ganz anders als in seinem Traum, wo eine tiefe Dunkelheit und Stille geherrscht hatte, die es hier nicht gab. Es war, als würde San Diego auch in der Nacht sprechen. Leiser als am Tag, aber mit einem hörbaren Murmeln. Das gab es an vielen Stellen in Afghanistan nicht, weil dort einfach keine Menschen, keine Häuser und keine lärmende Infrastruktur die Welt vom Schlaf abhielt. 

»Als ich dir hinterhergekommen bin, war es halb zwei.« Harper hob den Kopf. »Gehen wir wieder ins Bett?« Sie flüsterte ihre Frage, er konnte ihren Wunsch, dass er genau das sagen würde, förmlich hören. Sie genoss es zwar, hier zu stehen, aber sie würde nicht die gesamte Nacht hier mit ihm verbringen, selbst dann nicht, wenn er es sich wünschen würde. Sie würde an seinen Verstand appellieren und gewinnen.

»Geh doch schon vor, ich komme nach.« Das in seinem Kopf tobende Gewitter würde verhindern, dass er schlafen konnte. Er fühlte sich, als würde er unter Strom stehen. Er würde sich schon zwingen müssen, sich überhaupt ins Bett zu legen. Wieder tauchten die Bilder des Traums vor ihm auf. Derrin, der auf ihn zu rannte und schließlich in seine Arme fiel. Ein unangenehmes warmes Gefühl breitete sich auf seiner Haut aus. Die Wärme, die viel zu schnell wieder wich und seine Hände, die feucht und klebrig wurden. Nein – das war Einbildung, das passierte nicht wirklich. Er biss die Zähne zusammen.

»Ich bleibe bei dir.« Harpers Stimme kam hallend bei ihm an und genau das machte ihm in diesem Augenblick Angst. Er konnte sich einfach nicht von diesem beschissenen Traum lösen. Diese verfluchte Wahnvorstellung wollte nicht verschwinden. Obwohl er wusste, dass er in seinem Garten stand, in seinem Zuhause, dass die Frau, die er liebte, in seiner Nähe war, fühlte es sich schwammig an. Ein Zustand zwischen Realität und Wahn, in dem es ihm nicht gelingen wollte, auf die wahre Seite zu kommen. Viel zu sehr war er auf Derrin fixiert. Er sah ihn direkt vor sich und traute sich nicht, neben sich zu schauen, obwohl er wusste, dass dort die ganz reale Harper stand. Er wusste, dass Derrin eine Einbildung war und dass es ebenso Einbildung war, dass er das Blut aus vielen Wunden sickern sehen konnte. Das war verdammt noch mal nicht echt und doch sog ihn dieses Bild förmlich auf. 

»Nath?« 

Ein Gefühl wie ein elektrischer Schlag durchlief seinen Körper und trennte ihn brutal von den Bildern in seinem Kopf. Einen Augenblick war er nicht in der Lage zu atmen und zu verstehen, was gerade passiert war. Ihm wurde bewusst, dass er auf dem Rasen kniete, und dass Harper dicht neben ihm hockte. In ihren Augen konnte er Angst erkennen. Keine Angst um ihr Leben oder vor ihm. Sie hatte Angst um ihn. 

»Alles okay?« Ihre Hand lag auf seiner Schulter und war wohl der Grund, warum er sich nun quälend langsam wieder in der Wirklichkeit zurechtfand. Dabei hatte er doch gesagt, sie sollte ihn nicht berühren. Es hätte auch sein können, dass er sie packte und zu Boden riss oder noch Schlimmeres tat. Sie sollte sich doch nicht in Gefahr begeben. 

»Ja.« Er erhob sich und reichte Harper eine Hand, um ihr aufzuhelfen. Als sie vor ihm stand, zog er sie in seine Arme und lehnte seinen Kopf erneut an ihren. »Danke«, leise flüsternd streichelte er durch ihre Haare. Sie löste sich ein Stück von ihm und ließ ihre Daumen über seine Wangen und seinen Bart gleiten. Erst jetzt spürte er die Feuchtigkeit, die sie verteilte. Dass sich Tränen aus seinen Augen stahlen, hatte er nicht bemerkt. Scheiße. Er wandte den Kopf ab und schob sie zurück. Das hätte nicht passieren dürfen. Warum zum Teufel vermischte sich alles? 

