Team IATF 17

Operation Judicantes – Unter Beschuss Leseprobe

1.

»Komm, Wes wird das Kind schon schaukeln.« Lexi grinste Rod von der Seite an, als sie ihren Rucksack auf dem kalten Stahlboden im Inneren des Flugzeuges abstellte. Er nickte knapp und warf einen Blick auf die Landebahn hinter der Lockheed. 

Eine große, leere, graue Fläche, an deren Ende er die Hangars der Base sehen konnte. Von dort war auch er gekommen. Dort hatten sie sich von ihren Teammitglieder verabschiedet. Der Abschied von ihren Liebsten war Stunden zuvor in kleinen Kreisen erfolgt. Lyndsay nun zurückzulassen, fühlte sich an wie Verrat. Bei den Aufgaben, die sie in den nächsten Tagen zu erledigen hatte, sollte er bei ihr sein. Selbst die Tatsache, dass sein Kollege Wesley Stone ihn ersetzen und ihr zur Seite stehen würde, beruhigte ihn nicht.

Obwohl viele seiner Kollegen der Meinung waren, dass Wesley der Letzte war, den sie mit einer Frau alleine lassen würden, tat er genau das. Er vertraute darauf, dass der Mann sein Bestes tun würde, um Lyndsay zu unterstützen. Es war egal, dass seinem Kollegen ein Ruf als Frauenschwarm und Casanova vorauseilte. In diesem Fall war Rod sich sicher, dass Wesley sich nicht an seine Freundin heranmachen würde. Er war davon überzeugt, dass Wesley seine wilden Zeiten hinter sich gelassen hatte. Aber darum ging es nicht. Lyndsay musste ihren Vater beerdigen und vieles verarbeiten, was in den letzten Tagen geschehen war. Bis zuletzt hatte Rod gehofft, dass John ihn hier in San Diego lassen würde. Nun stand er im Flieger nach Dschalalabad. Über fünfzehn Stunden eingepfercht zwischen ihrer Ausrüstung und seinen Kollegen lagen vor ihm. Die nächsten Tage, wahrscheinlich sogar Wochen, würden ihn zwölftausend Kilometer von seiner Freundin trennen. Und nicht nur das. Es war unwahrscheinlich, dass er in dieser Zeit Kontakt zu ihr aufnehmen konnte. Das, was sie vorhatten, war streng geheim. Niemand durfte wissen, wohin der Flug ging und schon gar nicht, welchen Ort sie anschließend ansteuern würden. Es sollte nichts dem Zufall überlassen werden. Ein abgehörtes Telefonat zur falschen Zeit, ein Gespräch beim Essen mit Freunden, schon könnten ihre Feinde Wind von ihrem Vorhaben bekommen. Aus diesem Grund wussten nicht einmal ihre Frauen, wohin ihr Einsatz sie führte. 

Durchatmend und die Gedanken verdrängend, drehte er sich um und sah sich nach einem Platz um, an dem er es sich in den nächsten Stunden gemütlich machen konnte. Die Sitzplätze waren noch nicht belegt, sie würden es wohl auch nur beim Start und der Landung sein. Er und seine Kollegen würden sich Hängematten aufspannen und so viel wie möglich schlafen, da sie davon ausgingen, dass Schlaf in den kommenden Tagen Mangelware werden würde. Während des Fluges gab es nur Turbulenzen, die ihnen gefährlich werden und sie aus ihren Matten werfen konnten. 

Der eigentliche Plan, die Hälfte des Bravo Teams zu schicken, war geplatzt, da Wesley suspendiert war und Tom mit einer Verletzung ausfiel. Wesley wurde von Lexi ersetzt, da sie ähnlich gute Leistungen als Scharfschütze liefern konnte wie ihr Kollege. Und da sie nur einen Sanitäter im Bravo Team hatten, war Nick Black eingesprungen, der seinen ersten Auslands-einsatz bestreiten würde. 

