Team IATF 8

Hochzeit auf Umwegen Leseprobe

1.

»Meinst du nicht, dass Yvonne uns das übel nimmt?« Anja konnte förmlich spüren, wie die Falten auf ihrer Stirn tiefer wurden, als sie fragend zu Mick sah, der sich nicht bei seiner Arbeit stören ließ. Er warf einige Meter von ihr entfernt einen weiteren Heuballen in die Futterraufe. Auch wenn er nicht reagierte, so wusste sie, dass er sie gehört hatte. 

Einen Augenblick betrachtete sie die Idylle, die sie umgab, in der sie sich so wohl fühlte. Hinter ihr das alte Bauernhaus mit seinen gusseisernen Fensterrahmen, hinter denen sich ein Teil von Micks Werkstatt verbarg. Der Garten, in den sie Ordnung zu bringen versuchte. Vor sich, der Mann, der sie in dieses Idyll geholt hatte. Mit Gummistiefeln stand er auf dem trockenen Boden und strich sich den Schweiß von der Stirn.

Seit sie vor sechs Monaten hier eingezogen war, hatten auch einige Tiere die leerstehenden Ställe bezogen. Auch wenn Mick sein Geld immer noch mit dem Anfertigen von teuren Möbeln verdiente, so war die kleine Rinderherde etwas, wovon er sich ein Zubrot versprach. 

Biofleisch von Biorindern. 

Anja verzog den Mund bei dem Gedanken, dass eines der kleinen Kälber, die vor wenigen Wochen geboren waren und wie kleine Teddybären aussahen, irgendwo in einer Fleischertheke enden könnte. 

Ein dumpfes Bellen ließ sie über die Schulter schauen, wo Artus, Micks Hund, mürrisch eine Katze anstarrte, die provozierend vor ihm auf und ab lief. Der große, dunkle Berner Sennenhund hätte das ungeliebte Katzentier mit einem Satz verscheuchen können. Kopfschüttelnd über den trägen Hund sah sie wieder zu Mick, der seelenruhig über den Kopf eines riesigen Bullen strich. Anja lief ein Schauer über den Rücken. Mit den Kühen hatte sie sich abgefunden, aber dieser gewaltige, rotbraune Bulle mit seinen langen Hörnern machte ihr Angst.

 Mick hatte ihn liebevoll Zorro getauft und so wohl gehofft, dass sie eine Beziehung zu ihm aufbauen würde, aber das würde nie passieren. Mick konnte ihr noch so oft versprechen, dass das schwere Tier harmlos war. Sie würde ihm nicht zu nahe kommen. Sie sah Zorro immer noch vor sich, wie an dem Tag, an dem er angekommen war: Polternd und tobend war er vom Hänger gesprungen und hatte den Stall und seine Frauen erobert. 

Zwischen ihr und dem Bullen würde es immer einige Meter Abstand und einen soliden Zaun geben, auch wenn er von Weitem noch so flauschig aussah. Micks Aussage, Highlander wären die gutmütigsten Rinder schlechthin, ignorierte sie. Sie kannte Highlandern bezüglich nur einen Spruch. Es kann nur einen geben, und sie war nicht darauf erpicht zu erfahren, was geschah, wenn Zorro seine Hörner einsetzen würde, um diesen einen zu finden. 

»Nein, warum sollte sie?« 

Erschrocken zuckte sie zusammen, als Mick plötzlich vor ihr stand und sie nur noch durch den Stacheldrahtzaun getrennt waren. Die Frage, die sie gestellt hatte, war bereits so weit in den Hintergrund gerückt, dass sie sie fast vergessen hatte. 

»Na, ich meine, dass ich ihr auch persönlich davon erzählen könnte. Also dass ich ihr den Termin ja schon mal sagen kann.« Sie legte den Kopf zur Seite, sah kurz Mick an und ließ dann ihren Blick über seine Schulter schweifen, wo sie Zorro entdeckte. Der Bulle stand an der Futterraufe und schob eine Kuh zur Seite, die ebenfalls fressen wollte. Typisch Kerl, schoss es ihr durch den Kopf. 

»Hey, ich dachte, du willst mich heiraten und nicht den Dicken hinter mir.« Micks Hand legte sich sanft an ihre Wange und zwang sie so, den Blick von dem Tier zu lösen. 

»Ja, will ich auch.« Sie blieb an seinen grünbraunen Augen haften. »Ich würde es ihr gerne am Telefon sagen. Was machen wir, wenn sie nicht da ist, wenn die Post ankommt? Oder sie gerne alle mitbringen will?« 

»Sie wird sich ganz sicher melden, wenn sie die Einladung erhalten hat. Und dass sie zurzeit in San Diego ist, weißt du doch, sonst würdet ihr nicht so viel telefonieren. Selbst wenn sie auf eine Mission müsste, würde Karen sich sicher melden. Oder glaubst du ernsthaft, dass Karen es sich nicht zur Aufgabe macht, regelmäßig nach den Wohnungen zu sehen?« Lächelnd strich Mick ihr über die Wange. 

Der Gedanke, dass ihre beste Freundin und seine Schwester ihrer Trauung vielleicht nicht beiwohnen konnte, versetzte ihr einen Stich. Sie würde Mick auf keinen Fall heiraten, wenn Yvonne nicht dabei war. Auch wenn das hieß, dass sie alle ausladen und einen neuen Termin festlegen musste. Aber ohne Yvonne wäre es, als würde sie ohne Mick vor den Altar treten. 

»Und du hältst dich an dein Versprechen, dass wir uns dann einen anderen Termin suchen werden? Ich will nicht ohne Ivy heiraten.« Auch wenn er es ihr bereits gefühlte tausend Mal versichert hatte, so wollte sie es nochmals von ihm hören. 

»Ja, dann suchen wir uns einen anderen Termin, und nein, du rufst sie nicht an. Sie weiß, dass wir uns verlobt haben. Das wusste sie fünf Minuten nach meinem Antrag.« Gespielt vorwurfsvoll sah er sie an und sie wollte ertappt zu Boden sehen, was er verhinderte, indem er ihr Gesicht mit seinen nach Rind riechenden Händen gefangen hielt. »Jetzt überraschen wir sie mal, okay?« 

Einen mürrischen Ton ausstoßend nickte sie und war sich nicht sicher, ob sie wirklich so lange warten konnte. Ob es ihr gelang, Yvonne nichts zu verraten, wenn sie telefonierten, oder ob es ihr irgendwann einfach herausrutschen würde? 