»Kommst du mit rein?« Flehend sah sie ihn an.

»Ja, aber ich geh noch duschen.« Er konnte nicht direkt zurück ins Bett. Er benötigte noch einen Moment, um sich zu sortieren. Harper stand die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. »Ich komm dann nach.« Seine Hände an ihr Gesicht legend dirigierte er sie wieder zu sich. Warm und weich legten sich ihre Lippen auf seine. Diese Nähe war es, die alles hier so real machte. Ohne sie wäre er gerade abgestürzt. Irgendwohin. »Na komm.« Es fiel ihm schwer, sich von ihr zu lösen. Er wollte sie spüren. Etwas Echtes. Nichts, was seinen wirren Träumen und Erinnerungen entsprungen war. Seine Finger verschränkten sich mit ihren, als sie zurück ins Haus gingen. Obwohl ein kleiner Teil von ihm sagte, er solle mit Harper ins Bett gehen und dort noch mehr von der Realität kosten, ließ er sie an der Schlafzimmertür los. »Gib mir noch ein paar Minuten.« Nach einem weiteren Kuss entließ er sie ins Schlafzimmer. 

2.

Harper konnte das Rauschen des Wassers im Bad hören. Kurz warf sie einen Blick auf den Wecker. Wie lange würde er duschen? Würde sie zu ihm gehen müssen, wenn er nicht in ein paar Minuten zu ihr kam? Würde ihn der Flashback wieder einholen, oder hatte er sich lösen können? 

Ihr eigener unruhiger Puls schien immer wieder das Geräusch des fließenden Wassers in der Dusche zu übertönen. Augenblicke wie der gerade vergangene im Garten waren sehr selten geworden. 

Als sie mit Nathan zusammengekommen war, hatte es sie einmal pro Woche gegeben. Sie hatten nur wenigen davon erzählt. Nathan hatte Angst um seinen Job gehabt. Angst davor, als verrückt abgestempelt zu werden. Seine Brüder und einige seiner Kollegen wussten von seinen Flashbacks. Aber keiner ahnte, wie häufig sie zeitweise gewesen waren. Erst seit einigen Monaten war es seltener geworden. Maximal einmal im Monat kamen sie noch vor. 

In den letzten Wochen, seit Nathans Kollege John verschwunden war, waren die Nächte wieder unruhig geworden. Albträume, die ihn aus dem Schlaf rissen und oft nur schwer wieder zur Ruhe kommen ließen, quälten sie beide. Seit Derrin vor einer Woche, ohne sich zu verabschieden, irgendwohin aufgebrochen war und sich, seit inzwischen fünf Tagen nicht gemeldet hatte, waren die Nächte die Hölle. 

Aber sie ertrug es. Sie konnte nicht anders, schließlich hatte Nathan sie ebenfalls unterstützt und ihr beigestanden, als Träume und Flashbacks ihr Leben bestimmt hatten. Außerdem sorgte auch sie sich um den jungen Afghanen, den sie als sehr guten Freund in ihr Herz geschlossen hatte. Derrin gehörte zu ihrem Leben wie die Kollegen von Nathan. Und genau wie bei seinen Kollegen sorgte er sich, wenn es Probleme gab. Ob Derrin allerdings Schwierigkeiten hatte, oder ob er geflüchtet war, weil er seine Heimat vermisste, vermochte sie nicht zu sagen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er gegangen war, weil er sich nach seinem Land sehnte. Schließlich wurde er dort von Terroristen gesucht und war vogelfrei. Jeder, der ihn fand, konnte mit ihm machen, was er für richtig hielt. Hier hatte er eine tolle Wohnung gefunden und einen Job, in dem er sich, so glaubte sie zumindest, wohlfühlte. Er konnte seine Muttersprache sprechen und Menschen helfen, die sich hier in den Staaten nicht verständigen konnten. Allerdings gehörten auch Häftlinge zu diesem Personenkreis. Meist Männer, die von Nathan, seinen Kollegen und anderen militärischen Einheiten gefangen genommen worden waren und hierher gebracht wurden, um sie zu befragen und mögliche Bedrohungen auszuschalten. Dabei war Derrin eine große Hilfe. 