Rod wusste, dass man ihm während des Einsatzes viele Posten zuweisen könnte. Er könnte als Spotter für Lexi und Nuyen fungieren und im Notfall Nick zur Hand gehen, was er jedoch auf keinen Fall wollte. Eigentlich war er dafür zuständig, Türen zu öffnen. Mit kleinsten Mengen Sprengstoff bekam er jede Tür auf. Er ließ sich gerne nachsagen, dass er der hauseigene Schlüsseldienst der I.A.T.F war. Wenn er aber ehrlich zu sich war, rechnete er nicht mit Türen, die sich nicht mit einem kräftigen Tritt öffnen ließen. Dort wo sie hinwollten, waren Holztüren Standard und um die zu öffnen, benötigte er keinen Sprengstoff. 

John bestand darauf, die Mission selbst zu leiten, und Darrel würde sicher nicht nur als Übersetzer benötigt werden. Im Prinzip konnte jeder in ihrem Team jeden Posten besetzen, aber es gab einige Dinge, die manche einfach besser konnten als andere. 

Der Rest ihres Teams blieb in San Diego. Es war ihm immer noch nicht klar, warum nicht das Alpha Team den Einsatzbefehl bekommen hatte. Alleine schon die Tatsache, dass in ihrem Team zwei Mitglieder ausfielen, sollte doch ausreichend sein. Während der letzten Stunden hatte Rod sich häufig die Frage gestellt, wer im Hintergrund dieser Mission die eigentlichen Fäden zog. Denn dem Verteidigungsminister hätte er zugetraut, dass er das Alpha Team schickte. Mattis wusste, dass sie alle gleich hart trainiert hatten. 

»Wie, das ist nicht sicher? Sollen wir euch dann mit Paragleitern da hinfliegen oder wie stellst du dir das vor? Wir brauchen einen, nein, zwei Black Hawks oder besser noch einen Chinook. Was glaubst du, wie ihr die beiden Jeeps sonst mitnehmen könnt? Beamen oder was?« Die aufgebrachte Stimme von Sharleen Porter ließ alle innehalten.

»Jetzt schon Stress?« Lexi starrte nach draußen. Vor der Laderampe der Lockheed tauchten Sharleen und John auf. 

»Wir kriegen zwei Hubschrauber. Was und wann, weiß ich nicht. Komm runter und macht euren verdammten Job«, ranzte John nun die Pilotin an, während er über die Laderampe zu ihnen in den Flieger kam. 

»Probleme?« Lexi musterte ihren Vorgesetzten.

»Nein«, war die kurze und unüberhörbar schlecht gelaunte Antwort von John.

»Und ob. Es ist nicht sicher, ob wir euch nach Tirah bringen können, weil wir vielleicht keine Helis bekommen. Dann könnt ihr euch tagelang mit den Jeeps durch die Berge schlagen. So ohne Straßen wird das schwer.« In Sharleens Augen lag ein wütendes Funkeln, als sie John folgte. 

»Porter, mach das, wofür du bezahlt wirst, verflucht!« John drehte sich um und baute sich vor Sharleen auf. »Ihr fliegt uns nach Dschalalabad und wenn wir da keinen Heli bekommen, kommen wir auch anders an die Grenze.« Mit jedem Wort wurde John leiser, aber nicht weniger drohend. »Reiß dich zusammen!« John drehte sich um und kam auf ihn zu. Rod war gespannt, was als Nächstes passieren würde. Würde John ihn wegen irgendeiner Kleinigkeit anfahren oder ihn einfach ignorieren? Und wie würde er reagieren? Auf keinen Fall würde Rod sich persönlich beleidigen lassen. John mochte nicht nur sein Captain, sondern auch ein guter Freund sein, aber beleidigen lassen musste er sich nicht von ihm. Schon gar nicht, wenn der Grund für die schlechte Laune Probleme bei der Einsatzorganisation waren. 

»Hast du mit Wesley alles besprechen können?« John blieb vor ihm stehen und hatte einmal tief durchgeatmet, ehe er die Frage aussprach. Es war nicht zu übersehen, dass John innerlich immer noch kochte. Er war wütend und Rod bezweifelte, dass diese Wut einzig auf Sharleen bezogen war, die gerade den Flieger wieder verließ. Da war mehr und er war gespannt, ob er erfahren würde, was es war. 