»Danke.« Mick trat näher an den Zaun, legte seine Hände in ihren Nacken und zog sie so an sich. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, als sein Mund langsam näherkam. Wie ein Windhauch legten sich seine Lippen auf ihre und seine Zunge begann, sanft um Einlass zu bitten. Ein angenehmer Schauer lief ihr über den Rücken und sie wollte Mick zurückhalten, als er sich von ihr löste. Erst als sie sah, warum Mick einen Schritt zur Seite ging, zuckte sie zusammen. Zorro stand nur wenige Zentimeter neben Mick und schob ihn zur Seite. 

»Hey, Dicker, das ist meine Frau.« Lachend trat Mick zur Seite und Anja machte erschrocken einige Schritte zurück. 

»Hey, er wird dich nicht fressen, der ist erwiesenermaßen Vegetarier.« Mick kletterte lachend zwischen den Drähten hindurch, um den Annäherungsversuchen des tonnenschweren Tieres zu entgehen. 

»Fressen nicht, aber erdrücken.« Sie beobachtete, wie Mick wieder auf sie zukam.

»Du magst doch starke Kerle mit vielen Muskeln.« Grinsend zog er sie wieder an sich. Jetzt war da kein mit Stacheln besetzter Draht mehr, der sich bei einer falschen Bewegung in ihren Bauch bohren konnte. Willig ließ sie sich in eine enge Umarmung ziehen und genoss es, wie seine Körperwärme mit ihrer verschmolz. 

»Aber nicht so haarige«, warf sie ein und es gelang ihr, ihre Lippen auf seine zu legen, ehe er ihr erneut erzählen würde, dass Zorro weit mehr Muskeln besaß als jeder SEAL, den sie je gesehen hatte. Mit diesem Vergleich zog er sie immer wieder auf und wollte ihr so wohl die Angst vor dem zotteligen Tier nehmen. 

Micks Hände wanderten an ihren Hintern, während sie ihre Finger in seinem Rücken vergrub. Sein Atem strich heiß an ihrem Hals entlang und sie vergaß einen Moment ihre Sorgen. Sie hatte tatsächlich den Mann gefunden, den sie nie wieder gehen lassen wollte, und das nur, weil ihre beste Freundin in Afghanistan in gewaltige Schwierigkeiten geraten war. Wäre Yvonnes erster Einsatz planmäßig verlaufen, hätte sie nie mitten in der Nacht Mick angerufen und wäre auch nie auf die Idee gekommen, zu ihm zu fahren. 

Micks Zunge forderte Einlass, den sie willig gewährte. Seit sie Mick kannte, fühlte sich alles so richtig und perfekt an, dass es nicht besser sein konnte. Einzig der Umstand, dass Yvonne tausende Kilometer entfernt war, wenn sie Sorgen und Probleme hatte, brachte an einigen Tagen dunkle Wolken in ihr Leben. Diese verflüchtigten sich aber immer wieder, wenn sie endlich telefonieren konnten. Die Freundschaft zu Yvonne war etwas ganz Besonderes und auch das Verhältnis zu Syrell und den anderen Mitgliedern des Teams der IATF war, dafür, dass sie sie kaum kannte, herzlich. Zu gerne würde sie Yvonne wieder besuchen, aber die Kosten für einen Flug nach San Diego waren nicht gerade gering und das Loch, das ihr letzter Besuch in die Kasse gerissen hatte, war gerade gestopft. Jetzt war erst die Hochzeit geplant, dann irgendwann würde sie wieder nach San Diego reisen. Dieser Besuch sollte geplant und ohne Stunden der Ungewissheit werden. Dann wollte sie sich von Yvonne San Diego zeigen lassen und das kleine Haus, das Yvonne und Syrell sich gekauft hatten, nachdem sie bei einem Anschlag ihr Zuhause verloren hatten. Und sie würde Karen Baker besuchen. Die Haushälterin des Teams war ihr innerhalb weniger Tage sehr ans Herz gewachsen. Ohne Karen wäre Anja Amok gelaufen, als ein ehemaliger Kollege des Teams ihre Freundin gekidnappt hatte und niemand wusste, ob man sie lebend finden würde. 

»Hey, du träumst ja.« Micks leises Lachen ließ sie blinzeln. Er hatte sich von ihr gelöst, ohne dass sie es gemerkt hatte. Sie schüttelte kurz den Kopf. 

»Nein, ich habe nur …« Sie geriet ins Stocken. Ja, was hatte sie? 

»Hast du wohl.« Micks Mundwinkel bogen sich nach oben und kleine Grübchen bildeten sich in seinem Gesicht. »Lass uns reingehen. Ich hab Hunger.« Er legte einen Arm um ihre Taille und sie ließ sich widerstandslos von ihm mitziehen. Das tiefe Bellen von Artus hallte über den Hof.

»Du hast einen vergessen.« Anja warf einen Blick über die Schulter, sprach aber nicht Artus an, der sie mit seinen treuen Augen musterte, sondern Mick, der einfach weiterging, obwohl der Hund bellend Aufmerksamkeit forderte.

»Der kann auch warten, bis ich uns was gekocht habe.« Mick lachte auf. »Außerdem fällt dann ja vielleicht was für ihn ab, was nicht aus der Dose kommt.« 

»Hast du gehört? Der Boss macht dir ein Leberwurstbrot.« Anja löste ihren Blick von Artus und betrat gemeinsam mit Mick das Haus. Dass er seine schwarzen Stiefel von seinen Füßen strich und dann mit einem Rumpeln in die Ecke des kleinen Raumes beförderte, in dem sie standen, ließ sie genervt aufseufzen. Der Dreck, der eben noch unter den Sohlen gehaftet hatte, war nun in großen Stücken auf die cremefarbenen Fliesen gebröckelt. 

Der Raum war klein und jede einzelne Ecke war mit dreckigen Schuhen und Klamotten gefüllt. Die Wände hatten einen blauen Anstrich, auf dem ein Muster aufgebracht war, das mit Sicherheit älter war als Mick. Irgendwann würde sie ihn davon überzeugen, dass dieses kleine Kabuff dringend eine Renovierung benötigt. 