Vielleicht konnte er die Art, wie mit seinen Landsmännern in den Gefängnissen umgegangen wurde, auch nicht ertragen. Sie hatte nie den Eindruck gewonnen, dass er sich hier nicht wohlfühlen könnte. Die erste Zeit war das sicher anders gewesen, da er rund um die Uhr überwacht worden war, da man davon ausgegangen war, dass er ein Terrorist war. Dieser Verdacht stand jedoch nicht mehr im Raum. Das könnte sich aber wieder ändern, wenn man herausfand, wo er war. Nur wenige Minuten hatte sie mit dem Gedanken gespielt, dass Derrin ihnen etwas vorgemacht hatte, dass er vielleicht doch ein Terrorist war und zudem ein verdammt guter Schauspieler. Aber das konnte und wollte sie sich nicht vorstellen. Er hatte immer echt und authentisch gewirkt. Sie kannte ihn und seine Flashbacks fast so gut wie Nathan und seine Albträume. 

Sie waren ein seltsames Trio, wenn sie sich mit etwas Distanz betrachtete. Nathan, der Soldat, der ausgebildet worden war, um Terroristen zu töten und nun von Erinnerungen und Albträumen gequält wurde, weil er genau das getan und schreckliche Dinge erlebt hatte. Derrin, der ebenfalls gegen Terroristen gekämpft hatte und zeitweise selbst einer geworden war, um sich zu schützen. Der ebenfalls mit seinen schwarzen Geistern zu kämpfen hatte. Und sie. Die einfach zur falschen Zeit am falschen Ort unterwegs gewesen war und ebenfalls Kontakt mit Terroristen gehabt hatte. Auch sie musste immer wieder mit Dämonen kämpfen. Diese dunklen Schatten und der Terror waren untrennbar miteinander verbunden. Jeder von ihnen hatte seine Ecken und Kanten und jeder hatte schlechte und auch sehr schlechte Tage. Tage an denen man aggressiv reagierte, die Nähe von Menschen nicht ertragen konnte, oder, wie bei ihr, Berührungen die Hölle waren. Trotzdem, oder vielleicht auch genau deswegen, wollte sie keinen anderen Freund und keinen anderen besten Kumpel. Nur jemand, der Ähnliches erlebt hatte, war in der Lage, sie zu verstehen. 

»Hey.« 

Sie zuckte zusammen. Dass Nathan aus dem Bad zurückgekommen war, hatte sie nicht bemerkt, da sie mit geschlossenen Augen ihren Gedanken nachgehangen hatte. Sie schlug die Augen auf und sah, dass er sich neben ihr auf dem Bett niederließ und sie aufmerksam ansah. Dann legte er eine Hand an ihre Wange. 

»Warum weinst du?« 

Sie spürte, wie er eine Träne mit seinen Fingern auffing. Sein prüfender Blick verlangte eine Antwort, vielleicht auch nur die Aussage, dass sie gerade nicht über ihre Gefühle reden wollte. Ihm diese Antwort zu geben hatte ihr sehr lange Angst gemacht. Sie hatte immer befürchtet, dass er genaue Erklärungen fordern würde. Dass ein: »Ich kann nicht darüber reden«, nicht ausreichend war. Aber er war anders. Diese Aussage konnte er verstehen. Dann folgten keine weiteren Fragen, kein Nachbohren Stunden oder Tage später. Diese Eigenschaft liebte sie an ihm und sie hatte sich angewöhnt, auch bei ihm diesen Satz zu akzeptieren, obwohl es schwerfiel. Sie hatte verstehen wollen, was in ihm vorging und was ihn belastete. Aber ab einem bestimmten Punkt war ihr klar geworden, dass es einfach Dinge gab, die man nicht in Worte fassen konnte, oder die beim Aussprechen alles verschlimmerten und erneut tiefe Wunden aufrissen. Diese Wunden konnte sie nur aufreißen, wenn sie sich dazu in der Lage fühlte, den Schmerz zu ertragen und über den Dämonen zu stehen, die beim Öffnen der Erinnerungen auftauchten. Tief einatmend versuchte sie, das in Worte zu fassen, was ihr durch den Kopf gegangen war. Es würde keine Wunden reißen. Es würde nur dafür sorgen, dass ihr bewusster wurde, was Derrin ihr bedeutete und dass sie ihn vermisste. 