»Ja, es ist alles soweit geklärt, wie es zu klären ist.« Obwohl es Rod nicht zusagte, seine Freundin nun alleine zu lassen, wollte er John das nicht ins Gesicht sagen. Was auch immer seinen Captain gerade so aufbrachte, er wollte es nicht weiter schüren. John antwortete nicht, er nickte knapp und ging zu Nick Black, der mit Lexi hinten im Flieger stand. Die Art, wie John reagierte, war ungewöhnlich. Was auch immer gerade geschehen war, schien ihn wirklich sehr zu ärgern und in Rod wuchs die Befürchtung, dass Sharleens Vorwürfe nicht völlig aus der Luft gegriffen waren. Was, wenn sie keine Möglichkeit bekommen würden, mit Hubschraubern an die pakistanische Grenze zu fliegen. Straßen gab es dort, wo sie hinwollten, nur wenige. Rod wußte, dass es so oder so schwer warden würde ungesehen an ihr Einsatzziel zu kommen. Zudem wären sie so ein gutes Ziel für ihre Feinde. Die beiden geländegängigen Jeeps, die noch nicht verladen waren, sollten mit Chinooks an die Grenze verbracht werden, von wo sie weiter bis nach Tirah fahren wollten, da sie zu Fuß Tage brauchen würden. So müssten sie nicht in pakistanischen Luftraum eindringen. Dann könnten sie die letzten Kilometer mit den Fahrzeugen zurücklegen, die für unwegsames Gelände bestens geeignet waren. In seinen Überlegungen versunken setzte er sich auf einen der aus breiten, orangenen, ineinander verflochtenen Bändern bestehenden Sitzplätze. Seine Aufmerksamkeit blieb auf Nick liegen, der immer noch unsicher neben Lexi stand und nun Johns Worten lauschte. 

Rod hatte Nick beobachtete, als dieser sich von seiner Freundin verabschiedet hatte. Das Paar hatte sich lange in den Armen gelegen und Rod stellte sich die Frage, wer sich wohl eher darüber im Klaren war, was ihnen bevorstand. Nick, der noch keinen Auslandseinsatz bestritten aber ein wahres Massaker mitten in den USA miterlebt hatte, oder Amber, die als Tochter ihres ehemaligen Captains nicht nur einmal ihren Vater in einen Einsatz hatte verabschieden müssen. Immer mit dem ungewissen Gefühl, dass man geliebte Menschen vielleicht nicht wiedersah. Man musste lernen, es zu ignorieren, sonst lag die Sorge viel zu schwer auf einem. 

Rod war sich im Klaren darüber, dass es schwer war, nicht an die Dinge zu denken, die passieren konnten. Sein erster Einsatz war ein dreimonatiger Auslandseinsatz gewesen, den er die meiste Zeit fast frei von Gefahren in einem Camp verbracht hatte. Erst die Missionen als SEAL hatten ihn an seine mentalen Grenzen gebracht. Damals hatte er sich nur von seinen Eltern verabschieden müssen. Heute nutzte er jede Minute mit Lyndsay, da der Gedanke an den Tod in seinem Hinterkopf mit jedem Einsatz präsenter wurde. Von seinen Eltern verabschiedete er sich nur noch telefonisch. Es konnte so schnell gehen … er schüttelte den Kopf und sah zu Darrel. Sein Kollege hatte jahrelang ein Geheimnis vor vielen verbergen können. Sein Kennenlernen mit Darrel war eines der dunkelsten Kapitel seiner Laufbahn und noch heute sah er die Bilder vor seinen Augen auftauchen, wenn er daran dachte. 