Seine Jacke flog auf einen alten Holzstuhl und Sand rieselte aus seinen Hosentaschen, als er auch die Hose auszog. Der missbilligende Laut, der ihr entschlüpfen wollte, blieb ihr im Halse stecken, als Mick ihr seine knackige Rückansicht präsentierte. Unbewusst fuhr sie sich bei dem Anblick der muskulösen Beine mit der Zunge über die Lippen. Langsam ließ sie ihren Blick von seinen Waden über seine Oberschenkel bis hin zu seiner Brust wandern, als er sich umdrehte. Auch wenn sie seine Bauchmuskeln gerade nur erahnen konnte, wusste sie, dass sich unter dem dunkelblauen Hemd ein Sixpack befand, welches man mit den Fingern nachzeichnen konnte. Verträumt nagte sie an ihrer Unterlippe, als sie darüber nachdachte, wie sich seine Haut anfühlte. 

»Soll ich mich ganz ausziehen?« Mick ließ seine Muskeln spielen und drehte sich um die eigene Achse. 

»Wenn du das machst, gibt es weder für uns, noch für den Hund was zu essen.« Anja konnte sich durchaus vorstellen, das Essen ausfallen zu lassen und dann den Abend mit Mick im Bett zu verbringen. Es war eine sehr verlockende Vorstellung. 

Das Klingeln des Telefons sorgte jedoch dafür, dass sie ihren Gedanken fürs Erste verwarf. Micks Stöhnen deutete an, dass er wenig gewillt war, in diesem Moment ans Telefon zu gehen. Und doch ging er an ihr vorbei durch die alte Holztür in den Flur. Seufzend tauschte Anja ihre Sneaker gegen weiße Plüschschuhe und betrat ebenfalls den Flur mit den kleinen gelben und blauen Fliesen. 

Hier war die Zeit wirklich stehen geblieben. Die Tapeten mit dem großen Ährenmuster waren gut und gerne dreißig Jahre alt und die Fliesen brachten es sicher auf fünfzig Jahre. Renovieren, schoss es ihr wieder durch den Kopf. Sie mussten dringend den alten Muff aus dem Haus bekommen. Sie wollte die Küche betreten, zögerte aber, als sie Micks aufgebrachte Stimme vernahm. Skeptisch machte sie einige Schritte zurück Richtung Wohnzimmer, an dem sie vorbeigekommen war. Vor der Tür stehend hielt sie die Luft an, um ihn besser verstehen zu können. Wütend redete er im Wohnzimmer auf seinen Gesprächspartner ein und schnell wurde ihr klar, dass es seine Mutter war, die für seine gereizte Stimmung sorgte. Anja stieß die angehaltene Luft aus und fragte sich, ob sie zu ihm gehen oder lieber warten sollte, bis er das Gespräch beendet hatte. Vielleicht musste sie sogar eine Weile warten, ehe sie wieder mit ihm reden konnte, damit er sich beruhigen konnte. 

Die Eltern von Mick und Yvonne waren alles andere als einfach, wobei sie immer das Gefühl hatte, dass sie das Leben ihres Sohnes weit mehr unterstützten, als das ihrer Tochter. Yvonne hatte seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihnen. Ihnen passte weder der Job, den sie hatte, noch der Mann an der Seite ihrer Tochter, und das, obwohl sie ihn nur durch Micks Erzählungen kannten. Anja hatte Micks Eltern bisher nur wenige Male getroffen und war positiv überrascht gewesen. Zumindest bis zu dem Moment, in dem Yvonne zur Sprache gekommen war. 

Magrit Banz hatte sich begeistert darüber geäußert, dass ihr Sohn eine so bodenständige Frau gefunden hatte. Das ältere Ehepaar hatte ihnen Hilfe bei der Organisation der Hochzeit zugesagt und sich mehrfach dafür entschuldigt, dass sie so lange den Kontakt zu ihrem Sohn gescheut hatten. Es wurden ruhig Dinge besprochen, die weit vor Anjas Zeit passiert waren, und sie war kurz der Meinung gewesen, dass ein normales Familienleben mit seinen Eltern möglich sein könnte. Der Gedanke war aber wie eine Seifenblase zerplatzt, als Mick erwähnt hatte, dass sie nur heiraten würden, wenn Yvonne auch dabei sein würde. Ab da hatte sich alles nur noch um Yvonne, Syrell und Politik gedreht und sie hatten kein gutes Haar an Yvonne gelassen. Es hatte sich angefühlt wie eine mittelalterliche Hexenjagd. 

»Also ich bin noch eine Bleistiftlänge davon entfernt, sie auszuladen.« Mick kam mit vor Wut funkelnden Augen auf sie zu. 

»Wieder wegen Yvonne?« Eigentlich hätte sie sich diese Frage auch sparen können. Natürlich ging es um Yvonne. Wenn es ein rotes Tuch in der Familie gab, in die sie einheiraten wollte, dann war es ihre beste Freundin.

»Ja, sie wollen, dass wir auch heiraten, wenn sie nicht hier sein kann. Außerdem hat mein Vater mir eben dazu geraten, ihr Haus zu verkaufen, da es nur Kosten verursacht. Ich soll Ivys Sachen einfach in die Altkleidersammlung tun und die Möbel verschenken.« Er ließ den Kopf in den Nacken fallen und starrte die Decke an. 

»Bitte was? Ich werde dich nicht heiraten, wenn Yvonne nicht hier ist, und das Haus wirst du nicht verkaufen. Notfalls zieh ich da ein, oder du vermietest es. Aber auf keinen Fall wird es verkauft oder irgendetwas von den Sachen, die dort noch sind, entsorgt.« Entrüstet stemmte sie die Hände in die Hüften.

»Ich habe doch gar nicht vor, das zu tun, was meine Eltern wollen.« Er griff nach ihrer Hand und zog sie an sich. »Ich würde das Haus nie verkaufen. Vermieten vielleicht, aber ich würde es nicht verkaufen. Wer weiß, vielleicht ziehen da irgendwann unsere Kinder ein.« Ein schelmisches Lächeln umspielte seine Lippen. Schweigend schüttelte Anja den Kopf. Kinder waren zwar geplant, aber der Gedanke daran, dass diese irgendwann in das kleine Haus ziehen würden, war so weit weg, dass sie ihn nicht greifen konnte. 