»Ich vermisse unseren Afghanen.« Sie schmunzelte. Ihr Afghane, diese Titulierung für Derrin war in den ersten Wochen und Monaten immer negativ belastet gewesen. Weil jeder gedacht hatte, dass dieser Afghane nichts als Probleme und Terror brachte. Erst nach und nach hatte sich diese Einstellung verflüchtigt und sie hatten über die Bezeichnung lachen können. Inzwischen war Ihr Afghane eine Formulierung, die sie im Scherz anwandten und die sogar Derrin nutzte. »Er gehört doch zu uns. Mir ist nie wirklich aufgefallen, dass er sich in unserem Leben so breitgemacht hat.« Es gelang ihr, Nathan anzulächeln. »Er passt irgendwie gut zu uns, oder? Wir sind alle drei leicht bescheuert.« 

Nathan lachte nickend auf. »Ja, wir haben alle einen an der Waffel.« Seine Hände legten sich an ihr Gesicht. »Versprich mir, dass du nicht wegläufst.« Sie meinte, ein leichtes Zittern in seiner Stimme zu hören. 

»Versprochen.« Sie beugte sich ein Stück vor, bis ihre Lippen seine zu einem vorsichtigen Kuss berührten. »Meinst du, es geht ihm gut?« Diese Frage brannte seit Tagen unter ihren Nägeln und sie hatte sich noch nicht getraut, sie zu stellen. Sie hatte Angst, dass Nathan seltsam auf diese Anfrage reagierte. Dass Nathan geräuschvoll einatmete, ließ sie befürchten, die falsche Frage gestellt zu haben.

»Ich denke, er kann auf sich aufpassen.« Eine Pause entstand, in der sie sich an ihn lehnte. »Er kann auf sich aufpassen. Er weiß, was er tut.« Wieder suchte er nach den passenden Worten. »Ich wäre nur froh, wenn ich wüsste, was er macht.« 

»Ich auch.« Die Frage, ob Nathan dachte, dass sie Derrin wiedersehen würden, ersparte sie sich und Nathan. Sie wollte weder Angst noch Hoffnung schüren. 

3.

Ryan atmete tief durch, als er die Haustür von Anne Haston hinter sich ins Schloss zog. Dass er heute hier gewesen war, war sein Wunsch gewesen. Schließlich hatte er versprochen, sie auf dem Laufenden zu halten, was ihren guten Freund und seinen Kollegen John Thomsen betraf. Allerdings hatte er ihr nichts Neues mitteilen können. Er hatte einfach bei ihr im Wohnzimmer gesessen, dass von ihr angebotene Bier getrunken und die Zeit bei den geführten Gesprächen vergessen. 

Es war weit nach Mitternacht und eigentlich hatte er bereits um neun gehen wollen. Aber sie hatten immer wieder neue Gesprächsthemen gefunden und so war die Zeit verflogen, bis sie festgestellt hatten, wie spät es geworden war. Ständig hatte Ryan während der Gespräche Parallelen gezogen. John und Anne hatten ein ähnliches Verhältnis, wie er es zu seiner besten Freundin Diana gehabt hatte. Wobei er sich nicht sicher war, ob zwischen Anne und John nicht doch mehr war. 

Zwischen ihm und Diana hatte es nie mehr als Freundschaft gegeben. Erst im Nachhinein hatte er sich oft die Frage gestellt, ob da nicht doch mehr hätte sein können, wenn er es zugelassen hätte. Aber auch die Frage, ob ihm eine Beziehung lieber gewesen wäre, als diese tiefe Freundschaft, die sie gepflegt hatten, hatte er sich immer wieder gestellt. Er vermisste Diana. Heute war einer dieser Tage, an denen dieses Vermissen schmerzhafte Züge annahm. Wenn sie noch am Leben wäre, würde er jetzt wohl bei ihr auf dem Sofa sitzen und mit ihr reden. Wahrscheinlich nicht über das, was er mit Anne gesprochen hatte. Mehr ganz lapidare Dinge. Sachen, die im Prinzip völlig belanglos waren, da er sich so ablenken konnte.

Seit sie nicht mehr da war, spürte er von Woche zu Woche einen stärker werdenden Druck. Es war nicht alleine Dianas Fehlen in seinem Leben. Es war auch sein neuer Posten, der dafür sorgte, dass er schlechter schlief und in Gedanken ständig bei der Arbeit war. Captain hatte er nur für eine begrenzte Zeit sein wollen. Den Rang zu haben war das eine, die Arbeit die mit diesem Posten verbunden war etwas völlig anderes. Inständig hatte Ryan gehofft, diesen Posten innerhalb weniger Tage, maximal zwei Wochen, wieder abgeben zu können. Nun sah es von Tag zu Tag mehr so aus, als würde er ihn noch sehr lange innehaben. John blieb verschwunden. Es gab nichts Neues. Gar nichts.