Es war Jahre her, kurz vor der Gründung der I.A.T.F hatte er einen Routineeinsatz im Jemen geleitet. Eine einfache Überwachung. Nichts, was je in irgendwelche Geschichtsbücher eingehen würde. Am Tag ihrer Rückreise bekam Rods Team Wind von einer Explosion, bei der es angeblich verletzte Soldaten der SASR gegeben hatte. Rod hatte mit seinen Kollegen beschlossen, vor Ort zu helfen. Es stellte sich jedoch heraus, dass das gesamte Team bei einem Anschlag umgekommen war. Sie hatten Stunden damit verbracht, die nähere Umgebung zu sichern und dabei zuzusehen, wie man Leiche um Leiche aus den Trümmern geborgen hatte. Darrel, der damals als Major der SASR dem getöteten Team vorgestanden hatte, hatte ihre Hilfe zwar nur zögernd angenommen, aber das war ihnen egal gewesen. Er hatte damals die gescheiterte Mission der SASR-Soldaten geplant und die Katastrophe nur über die Bodycams seiner Kollegen verfolgt. Nur wenige Tage später, nach der Beisetzung der gefallenen Soldaten, der sie beigewohnt hatten, hatten sie Darrel durch einen Zufall in einer Bar wieder getroffen. Dort hatte Paul Redmann Darrel schließlich das Angebot unterbreitet, in die USA zu kommen. Dass der Australier nur wenige Jahre zuvor seine Verlobte auf tragische Weise verloren hatte, hatte das gesamte Team erst vor kurzem erfahren. Mit Stevie hatte Darrel zum Glück eine Frau gefunden, die alles für ihren Freund tun würde. Aber auch sie hatte mit dem Verabschieden an Tagen wie diesem noch große Probleme. 

Rod schüttelte den Kopf, um die Gedanken wieder loszuwerden. Das, was Darrel passiert war, war mit Sicherheit das Schlimmste, was einem Soldaten passieren konnte. Als Einziger eines Teams am Leben zu bleiben und dann auch noch die Verantwortung für den tödlichen Einsatz gehabt zu haben, musste die Hölle sein. 

»Hier.« 

Rod sah zu Nuyen, der ein Magazin zu Lexi warf, die es mit einem Nicken auffing. Nuyen Sato war für Rod immer noch ein fast Fremder. Auch wenn Rod sein Leben blind in die Hände des Mannes mit dem asiatischen Aussehen legen würde, wusste er nur wenig über den Fünfundzwanzigjährigen. Nuyen hatte sich seit seinem Eintritt in die I.A.T.F zu einem Kollegen entwickelt, der nicht nur auf der Arbeit hundert Prozent gab, auch als Freund wusste Rod den quirligen und manchmal vorlauten, aber immer witzigen Mann zu schätzen. Das Einzige, was Rod über ihn wusste, war, dass er als Kind in die USA gekommen und bei Verwandten aufgewachsen war. Aber weder hatte Rod diese Verwandten bisher gesehen noch etwas über sie gehört. Nuyen war ein Einzelgänger, zumindest was sein Privatleben anging. Oder er war einfach in der Lage, Privates und Arbeit sehr streng zu trennen. Rod wusste nicht einmal, ob Nuyen sich überhaupt von jemandem verabschiedet hatte. Vielleicht wusste auch niemand in seiner Familie, was er tat. 

Wieder beobachtete Rod John. Schon vor der I.A.T.F hatten sie zusammengearbeitet und auch John würde er sein Leben blind anvertrauen. Aber das war ein Punkt, der wichtig für sie alle war. Sie mussten alle ihren Kollegen jederzeit blind vertrauen können. Jeder hatte ein Auge auf den anderen und jeder war dafür verantwortlich, dass niemand in Gefahr geriet. Nie durfte man sich darauf verlassen, dass man selbst alles sah. Vier Augen sahen mehr als zwei und ein ganzes Team hoffentlich alles, was ihnen gefährlich werden konnte. John war, auch wenn Rod ihn gefühlt schon ewig kannte, ein ähnliches Rätsel wie Nuyen. Dass er Familie hatte, wusste Rod zwar, aber mehr auch nicht. John war nur selten nicht bei seinem Team. Wenn er dann doch mal von einem Wochenende außerhalb der Base zurückkam, sprach er nicht über das, was er in seiner Freizeit gemacht hatte. Aber John war nicht aus dem Gefüge der I.A.T.F herauszudenken. Er war seit der Gründung dabei und hatte in den ersten Jahren immer wieder dafür gesorgt, dass in stressigen Situationen Ruhe einkehrte. Er hatte ihren alten Captain Paul Redman regelmäßig geerdet und war nun selbst der, der die Befehlsgewalt innehatte. Und trotz dieser Position war er nicht nur Soldat, er war ein Freund für jeden im Team. John war anders als Sean. Sean war während des Trainings und der Einsätze durch und durch Soldat, in der Freizeit hingegen ein loyaler Freund. John hingegen ließ nie jemanden spüren, dass er im Rang über ihm stand. Auch wenn es zu Streitereien wie gerade eben mit Sharleen kam, war die Art, wie John mit seinen Kollegen umging, eine völlig andere. Meist ruhiger und immer lösungsorientiert, wo Sean laut war und ab und an mit dem Kopf durch die Wand wollte. 