Zurzeit lebte ein alter Freund von Mick kostenfrei in Yvonnes ehemaligem kleinen Heim. Rainer Becht war vor drei Wochen bei ihnen aufgetaucht und hatte Mick gefragt, ob er ihm für einige Wochen eine Unterkunft bieten könnte, da seine Frau ihn rausgeworfen und sein Konto geplündert hatte. Auch wenn Mick anfangs gezögert hatte, da er Rainer über fünfzehn Jahre nicht gesehen hatte, so hatte er schließlich zugesagt. Anja wusste nicht, was sie von dem Mann mit den langen, ungepflegten Haaren und dem wild wuchernden Bart halten sollte. Bisher war er zweimal auf einen Kaffee bei ihnen gewesen. Er machte einen netten und ruhigen Eindruck und trotzdem war da immer ein seltsames Gefühl. Außerdem verschwand Mick abends oft zu ihm und kam erst Stunden später angetrunken zurück. In Gedanken versunken folgte sie Mick in die Küche, wo ihr bereits der Duft von Kaffee entgegenwehte. 2.

Tief ausatmend ließ Yvonne sich auf das Sofa sinken. Jeder Knochen schmerzte. Was aber noch schlimmer war, war, dass ihr Kopf ihr sagen wollte, dass jede weitere Information ihn zum Platzen bringen könnte. Den ganzen Tag hatte Rafael sie mit Gesetzestexten und anderen Formalitäten gequält und nun war sie der Meinung, dass bereits eine einzige Feststellung von Syrell ihre Aufnahmefähigkeit sprengen könnte.

Sie schloss die Augen und lauschte auf die Geräusche im Haus. Sie konnte Syrell hören, der an der Küchenzeile die Post sortierte, und das leise Ticken der Wanduhr. Mehr war da nicht. Sie hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass sie nur zu zweit in dem Haus waren. Da waren keine dutzenden Fußpaare, die irgendwo herumliefen. Keine Gespräche, die sie von dem ablenken wollten, was sie gerade tat, und niemand, der ihr nun einen Kaffee anbot. 

»Hey, das stimmt nicht. Ich mache dir gerne einen.« Syrell kam von der Seite auf sie zu und sie konnte spüren, wie seine Präsenz sich schützend und beruhigend um sie legte. Auch wenn er ihr einen Kaffee machen würde, an manchen Tagen fehlte ihr der Trubel der Villa, die Nähe der anderen Teammitglieder und das gute Essen von Karen. Auf der anderen Seite genoss sie auch die Ruhe und die Zweisamkeit mit Syrell. Das Haus war ein Traum und hatte das besondere Etwas. Schon beim ersten Betreten hatte sie gespürt, dass dieser Ort der richtige war. Er war nicht perfekt, das hatte sie zwar auch gespürt, aber perfekt wären sicher nur Orte, an denen sie aufgewachsen waren. Syrell sank neben ihr auf die Couch. 

»Schau mal, du hast Post.« 

Blinzelnd öffnete sie die Augen und sah direkt auf einen quadratischen, beigefarbenen Umschlag. Zögernd ergriff sie ihn, als sie die Handschrift auf der Vorderseite erkannte. Eigentlich hätte sie ihn nicht umdrehen müssen, sie tat es trotzdem. Er war von ihrer besten Freundin und in ihr keimte ein leiser Verdacht dessen auf, was sie dort vorfinden würde. Mit leicht zitternden Fingern öffnete sie den Umschlag und zog eine runde Karte heraus, die wie eine Parkscheibe aufgebaut war. Es gab ein kleines Fenster, hinter dem sich eine Scheibe drehen ließ. Mit jedem Mal drehen, bekam man eine neue Information. Als Erstes stand dort, „Wir trauen uns.“ Yvonne schnappte nach Luft und sah zu Syrell, der sich lächelnd zurückgelehnt hatte, damit er einen besseren Blick auf die Karte hatte.

Langsam drehte sie die Scheibe weiter. Anja Ringe und Mick Banz

»Das gibt es nicht. Warum hat sie nie etwas gesagt?« Fassungslos drehte sie die Scheibe weiter und erhielt ein Datum. »Das ist in einer Woche.« Kopfschüttelnd drehte sie weiter und erhielt die Adresse einer Gaststätte, die sie noch aus Kindertagen kannte. Als Letztes war Anjas Handynummer aufgelistet und eine kleine, handgeschriebene Notiz. Du kannst gerne alle mitbringen. Wenn du nicht kannst, verlegen wir die Hochzeit. Ruf mich an. Die letzten Buchstaben waren kaum noch zu lesen, da der Platz nicht ausgereicht hatte, um deutlich zu schreiben. »Ich fasse es nicht.« Ungläubig sah sie sich nochmals alle Daten an. »In einer Woche, Sy.« 

»Tja, da würde ich sagen, wir buchen einen Flug, nehmen uns Urlaub und besuchen deine alte Heimat.« Syrells Lippen legten sich auf ihre Wange und er gab ihr einen kurzen Kuss, ehe er aufstand. 

»Wo willst du hin?« Verwundert sah sie ihn an.

»John anrufen, Urlaub einreichen und dann einen Flug buchen.« Ein Schmunzeln umspielte seine Lippen. Das ging ihr dann doch etwas zu schnell. Sie hatte das Gefühl, dass Syrell bereits vor ihr von der Hochzeit erfahren hatte. 

»Moment, wusstest du davon?« Träge von dem langen Tag setzte sie sich auf.

»Nein, ich wusste nichts davon, es war nur eine Vermutung nach den vielen Gesprächen, die ihr in letzter Zeit geführt habt.« 

Yvonne stieß den kurz angehaltenen Atem laut aus, während sie Syrell beobachtete, der bereits das Mobilteil des Telefons in der Hand hielt. 

Hatte sie Anja in den letzten Wochen nicht zugehört oder waren ihr wichtige Dinge entgangen, wenn sogar Syrell damit gerechnet hatte, dass Anja und Mick heiraten würden. Okay, sie legte nachdenklich den Kopf zur Seite und starrte den Kamin an. Die beiden hatten ihnen vor einigen Monaten mitgeteilt, dass sie sich verlobt hatten, aber damals gab es noch nichts, was auf eine baldige Hochzeit hingedeutet hätte. 

Seufzend schob sie ihre Füße über das Parkett, bis ihre Beine komplett ausgestreckt waren. Nach einer Verlobung kam logischerweise eine Hochzeit, aber warum hatte Anja in den letzten Wochen nicht ein Wort darüber verloren? Sie würde, sobald Syrell John angerufen hätte, Anja anrufen und ihr sagen, dass … ja, was wollte sie ihr sagen? 