Er zog die Tür des Rangers auf und stieg ein. Sollte er nach Hause fahren oder zur Base? Daheim würde ihn keiner erwarten oder stören. Er könnte noch fernsehen und später wieder Richtung Base aufbrechen. Nein, die Einsamkeit in seiner Wohnung würde ihn wahnsinnig machen, ihn erdrücken. In der Base wäre zwar auch niemand mehr in den Gemeinschaftsräumen, aber es wäre anders. Er hatte eines der unrenovierten Zimmer bezogen. Als Notlösung für Tage, an denen es jederzeit zu einem Einsatz kommen könnte. Wenn er es geschickt anstellte, würde am Morgen nicht einmal jemand bemerken, dass er die Nacht schon wieder nicht in seiner Wohnung verbracht hatte. Dann würde auch niemand Fragen stellen. Wobei man ihn noch nie gefragt hatte, warum er in der Base genächtigt hatte. Er lenkte den Wagen auf die Straße. Wenn er ehrlich zu sich war, wünschte er sich genau das. Jemanden, der ihn ansprach. Aber das konnte er aktuell von niemanden im Team erwarten. Alle waren angespannt. Es passierten fast nur negative Dinge, wenn er von der Geburt eines Kindes absah.

Mehr oder weniger geistig abwesend war er unfallfrei zur Base gekommen. Wirklich an den Weg konnte er sich nicht erinnern, als er aus dem Wagen stieg. Aber so war die Entscheidung gefällt, wo er die Nacht verbringen würde. Als er die Haupteingangstür der Base hinter sich ins Schloss fallen ließ, horchte er einen Augenblick in die herrschende Stille. Die Türen am Gang waren verschlossen, die Küche mit ihrem großen Ess- und Aufenthaltsbereich dunkel. Langsam ging er Richtung Treppenhaus und blieb vor den ersten Stufen stehen. Im Keller brannte Licht. Verwundert stieg er die Treppe hinunter. Der große Fitnessbereich mit den anschließenden Käfigen, in denen sie ihre Ausrüstung aufbewahrten, war verwaist und nur zwei Lampen brannten dort. Allerdings fiel Licht aus dem Raum, den sie sich für ihre Freizeit hergerichtet hatten. Warum war der Letzte, der ging, eigentlich nie in der Lage, das Licht auszumachen? Den Raum halb betretend wollte er gerade den Lichtschalter betätigen, als er Dennis entdeckte. Verwundert blieb er einen Augenblick regungslos stehen. Der achtundzwanzigjährige Deutsche saß mit dem Rücken zu ihm in der Sitzecke rechts von der Tür. Er war alleine und hatte ein Glas vor sich stehen.

»Hey Greenhorn.« Ryan machte sich bemerkbar, als er den Raum ganz betrat. Warum saß Dennis hier? 

»Hey.« Dennis erwiderte zwar seinen Gruß, aber drehte sich nicht zu ihm um. 

»Was machst du so spät noch hier?« Er ging auf seinen Kollegen zu.

»Ich brauchte noch ´nen Drink.« Dennis deutete auf das Glas vor sich, in dem sich zumindest optisch Cola befand. Sehr wahrscheinlich war der Geschmack aber ein völlig anderer. Dass Dennis alleine hier saß, war seltsam. Er war sehr selten hier. Selbst wenn die anderen Teammitglieder hier ihren Feierabend ausklingen ließen, fehlte er oft. Dennis zog sich dann in sein Zimmer zurück, was er dort tat, wusste Ryan nicht. Dieses Verhalten hieß aber nicht, dass Dennis kein guter Teamplayer war, es war nur seine Art, am Abend abzuschalten. Diese Tatsache hatte Ryan sich kurz nach seinem Eintritt in die I.A.T.F von Yvonne erklären lassen, die den Deutschen seit Jahren gut kannte, da sie bereits zuvor jahrelang zusammengearbeitet hatten, ehe sie in die Staaten gekommen war. 