»Willst du eine?« Wo John so plötzlich hergekommen war, wusste Rod nicht. Er war so in Gedanken versunken gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, wie sein Kollege sich genähert hatte. Er hielt eine orangefarbene Plastikdose in der Hand und musterte ihn fragend. 

»Nein, jetzt nicht, vielleicht später.« Rod musste nicht fragen, was in der Dose war. Es waren Schlaftabletten, die ihnen helfen sollten, während des folgenden langen Fluges Schlaf zu finden. Einige seiner Kollegen benötigten diese kleinen Wundermittel auf dem Weg zu einem Einsatz und auch danach, da es ihnen schwerfiel, in einen erholsamen Schlaf zu finden. Rod hatte sie ebenfalls eine Weile regelmäßig genutzt, allerdings halfen sie ihm nur beim Einschlafen. Das Durchschlafen stand auf einem anderen Blatt. Oft reichten kleinste Geräusche aus, um ihn aus dem Schlaf zu reißen, und dann war an ein Weiterschlafen über Stunden nicht zu denken. Seit er mit Lyndsay zusammen war, hatte sich sein Tablettenkonsum auf ein Minimum reduziert. Wenn er mitten in der Nacht wach wurde, konnte er mit ihr über alles sprechen. Dann war es, als würde der auf ihm lastende Druck abfallen, während er seine Gedanken mit ihr teilte. Nach diesen Gesprächen fiel ihm das Einschlafen deutlich leichter.

»Dann leg dich hin, Du schläfst ja schon im Stehen. Wir starten gleich.« John gab ihm einen Stoß mit dem Ellenbogen und ging auf Nick zu, der seine Hängematte befestigte. 

2.

Lexi rieb sich den Schlaf aus den Augen, als John sie weckte. Hatte sie tatsächlich fünfzehn Stunden geschlafen? So fühlte sie sich auf alle Fälle nicht, als sie sich, auf der Yogamatte liegend, auf den Rücken drehte. Nur ein knappes Stück weiter war Nuyen Sato dabei seine Matte aufzurollen, während Rod immer noch wie ein großer Bär in seiner Hängematte hing und selig schlief.

»Ey Rodriguez, aufstehen.« Auch wenn John ihren Kollegen gleich wecken würde, ließ sie es sich nicht nehmen, laut durch den Flieger zu rufen. Es war schwer, gegen den herrschenden Triebwerkslärm anzukommen. Ihre anderen Kollegen waren bereits wach und hatten ihre Sachen zusammengepackt, als Rod langsam den Kopf hob. Er schaute erst sie an und warf dann einen Blick auf seine Armbanduhr. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, Rod nochmals anzusprechen und ihn stichelnd wegen seines tiefen Schlafes aufzuziehen, unterließ es dann aber doch. Sie wandte sich der schwarzen Matte zu, auf der sie die letzten Stunden verbracht hatte und rollte den Schaumstoff auf. Im Gegensatz zu einigen ihrer Kollegen konnte sie in Hängematten nicht oder nur schlecht schlafen, weswegen sie auf die dünne Schaumstoffmatte schwor. Eigentlich hatte sie ihren Einsatz für sich nochmals durchgehen wollen, aber da sie während des gesamten Fluges geschlafen hatte, war ihr das nicht möglich gewesen. Jetzt würde sie sich irgendwann anders dazu Zeit nehmen oder darauf verzichten müssen, was ihr nicht behagte. Sie ließ den Blick zu Nick schweifen. Ihr fielen die zittrigen Bewegungen ihres Corpsman auf. Immer noch wollte ihr nicht in den Sinn, warum John nicht Werner mitgenommen hatte. Werner hatte weit mehr Erfahrung als das Greenhorn, das nun seinen Rucksack schloss, den Blick hob und sie ansah. Selbst Tom wäre ihr lieber gewesen, obwohl sie mit dem ehemaligen SEAL immer noch nicht warm geworden war. Roalstead lag einfach nicht auf ihrer Wellenlänge. Er mochte ein toller Sanitäter sein, aber mehr sicher nicht. Tom war niemand, der ihr mal eben Schmerztabletten zukommen ließ. Mit den Schlaftabletten war er ebenfalls geizig. Werner war da anders. Der verteilte die Pillen wie Schokolinsen und regte sich nie darüber auf, wenn man etwas mehr als die Standardmenge haben wollte. Irgendwie regelte Werner das immer. Tom kam dann mit Vorschriften und Sucht. Und Nick … sie schüttelte den Kopf. Bei ihm war sie sich nicht einmal sicher, ob er überhaupt Schmerztabletten eingesteckt hatte. 