Sie hätte sich gewünscht, dass Anja sie angerufen hätte, um ihr von der Hochzeit zu berichten. 

Irgendwie fühlte sie sich übergangen. Anja war ihre beste Freundin, auch jetzt nach zwei Jahren noch. Auch, oder erst recht, weil sie seit zwei Jahren nicht mehr in Deutschland gewesen war. Allein über die Telefonate pflegten sie ihre Freundschaft. Wenn sie von Anjas Besuch vor Monaten absah, den weder sie noch ihre Freundin hatte genießen können, hatten sie sich ewig nicht gesehen. Sorgte die Entfernung von San Diego nach Deutschland nun dafür, dass ihre Freundschaft auseinanderdriftete? Grübelnd wanderte ihr Blick von dem leeren Kamin, der ihr gegenüberstand, zu der großen Terrassentür, die in ihren Garten führte. Draußen begann es zu dämmern und die untergehende Sonne hatte tiefrote Streifen an den Horizont gemalt. Ihre Gedanken entglitten ihr und sie erinnerte sich an das letzte Telefonat mit Anja. Sie hatte ihr wieder einmal von einer jungen Kollegin erzählt, mit der sie in letzter Zeit fast täglich vor oder auch nach der Arbeit gemeinsam Kaffee trank und, wie es sich anhörte, auch gerne mit ihr telefonierte. Je länger Yvonne darüber nachdachte, umso schmerzlicher wurde es. Legte Anja keinen Wert mehr auf ihre Freundschaft? 

»Hey, du bist ja eifersüchtig.« Syrell fiel wie ein Stein neben ihr auf die Couch. 

Ein leises Brummen ausstoßend nickte sie. Er hatte recht, sie fühlte sich übergangen und bildete sich ein, dass Anja sie einfach gegen eine andere beste Freundin eingetauscht hatte. 

»John gibt uns eine Woche Urlaub. Wir können in fünf Tagen fliegen«, erklärte Syrell ihr gelassen. 

»Hm.« Seine Worte hatten sie nicht wirklich erreicht. Sie starrte weiter aus der Glastür in den Garten, wo man nun eine Reihe kleiner Solarlampen erkennen konnte. Es dauerte einige Sekunden, ehe sie begriff, dass Syrell ihr das Telefon reichen wollte, damit sie Anja anrufen konnte. Sollte sie wirklich anrufen? Es war fünf Uhr am Morgen in Deutschland und sie wusste, dass Anja jeden Tag gegen sieben aufstand. Da würde eine Störung sicher nicht positiv aufgenommen werden. Zumindest konnte sie es nicht leiden, wenn sie früher als geplant aus dem Bett gerissen wurde. 

»Dann essen wir erst was, und dann rufst du sie an.« Er zog die Hand mit dem Telefon verständnisvoll lächelnd zurück. 

»Kannst du mal kurz aus meinem Kopf rausbleiben?« Sie sah auf und ließ sich von seinen braunen Augen gefangen nehmen, die sie amüsiert anfunkelten. Schweigend legte er den Kopf zur Seite und sie wusste, was er dachte. Es war ihr kaum möglich nicht zu wissen, was er dachte, und da es ihm ähnlich ging, konnten sie sich oft die Worte sparen, die sie sprachen.

 Verträumt beobachtete sie, wie er zurück zur Küchenzeile ging, den Kühlschrank öffnete und dabei ein leises Stöhnen ausstieß. Sie wusste, dass dort seit Tagen Ebbe herrschte und dass sich nichts daran ändern würde, wenn sie jeden Tag völlig erledigt von der Base heimkommen würden. Das war einer der Gründe, warum sie Karen so sehr vermisste. In der Villa hatte es nie einen leeren Kühlschrank gegeben. Irgendetwas war immer da gewesen, was man sich kurz in den Backofen oder die Mikrowelle hatte schieben können, wenn man kaum noch in der Lage gewesen war, seinen eigenen Namen auszusprechen. Karen hatte sie so oft vor dem Hungertod bewahrt. Ohne Karen war es, als wäre hinter der Kühlschranktür ein schwarzes Loch, das alles in sich hineinsog, was man hineinstellte. 

Träge erhob sie sich und verließ das Zimmer. 

»Die Handtücher sind noch auf dem Wäscheständer«, rief Syrell ihr nach, als sie die Badezimmertür bereits geöffnet hatte.

 So ein Mist! 

Wieder ein Moment, den es in der Villa nie gegeben hatte. Langsam schlich Yvonne mit schmerzenden Beinen die Treppe hinauf in das Zimmer, welches von dem Vorbesitzer des Hauses als Kinderzimmer genutzt worden war. Nun gab es in dem Zimmer nur drei Wäscheständer, die nur darauf warteten, dass jemand kam und die Wäsche dorthin zurückbrachte, wo sie hingehörte. Yvonne war klar, dass die Sachen bereits seit Tagen trocken waren, aber sie hatte sich noch nicht aufraffen können, sie in die Schränke zu räumen, die im Schlafzimmer nebenan standen. 

Mit einem Handtuch und frischer Wäsche in der Hand schloss sie wenige Minuten später die Badezimmertür hinter sich. Sie begann zu verstehen, warum die anderen Teammitglieder in letzter Zeit immer wieder sagten, sie würden gerne wieder in einen Einsatz gehen und sei es nur eine Trainingsmission. Sie bildete sich ein, dass eine Mission nur halb so anstrengend war, wie das Training der letzten Tage und Wochen. Die Einheiten am Strand, auf dem Parcours und in den Schwimmbecken waren neben den stundenlangen Unterrichtseinheiten der blanke Horror. Noch nie hatte sie so viele Paragraphen gepaukt wie in der letzten Zeit. 

Mit geschlossenen Augen ließ sie sich das heiße Wasser über das Gesicht laufen. Erst Minuten später, als Syrell an die Tür klopfte, drehte sie das Wasser wieder ab und stieg aus der Dusche. Der Raum war mit Dunst gefüllt, der sich auch am Spiegel niedergeschlagen hatte. 

»Kleines, das Essen ist da.« 

Sie konnte hören, wie er wieder verschwand, und wunderte sich, dass sie das Klingeln an der Tür nicht gehört hatte. Wann hatte er etwas zu essen bestellt und vor allem, für was hatte er sich heute entschieden? Am Tag zuvor war es Indisch von einem Lieferservice gewesen, das leider fast kalt bei ihnen angekommen war und trotzdem ein halbes Vermögen gekostet hatte. Mit der Hand strich sie den Dunst vom Spiegel und was sie sah, ließ sie aufstöhnen. Ein müdes Gesicht blickte ihr entgegen und schrie förmlich nach Urlaub. Aber ob eine Woche in Deutschland ausreichend war und ob es überhaupt so etwas wie Urlaub werden würde, wusste sie nicht. 