»Was ist los?« Ryan zog sich einen Stuhl zurecht und setzte sich dem blonden Mann gegenüber. Dennis atmete geräuschvoll aus und vermied den Blickkontakt. Ryan wurde bewusst, dass dem ehemaligen Polizeibeamten etwas auf der Seele brannte oder zumindest schwer beschäftigte. 

»Wie würdest du einer Frau klarmachen, dass du keine Beziehung mit ihr eingehen kannst?« Nun richtete Dennis sein Augenmerk auf ihn und Ryan bemühte sich, nicht amüsiert zu grinsen. Wie sollte man das schon machen? Es gab nur einen Weg.

»Ich würde es ihr ins Gesicht sagen.« 

Dennis gab ein zustimmendes Geräusch von sich. »Und was würdest du machen, wenn du dir mit dieser Entscheidung nicht sicher bist?« 

Ryan war irritiert von den Fragen. Sollte er nun ernsthaft solche Fragen beantworten? Das waren doch Fragen, die Teenager stellten, aber kein Mann, der sicher bereits etliche Frauen kennengelernt und einige Beziehung geführt hatte.

»Ich würde die Pros und Kontras abwägen.« Eine Pause machend überlegte er, welchen Ratschlag er Dennis noch geben könnte. »Frag Poison doch.« Er warf einen Blick über die Schulter und stellte sich die Frage, ob er auch noch einen Drink nehmen sollte. 

»Ne, die wäre nur die Notlösung.« Dennis Lächeln wirkte gezwungen. 

»Um wen geht es?« Ryan hatte nicht mitbekommen, dass Dennis sich verliebt hatte, geschweige, dass es überhaupt eine Frau in seinem Leben gab. »Kenne ich sie?« Vielleicht half es ihm, wenn er wusste, wer Dennis schöne Augen machte. Er kannte einige von den Frauen, die hier auf dem Gelände der Coronado-Base unterwegs waren und die ein oder andere konnte er gut einschätzen. Es gab Frauen, denen man am besten direkt sagte, was man von ihnen hielt. Anderen musste man es schonend beibringen, damit es nicht zu einer gewaltigen Szene kam. 

»Lisa Atkins.« Dennis sah von seinem Glas auf. 

»Die, die Joe und Lexi rausgeholt hat?« Ryan war sich nicht ganz sicher, ob er den Namen in diesem Moment richtig zuordnete. Wenn dem so war, war sie Anwältin oder so und hatte erst vor Kurzem dafür gesorgt, dass zwei Teammitglieder der I.A.T.F nicht wegen Mordes in Mexiko im Gefängnis saßen.

»Na ja, sie hat die beiden nicht rausgeholt. Sie ist ja nur eine Anwaltsanwärterin. Sie kann tippen, Rechnungen erstellen und Termine übernehmen, bei denen die Anwälte nicht dabei sein müssen.« Dennis stieß den Atem aus.

»Ey komm. Nur weil sie keine Anwältin ist, musst du doch nicht gleich ein P vor die ganze Sache machen. Was soll deine Miss Right können? Oder sollte sie Astrophysikerin oder Millionärin sein?« Ryan schüttelte den Kopf. Er ging davon aus, dass Dennis der Job einer Partnerin egal sei, denn er hielt ihn nicht für oberflächlich. 

»Darum geht es gar nicht.« Dennis nahm einen Schluck aus seinem Glas und Ryan zog fragend eine Augenbraue nach oben. Wenn es nicht um den Job ging, um was dann? 

»Irgendwie passt es nicht. Sie will ständig wissen, was ich mache, wo ich bin und so. Ich bekomme gefühlt hundert Nachrichten am Tag von ihr. Sobald ich eine nicht innerhalb von zehn Minuten beantworte, fängt sie an zu nerven.« 

»Oha.« Ryan nickte. Er selbst kannte ein solches Verhalten nur aus Erzählungen. Diana hatte ihn nie mit Textnachrichten bombardiert. Natürlich hatte sie die ein oder andere geschrieben, aber wenn er nicht geantwortet hatte, hatte sie das hingenommen. »Sprich mit ihr. Erkläre ihr, dass du nicht immer sofort antworten kannst und dass es auch mal ein paar Tage dauern könnte. Wenn sie wirklich Interesse an dir hat, wird sie das verstehen.« Er zweifelte daran, dass seine Worte so klangen, wie sie mussten. Es war ihm recht egal, ob Dennis eine Beziehung mit dieser Frau einging oder nicht. Alleine schon die Tatsache, dass sein Kollege zu zweifeln schien, ließ ihn mit seinen Worten hadern. Wenn man sich seiner Sache nicht sicher war, sollte man einen Schlussstrich ziehen. Aber womöglich dachte er an diesen Punkten auch einfach zu kompliziert und das war der Grund, warum er bisher noch keine wirklich lange Beziehung gehabt hatte. 