»Was!« Nick schien ihren abschätzenden Blick bemerkt zu haben, denn seine Tonart war alles andere als freundlich.

»Nichts, ich hab nur darüber nachgedacht, ob du genug Pflaster dabei hast.« Bissig pampte sie ihn an. 

»Ich hab sogar ´ne Knochensäge in meiner Tasche.« Nick kniff die Augen zusammen. 

»Setzt eure Ärsche auf die Sitze.« John unterbrach ihren kleinen Schlagabtausch mit Nick. Sie ließ es sich jedoch nicht nehmen, ihn nochmals aufzuziehen. 

»Kannst du damit überhaupt umgehen?« Irgendwo in ihrem Hinterkopf tauchten Bilder auf, die dafür sorgten, dass sich ihr Magen kurz zusammenkrampfte. Sie hoffte, dass Nick die Säge weder bei diesem Einsatz noch jemals sonst benutzen musste. Alleine der Gedanke daran sorgte für aufsteigende Übelkeit. An diesem Punkt war er sicher weit härter im Nehmen als sie.

»Ist dir schlecht?« Wo Nuyen hergekommen war, wusste sie nicht, aber sie schüttelte den Kopf. Gut, dass ihr Kollege ihre Gedanken nicht lesen konnte. Irgendwie musste sie die Bilder in ihrem Kopf wieder loswerden. Angestrengt starrte sie die Holzkisten vor sich an, nachdem sie sich auf einen der Sitze gesetzt hatte. Aber wirklich loslassen wollte diese blutigen Bilder sie nicht. 

Kurz nach der Landung öffnete sich die Ladeluke und sie atmete tief ein. Auch wenn es nicht Bagram war, war sie zurück in Afghanistan, ihrer heimlichen zweiten Heimat. Hier hatte sie Freunde gefunden, die gleichzeitig ihre Kollegen waren und Dinge erlebt, die wohl sonst kaum jemand erleben konnte und wahrscheinlich auch nicht erleben wollte. Hier hatte sie gelebt, geliebt und dafür gesorgt, dass ihr ein zweifelhafter Ruf vorauseilte. Aber dank diesem Ruf kam niemand auf die Idee, sie nach einer Beziehung zu fragen. Abgesehen von Joe. Gedankenverloren griff sie nach ihrem Rucksack und verließ den Flieger über die Ladeluke. Joe … nein, sie schüttelte den Kopf. Auch wenn er etliche Wochen an ihrem Krankenbett verbracht und sie sich geküsst hatten, wollte sie keine Beziehung mit ihm. Er war ihr Kollege, mehr nicht. Die Küsse waren ein Fehler gewesen, das wusste sie. Sie hatte immer noch das Gefühl, dass Joe davon ausging, dass es irgendetwas zwischen ihnen gab, was zu etwas Ernstem werden könnte. Aber dem war nicht so. Von ihrer Seite aus war es ausschließlich Freundschaft. Sie hatte in ihrer Verzweiflung den Fehler gemacht und ihn geküsst, denn sie hatte einen Moment eine Schulter zum Anlehnen benötigt. Mehr als Freundschaft war es aber einfach nicht. Dass sie in letzter Zeit immer wieder an ihn dachte, ihn länger ansah, als sie wollte, lag einzig daran, dass sie nicht wusste, wie sie ihm sagen sollte, dass da nichts zwischen ihnen war. 