Als sie über den Flur in die Küche trat, sah sie verblüfft, wie Lyndsay am Herd stand und mit einem langen Holzlöffel in einem dampfenden Topf rührte. Die dunkelhaarige Frau sah sie lächelnd an. 

»Hey, Ivy. Rod meinte, dass ihr vielleicht Hunger habt. Ich habe zu viel Chili con Carne gemacht.« Sie zuckte mit den Schultern. »Außerdem haben wir uns lange nicht gesehen.« Sie umrundete die freistehende Küchenzeile. 

»Na, so lang ist es auch nicht her.« Yvonne umarmte Lyndsay freundschaftlich. »Schön, dass ihr hier seid. Sind die Männer draußen?« Sie warf einen kurzen Blick aus den großen Terrassenfenstern, konnte aber niemanden sehen. 

»Ja, die holen noch das Bier aus dem Wagen, Rod meinte, ohne Bier dürfen wir nicht herkommen.« Lyndsay eilte wieder zum Topf, wo man ein leises Blubbern hören konnte. Das Chili kochte bereits wieder. 

»Ihr könnt jederzeit auch ohne Bier kommen. Ich deck mal den Tisch.« Kopfschüttelnd über Rods Meinung griff Yvonne in einen der Hängeschränke und nahm Teller mit an den Esstisch, der in der Ecke des Wohnzimmers ein meist einsames Leben fristete. 

Eine Dreiviertelstunde später lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück und schloss die Augen. So gut hatte sie seit Wochen nicht gegessen. In ihren Gesprächen war mehrfach der Vorschlag gefallen, dass Lyndsay gemeinsam mit Karen einen Cateringservice gründen und so das Team versorgen könnte. Leider war es Rod, der diesen Vorschlag schnell abgetan hatte, so dass die Hochzeit von Anja in den Mittelpunkt gerückt war. Rod hatte Anja zwar nur flüchtig kennengelernt, freute sich aber für das Paar in Deutschland. Yvonnes Gedanken drifteten immer weiter ab. Die Müdigkeit griff erbarmungslos nach ihr. Es fiel ihr immer schwerer, den Gesprächen zu folgen und die Augen offen zu halten. 

»Hey, Kleines, wolltest du nicht noch telefonieren?« Syrells Stimme riss sie aus dem Dämmerzustand und das Erste, was sie sah, war Rods breites Grinsen, der darüber amüsiert war, dass sie um ein Haar auf dem Stuhl eingeschlafen wäre. 

»Ich sag ja, Sean ist ein Sadist, Ivy. Er macht sich einen Spaß daraus, uns zu quälen und zu sehen, wie wir am Abend tot ins Bett fallen, während er die Bars unsicher macht.« Rod nippte an seinem Bier. 

Yvonne erwiderte nichts auf die Feststellung. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Sean noch die Kraft aufbrachte, um in eine Bar zu gehen. Sie erhob sich und ging auf die Küchenzeile zu, wo das Mobilteil des Telefons auf der schwarzen Arbeitsplatte lag. Sie bekam nur noch am Rande mit, wie Syrell und Rod sich über Nuyen unterhielten, der seit kurzem mit Cayden auf dem Schießplatz trainierte. Der Marine machte sich dort und beim Training sehr gut. Was ihm jedoch nicht lag, waren Paragraphen. Die anderen drei beobachtend, wie sie Bier tranken, lauschte sie dem Freizeichen.

Es dauerte lange, bis in Deutschland jemand ihren Anruf annahm, aber die Freude am anderen Ende der Welt war nicht zu überhören. 

»Schnecke, lass mich raten – der Brief ist angekommen. Was sagst du? Kommt ihr?« Anja fiel mit den Fragen über sie her, ehe sie sie richtig begrüßt hatte.  

»Langsam, Anja. Ja, er ist angekommen, und ja, wir kommen. Aber warum hast du mir nichts gesagt?« Yvonne drehte sich zum Herd um, was nichts daran änderte, dass sie spüren konnte, wie die Blicke von Syrell, Rod und Lyndsay auf ihr lagen. Sie wollte den anderen nicht zeigen, wie sehr es sie schmerzte, dass sie nur eine schriftliche Einladung bekommen hatte und nicht schon viel früher eingeweiht worden war.

»Mick wollte dich überraschen.« Anja klang verunsichert.

»Überrumpeln trifft es wohl eher«, brachte sie vorwurfsvoll hervor und biss die Zähne zusammen. So hatte das nicht klingen sollen. Sie wollte ihrer besten Freundin keine Vorwürfe machen. Aber es hatte sie wirklich getroffen, diese Karte plötzlich in der Hand zu halten und nicht einmal mit Anja über die Hochzeit gesprochen zu haben. Dabei dachte sie, beste Freundinnen würden sich alles erzählen und auch alles gemeinsam planen. Egal, wie viele tausend Kilometer zwischen ihnen lagen. Jetzt fühlte sie sich übergangen, traute sich aber nicht, Anja das direkt zu sagen. Sie wollte sie nicht verletzen, sie wollte ihr den Moment gönnen und vielleicht war wirklich Mick Schuld, dass sie nicht schon viel früher eingeweiht worden war.

»Mick wollte dich wirklich überraschen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, aber er meinte, du würdest damit rechnen, dass wir euch irgendwann eine Einladung zur Hochzeit schicken werden.« Es war nicht zu überhören, dass Anja sich rechtfertigen wollte, und Yvonne musste sich auf die Zunge beißen, um nichts Falsches zu sagen. Ihr Bruder war manchmal ein Dickkopf. Er konnte auf der einen Seite ihr größter Unterstützer sein, aber auch derjenige, der sie immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Tief durchatmend schloss sie kurz die Augen und spürte, wie Syrells Blick auf ihr lag. Als sie die Augen wieder öffnete, hatte sie sich vorgenommen, die Sache auf sich beruhen zu lassen und Anja auszuhorchen.