»Vielleicht sollte ich das machen.« Dennis Worte waren halbherzig. »Was ich aber machen sollte, ist schlafen.« Er erhob sich und ging ohne ein weiteres Wort an ihm vorbei zur Bar, wo er das Glas lustlos spülte. »Danke fürs Quatschen.« Als er das Geschirrhandtuch über den Tresen geworfen hatte, sah er nochmals zu Ryan. 

»Kein Thema.« Ryan erhob sich ebenfalls. Es war bereits weit nach eins und ihm wurde klar, dass die Nacht viel zu kurz werden würde. Dennis war gegangen und der Raum war erschreckend leer und leise. Es war, als würde er jedes entstehende Geräusch verschlucken. Er starrte auf das Regal an der Bar. Dort hingen Biergläser. Es waren die schweren Gläser, wie sie wohl in den Staaten selten waren. Dennis hatte mal behauptet, dass man sie auf dem Oktoberfest geklaut hatte. Nein, das hatte man sicher nicht und Ryan wusste, dass die Gläser dort noch weit größer waren. Diese hier waren optisch anders. Jedes Glas war graviert und trug den Namen eines Teammitgliedes. Auch die Gläser ehemaliger Mitglieder hingen dort. Mitten zwischen den anderen. Ein Symbol, dass man sie nie vergessen würde, und auch ein Zeichen dafür, dass die I.A.T.F eine große Familie war. Selbst wenn man das Team verließ, war man willkommen. Es war immer ein Glas da und ein offenes Ohr. Diese Gläser nutzten sie nur selten. Meist nur in einer großen Runde. Seit Ryan hier war, hatte er es nur einmal erlebt, dass fast alle Gläser in Gebrauch gewesen waren. 

Er zwang sich aus seinen Gedanken. Den Raum verlassend löschte er das Licht. Im Keller herrschte Stille, als er auch im Fitnessbereich das Licht ausschaltete. Nur in den Reihen der Käfige brannte eine Notbeleuchtung. Ebenso im Flur des Erdgeschosses, das er nur kurz betrat. Doch er zögerte, als er in der Küche Licht entdeckte. War Dennis nun vom Alkohol zum Kaffee geflüchtet? Eigentlich ging es ihn nichts an, wenn der Deutsche in wenigen Stunden nicht aus den Federn kam. Schließlich gehörte er dem Alpha-Team an. Und doch ging er den Flur entlang, um einen kurzen Blick in den großen Aufenthaltsraum zu werfen. Schon auf dem Weg konnte er tatsächlich den Geruch von Kaffee wahrnehmen. Allerdings entdeckte er nicht Dennis. An der Küchenzeile lehnend, mit einer Kaffeetasse in der Hand, sah Randall ihm entgegen. 

»Hey Cap.« 

»Du sollst nicht Cap zu mir sagen.« Ryan schüttelte den Kopf. Er mochte es nicht, als Captain bezeichnet zu werden, auch wenn er diesen Posten aktuell innehatte. Er würde ihn hoffentlich bald wieder abgeben. 

»Dann Boss.« Randall nahm einen Schluck aus der Tasse. »Wie kommts, dass du noch auf bist?« 

»Die Frage könnte ich dir auch stellen.« Ryan spielte mit dem Gedanken, sich ebenfalls einen Kaffee zu nehmen. 

»Ich hab zuerst gefragt.« Randall grinste ihn schief an. Diese Art der Gespräche sorgte dafür, dass er sich im Gefüge der I.A.T.F wohlfühlte. Während der Trainingseinheiten und Einsätze gab es eine klare Hierarchie und Befehle wurden ohne Widerworte befolgt. In der Freizeit konnte man mit jedem normale Gespräche führen, ohne eine Rangfolge beachten zu müssen. »Ich war bei Anne Haston, bin da versackt und hier hab ich gerade mit Dennis unten gesessen. Und was machst du um …«, Ryan warf einen Blick auf seine Uhr, »… zehn vor zwei hier?« 

»Ich hab ein bisschen recherchiert.« Randalls Mimik veränderte sich. Dort, wo Ryan gerade noch den Klassenclown gesehen hatte, kam der ernste Teamkamerad durch. 