»Wir werden gleich von einem Kontaktmann abgeholt. Dann geht es zu einem Haus, in dem wir die nächsten Stunden warten, bis wir aufbrechen können.« John sah sich, während er sprach, suchend um, ehe er Jamain und Sharleen entdeckte. »Ihr schlaft euch aus und bringt uns später mit dem Chinook an die Grenze, dann könnt ihr wie geplant hierher zurück und wartet auf weitere Befehle. Wenn ihr uns aus Pakistan rausholen müsst …« 

»… fliegen wir nach Möglichkeit unter dem Radar«, fiel Sharleen ihm ins Wort. »Dir sollte aber klar sein, dass das da in den Bergen mit dem riesigen Schulbus fast nicht geht.«

Lexi beobachtete, wie John sich einmal durch die Haare strich, dann nickte und sich schließlich an sie und ihre Kollegen wandte. »Ihr habt sie gehört. Wir laufen hin und zurück, damit die beiden nichts zu tun bekommen. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass die keinen Bock haben, mal was Spannendes zu machen.« 

Dieses Mal war Lexi nicht in der Lage zu sagen, ob Johns Worte ironisch gemeint waren und ob er Sharleen und Jamain in irgendeiner Form aus der Reserve locken wollte. Sie wunderte sich darüber, dass Sharleen und Jamain so klangen, als wäre es ihnen nicht möglich, unter dem Radar zu fliegen. Dabei sollte eine solche Aufgabe gerade für Sharleen eine Leichtigkeit sein. Mit ihrer Ausbildung und der Menge an Flugstunden übertrumpfte sie sicher viele weit ältere Piloten.

Als sie über die Rampe den Flieger verließ, wanderte ihr Blick über den Flughafen von Dschalalabad. Sie entdeckte einige Linienflieger, aber auch kleinere Learjets. Trotz des Umstandes, dass hier überall Terror an der Tagesordnung war, gab es ein normales Leben mit Touristen und Geschäftsleuten. Sie folgte Darrel, der bisher nur wenig gesprochen hatte. Ihr wurde klar, wie wenig sie über ihn und viele andere ihres Teams wusste. Einen Augenblick grübelte sie darüber, ob sein Schweigen mit der langsam wachsenden Anspannung zu tun hatte, dann beschloss sie aber, dass Darrel schon so oft in Einsätzen gewesen war, dass es ihm sicher so erging wie ihr. Die Nervosität kam erst wenige Minuten vorher. Es gab nichts, was sie jetzt bereits unruhig werden ließ. Ganz im Gegensatz zu Nick. Sein Blick schweifte nervös über die Umgebung. Eine Hand klammerte sich an den Riemen seines Rucksackes, den er sich über die rechte Schulter geworfen hatte, in der anderen trug er eine Reisetasche. Das war alles, was sie mitgenommen hatten. Zwei Taschen, in denen sich nur wenig Kleidung befand, dafür Essensrationen, Wasser, ihre Waffen und Ausrüstung. Mehr benötigten sie nicht. Es interessierte niemanden, ob sie zwei Wochen das gleiche Hemd trugen oder wenn von ihnen ein Geruch ausging, der sogar Raubtiere vertreiben konnte. Sie mussten weder gut aussehen noch gut riechen. Sie mussten lediglich ihren Job gut machen.