»Wann habt ihr das beschlossen und überhaupt … erzähl mal.« Durchatmend drehte sie sich wieder zu ihren Zuhörern um, die alle eine Dose Bier in der Hand hielten und jedes Wort, das ihre Lippen verließ, genau verfolgten. 

Die folgenden Minuten erzählte Anja ihr nochmals von Micks Antrag, den er ihr mitten im Stall im frischen Heu gemacht hatte. Diese Geschichte kannte Yvonne bereits in allen Facetten und fand es immer wieder toll, die schwärmenden Worte ihrer Freundin zu hören. Nachdem Mick derjenige gewesen war, der den Antrag gemacht hatte, war sie diejenige, die ihn mit einer Location und einem Termin einfach überrannt hatte. Es sollte der dritte Juli sein. Yvonne starrte den kleinen Tischkalender an. Ihr Blick wanderte auf die kleinen Monate in der Ecke des aktuellen Blattes und ihr Blick blieb auf dem Oktober liegen. 

Ihre Gedanken drifteten ab. Im Oktober wäre es ein Jahr her, dass ein ehemaliger Kollege sie gekidnappt hatte. Es hatte eine Woche gedauert, ehe Syrell sie gefunden hatte. Während ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken lief, erzählte Anja voller Elan davon, dass sie mit einer guten Freundin bereits ein Hochzeitskleid ausgesucht hatte und dass eben diese Frau auch schon einen Junggesellinnenabschied organisiert hatte. Auch wenn Yvonne versuchte, sich auf die Worte ihrer Freundin zu konzentrieren, so entging ihr nicht, wie sich zwischen Rod und Lyndsay ein wildes Gespräch entwickelte. Die beiden gestikulierten wild, während Syrell immer wieder die Augenbrauen hochzog und nach einigen Minuten den Tisch verließ, um auf das Sofa zu sinken. Yvonne bemühte sich zu begreifen, worum es bei dem leisen, aber emotionsgeladenen Gespräch ging, aber es war ihr nicht möglich, sich dann noch auf Anjas Worte zu konzentrieren. Ihre beste Freundin schwärmte von dem weißen Kleid mit dem großen Reifrock und den Stickereien. Genervt vom Gespräch zwischen Rod und Lyndsay verließ sie nach einigen Minuten die Küche und ging die Treppe hinauf ins Schlafzimmer, wo sie sich aufs Bett sinken ließ.

»Was meinst du dazu?« Anja Stimme riss sie aus ihren Gedanken, in denen sie sich fragte, wer die neue Freundin von Anja wohl sein mochte. Ertappt schüttelte sie den Kopf, obwohl sie wusste, dass Anja das nicht sehen konnte.

»Entschuldige, ich hab dir gerade nicht wirklich zugehört. Wozu?« Yvonne befürchtete, dass Anja ihr nun die Meinung sagen würde, aber sie lachte nur amüsiert auf.

»Na und ich dachte, ich bin nicht aufnahmefähig am frühen Morgen, bei dir ist´s ja abends noch viel schlimmer. Ich wollte wissen, was du zu einer traditionellen Hochzeitssuppe vor dem Essen sagst. Jessica meint, dass man sowas heute nicht mehr braucht. Du weißt schon, so eine mit Klößchen, Eierstich, Blumenkohl, leckerer Brühe und so.« 

»Natürlich gehört die dazu.« Yvonne setzte sich wieder auf. Wie konnte diese Jessica nur behaupten, dass man eine Hochzeitssuppe nicht mehr benötigte? 

Sie sprachen noch über eine Stunde, lachten, schmiedeten Pläne und Yvonne wurde das erste Mal seit langem wieder bewusst, wie lange sie nun schon von daheim fort war und dass sie ihre Heimat vermisste. Erst als Mick im Hintergrund mehrfach andeutete, dass Anja zu spät zur Arbeit kommen würde, beendeten sie die Verbindung. 

In dem Moment, in dem Yvonne das Mobilteil des Telefons auf den kleinen, weißen Nachttisch legte, griff eine bleierne Müdigkeit nach ihr. Es fiel ihr unglaublich schwer, sich nochmals zu erheben. Sie wollte unbedingt schauen, was die anderen in der unteren Etage machten. Als sie die Treppe hinunterging, wunderte sie sich darüber, dass sie keinen Laut vernehmen konnte. Schmunzelnd blieb sie neben der Küche stehen. Syrell saß schlafend auf der Couch, von Lyndsay und Rod war allerdings nichts zu sehen. Da aber auch der große Topf verschwunden war, den Lyndsay mitgebracht hatte, ging sie davon aus, dass das frisch verliebte Paar bereits gefahren war. Leise trat sie an Syrell heran, wagte es allerdings nicht, ihn zu berühren, da er schlafend mindestens ebenso gefährlich war wie in Momenten, in denen er im Einsatz als SEAL war. Sie ließ sich mit einigem Abstand neben ihm nieder und schmunzelte, als sie sein tiefes Brummen vernahm. Sie konnte spüren, dass er langsam aus dem Schlaf auftauchte und wusste auch, dass ihm klar war, wo er war und wer neben ihm saß. Sie rutschte näher an ihn heran und strich sanft über seinen Arm. Blitzschnell hatte er sie gegriffen und zog sie dicht an sich. Auch wenn ihr Herz im ersten Moment aussetzte, da seine Reaktion so schnell und überraschend kam, so fand es schnell seinen Rhythmus wieder, als seine Lippen sich sanft auf ihre legten. 

3.

Lächelnd strich Syrell über Yvonnes weiche Haut. Sie hatte sich dicht an ihn geschmiegt, um nicht vom Sofa zu fallen, und strahlte eine unglaubliche Hitze aus. 

Es war mitten in der Nacht und er musste sich eingestehen, dass er nach dem Sex so müde gewesen war, dass er einfach eingeschlafen war. Yvonne schien es nicht besser ergangen zu sein. Dass er nun wach war, lag eindeutig an seinen alten Knochen. 

Sein Nacken und sein Rücken protestieren gegen das unbequeme Sofa und nur sein Kopf wollte ihm klar machen, dass er Yvonne nicht wecken durfte. 

Ihr Atem strich wie ein Sommerwind über seine Brust und er schloss die Augen wieder. Er wollte sie nicht wecken und aus ihrem ruhigen Schlaf reißen. Es kam immer noch viel zu selten vor, dass sie in so sanfte Träume glitt wie in diesem Moment. 