»Bezüglich?« Er war sich nicht sicher, ob er die Antwort jetzt haben wollte. Eine Stimme sagte ihm, dass er in dieser Nacht keinen Schlaf mehr finden würde, sollte er sie einfordern. 

»Wegen des Laptops, mit dem wir uns seit Monaten rumschlagen.« Randall nahm einen Schluck Kaffee und Ryan wollte bereits erleichtert ausatmen, als Randall weitersprach. »Der hat seit Monaten jede Eingabe, jedes Ergebnis und vielleicht sogar Gespräche von uns direkt an die CIA geschickt.« 

Ryan konnte nicht verhindern, dass sein Kiefer nach unten fiel. »Bitte?« Fassungslos starrte er seinen Kollegen an.

»Jeder Tastendruck wurde an die CIA übermittelt. Deswegen hatte der zeitweise Probleme. Der ist einfach schlecht programmiert. Alles, was er nicht sofort übertragen hat, weil er kein Netz hatte, hat er gespeichert und dann beim nächsten Start, noch ehe der Bildschirm angezeigt wurde, übertragen. Die wussten die ganze Zeit ganz genau, was wir wann gemacht haben, und machen wollten.« Randall legte eine Pause ein und schien darauf zu warten, dass Ryan mehr sagte. Aber ihm fehlten die Worte. Dass die CIA sie ausspionierte, sorgte für absolute Sprachlosigkeit bei ihm. Normalerweise spionierte die CIA die aus, bei denen sie in Nacht- und Nebelaktionen einfielen.

»Wer genau hat das angezettelt? Ballot?« Ryan hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Der Gedanke an Schlaf war verschwunden. Randalls Entdeckung würde schwerwiegende Folgen haben. Wem konnten sie trauen und gab es noch mehr Stellen, an denen sie überwacht wurden? 

»Die Daten wurden an eine Cloud geschickt, die Agent Bruening auf einem Server der NSA eingerichtet hat.« 

»Also sollte niemand rausbekommen, dass die uns ausspionieren.« Ryan strich sich mit der Hand über den Kopf. 

»Wenn du mich fragst, war das ein Ding, das Ballot ganz alleine eingefädelt hat. Der Einzige, den er sich als Handlanger zurechtgebogen hat, ist Bruening. Das könnte der Grund sein, warum der noch nicht ein Wort gesagt hat, seit Ballot abgehauen ist.« Randall setzte sich auf die Arbeitsplatte der Küche. Ryan nickte nachdenklich. Was sollten sie nun machen? Den Verteidigungsminister einweihen, der aufgrund der Tatsache, dass ein abtrünniger hochrangiger CIA-Agent einen Anschlag auf eine Eliteeinheit der USA befehligt hatte und ebenso unter Beobachtung aller stand wie der Präsident, der Schaden an seiner Glaubwürdigkeit genommen hatte. Ryan grübelte darüber, ob er Mattis informieren oder ob sie erst weitere Informationen sammeln sollten. Nur, was sollten sie noch sammeln? 

»Dieser Typ macht mich krank.« Ryan stieß die Luft aus. »Was schlägst du vor?« 

»Bruening fragen und dann schauen, ob die Überwachung noch läuft.« Randall zuckte mit dem Schultern.

»Rafael?« Ryan hatte in Gedanken bereits den NCIS-Agenten eingeplant. 

»Liv oder Joyce. Bruening ist alleinstehend.« Randall sah ihn vielsagend an.

»Meinst du echt, der redet, wenn er sich mit einer Frau unterhalten kann?« Ryan zweifelte an der Idee von Randall. »Der ist CIA-Agent. Der fällt doch nicht auf so eine Nummer rein.« Kopfschüttelnd wollte er dem Mann mit den roten wuscheligen Haaren klar machen, dass er die Idee für nicht funktionierend hielt.

»Hast du eine andere Idee?« 

Ryan stöhnte auf. Nein, die hatte er nicht.