Vielleicht war es ihm irgendwie möglich, eine Position zu finden, die bequemer war. Vorsichtig drehte er sich zur Seite und stieß zischend den Atem aus, als Yvonnes Fingernägel sich schmerzhaft in seine Schulter gruben. Wenn er so liegen bleiben würde, würde er sich morgen auf dem Parcours wie ein Rentner bewegen, was Sean zum Anlass nehmen würde, um ihn auf einige Extrarunden zu schicken. 

Leise schnaubend, weil er keine andere Möglichkeit sah, strich er durch Yvonnes weiches Haar, um sie so sanft wie möglich aus dem Land der Träume zu holen. Er konnte keine Minute länger so verdreht auf dem viel zu schmalen Sofa verbringen.

Er hätte, nachdem Rod und Lyndsay gegangen waren, einfach nach oben gehen und nicht unten warten sollen, bis Yvonne wiederkam. Er wusste, dass die Gespräche mit Anja oft länger als eine Stunde wurden. Yvonne hätte es nicht gestört, wenn er neben ihr auf dem großen Bett gelegen hätte. 

Aber er war im Wohnzimmer geblieben, nachdem er Lyndsay versprochen hatte, Yvonne zu fragen, ob sie sie nach Deutschland begleiten durften. Die Archäologiestudentin hatte eine Internetbekanntschaft in Deutschland und war ganz versessen darauf, mit der Deutschen gemeinsam alte Schlachtfelder und Museen zu besuchen. Bisher hatte sie sich, nach ihren Aussagen, nicht getraut, alleine nach Deutschland zu reisen. Und nun, da sich endlich eine Gelegenheit bot, schien es, als würde Rod alles daransetzen, damit Lyndsay nicht nach Deutschland flog. 

Auch wenn Syrell seinen Kollegen verstehen konnte, da die junge Frau den Ärger magisch anzog, fand er sein Verhalten, welches dem eines übervorsichtigen Kindermädchens glich, übertrieben. Es war ein Wunder, dass Lyndsay noch alleine zur Arbeit und an die Uni fahren durfte, aber wahrscheinlich lag das nur daran, dass Rod ebenfalls auf die Arbeit musste und  sich nicht mit Sean anlegen wollte. 

»Wie, Lyn will mit?« Yvonnes Worte waren nur ein leises Murmeln. 

Syrell stieß den Atem aus. Wieder einmal war Yvonne so tief in seine Gedanken abgetaucht, dass sie Dinge ans Tageslicht brachte, die er ihr zu einer anderen Gelegenheit hatte sagen wollen. 

»Nicht so wichtig. Wichtiger ist mir gerade, dass wir ins Bett gehen. Sonst musst du mich morgen zur Base tragen.« Mit den Fingern strich er über ihren Rücken und konnte spüren, wie ihr gesamter Körper bei der Berührung erschauderte. 

»Ich steh nur auf, wenn du mir sagst, was es mit Lyn und Rod auf sich hat.« Mit einer fließenden Bewegung rollte sie sich auf ihn. Ihren Körper noch näher an seinen zu spüren, trug nicht dazu bei, dass er aufstehen wollte, um ins Bett zu gehen, wo es wesentlich bequemer war. Syrell grub seine Finger in ihren Hintern und presste sie fest an seine Lenden, wo sich bereits wieder sein Verlangen steigerte. 

»Also, ich hätte gerade andere Ideen.« Er versuchte, ihren Hals zu erreichen, doch sie zog grinsend den Kopf zurück. 

»Erst Rod und Lyn, dann das Bett und dann vielleicht mehr.« Keck zog sie die Augenbrauen nach oben. »Außerdem wolltest du doch schlafen und wenn du mir nicht bald sagst, was los ist, wird aus der Sache mit dem Schlafen nichts.« Sie beugte sich an ihm vorbei und er wusste, dass sie so die Digitalanzeige der Uhr in der Küche sehen konnte. 

Nur widerwillig und mit ständig wachsendem Verlangen berichtete er davon, dass Lyndsay sie gerne nach Deutschland begleiten wollte, um dort Ausgrabungsorte zu besuchen. Rod hingegen wollte nicht, dass sie diese Reise antrat, da er befürchtete, dass sie wieder in Schwierigkeiten geraten könnte. Auch Syrells Beteuerungen, dass Deutschland nicht Guatemala war und dort keine wildgewordenen Drogendealer auf der Jagd nach jungen Frauen waren, hatten die Meinung von Rod nicht geändert. Der Sprengstoffexperte der International Anti Terror Force wollte seine Freundin nicht alleine nach Deutschland fliegen lassen. 

»Moment, sie wäre doch nicht alleine. Wir sind doch auch da.« Yvonne lag immer noch auf seiner Brust und schüttelte amüsiert den Kopf.

»Na, wir werden ja wohl kaum mit ihr das Varus-Schlachtfeld besichtigen oder sonst was, wenn Anja heiraten will«, warf Syrell ein und umfing Yvonnes Körper mit seinen Armen, da ihr ständiges hin und her Rutschen sein Denkvermögen stark einschränkte. 

»Auch wieder wahr. Dann soll er doch einfach mitkommen.« 

Syrell zuckte soweit zurück, wie das Sofa es zuließ. »Wir sollen Roderick Rodriguez mitnehmen? Wie willst du den von seiner Arbeit loseisen? Und was glaubst du, was Sean und John sagen, wenn noch einer Urlaub machen will. Wenn wir wirklich einen Einsatz haben, fehlt ihnen ein wichtiger Mann.« 

»Und eine Schützin und ein Spooky SEAL«, vervollständigte Yvonne seinen Satz. »Wir fragen die beiden einfach.« 

Syrell stieß ein amüsiertes Grunzen aus. Sean und John einfach zu fragen, war, als wollte man eine Sprengfalle mit einem einfachen Fußtritt entschärfen. Wahrscheinlich würden die beiden ihnen irgendein absurdes Ultimatum stellen.

»Komm, fragen kostet nichts. Wir fragen erst Sean, und wenn der dann nicht will, John.« Yvonne legte ihre Lippen auf seine Brust. Genüsslich schloss er kurz die Augen. 

»Das kannst du doch nicht machen.« Um einen ernsten Gesichtsausdruck bemüht, sah er sie wieder an.

»Natürlich kann ich.« Grinsend erhob sie sich und verschwand aus dem Wohnzimmer zur Treppe, von wo sie ihm einen Blick zuwarf, der ihm klarmachte, dass sie nicht von ihrem Plan abweichen würde.