Es war früher Abend und die Temperatur wurde erträglicher, auch wenn Lexi sich sicher war, dass es an die dreißig Grad sein mussten, empfand sie die Wärme nicht als drückend oder gar stechend. Sie hatten sich eine Jahreszeit ausgesucht, in der das Thermometer selbst in den Nächten nicht unter zwanzig Grad fallen würde. Für die einen war diese Wärme ein Segen, für andere ein Fluch. Temperaturen von um die vierzig Grad am Tage auszustehen und ebenso mit den im Winter kalten Nächten klarzukommen, war etwas, an das sie sich durch die viele Zeit, die sie bereits in Afghanistan verbracht hatte, gewöhnt hatte. Sie hatte aber auch Soldaten gesehen, die nach nur wenigen Tagen zusammengebrochen waren, da sie mit dem Klima nur schwer zurechtkamen. 

Eine halbe Stunde später saß sie neben Rod in einem alten Toyota und wurde von einem Mann, der eine helle Peran Tumban und einen Pakol, eine traditionelle afghanische Kleidung trug, Richtung Dschalalabad gefahren. John, saß auf dem Beifahrersitz und musterte immer wieder die Menschen, die an den Straßenrändern standen. Hier war es schwer, die Feinde von den Freunden zu trennen. Jeder, der irgendwo stand, war potenziell gefährlich. Selbst die, die sich einem als Freunde vorstellten und einem über Jahre hinweg bewiesen hatten, dass sie einem wirklich freundlich gesonnen waren, konnten hier von jetzt auf gleich zu Selbstmordattentätern werden oder einen verraten. Hier konnte man wirklich niemandem trauen. Jeder war in irgendeiner Form käuflich. Lexi hoffte inständig, dass John sich über diese Tatsache im Klaren war. Wenn ihre Fahrer sie an Messer liefern wollten, wäre das kein Problem. Sie hatte mit verdeckten Ermittlern der CIA gerechnet, als sie auf ihre Mitfahrgelegenheiten gewartet hatten. Sogar John war überrascht gewesen, als er die beiden unübersehbar afghanischen Männer entdeckt hatte. Angeblich waren sie Informanten der CIA. Aber selbst dieser Hintergrund vermittelte Lexi kein sicheres Gefühl. Sie traute weder ihrem Fahrer noch dem, der hinter ihnen den zweiten Wagen lenkte, in dem sich Darrel, Nuyen und Nick befanden. Immer wieder konnte sie beim Blick über die Schulter den Hilux mit der verbeulten Motorhaube sehen, der viel zu dicht auffuhr. Hier fuhr jeder, wie es ihm in den Sinn kam. Die Polizei würde niemanden wegen nicht Einhaltens des Mindestabstandes anhalten oder gar anzeigen. Als sich vor ihnen der Verkehr zu stauen begann, wollte ihr Fahrer nach rechts über einen Seitenstreifen ausweichen. 

»Nicht.« John griff dem Fahrer bereits in dem Moment ins Lenkrad, in dem er zum Überholen ansetzte. Nur wenige Zentimeter hinter ihrem Vordermann kam ihr Wagen zum Stehen. 

»Was ist los?« Darrels Frage erreichte sie über ihre Headsets. 

»Keine Ahnung. Wir warten. Auf keinen Fall fahren wir an die Seite.« Johns Tonlage duldete keinen Widerspruch. Lexi versuchte, an der Fahrzeugreihe entlang zu schauen, aber die Autos und Trucks vor ihnen standen nicht gerade hintereinander, sondern so, dass sie nur bis zum vierten Wagen sehen konnte. Sie hatte keine Ahnung, was weiter vorne los war. Was sie allerdings bemerkte war, wie ihr Puls sich beschleunigte. Dieses Warten zwischen all den anderen, mitten in Dschalalabad, wo niemand wissen sollte, dass sie hier waren, machte sie nervös. 

»Ich fahre einen anderen Weg.« Ihr Fahrer legte den Rückwärtsgang ein, was völlig sinnlos war, da der zweite Wagen nur wenige Zentimeter hinter ihnen stand. Lexi zweifelte daran, dass es ihm gelingen würde, das Auto hier zu wenden. 

»Nein, wir warten.« John fuhr den Fahrer erneut an, als er über die Schulter sah. Eine Detonation ließ wie aus dem Nichts Steine auf ihren Wagen hageln und hüllte sie in eine riesige Staubwolke. Lexis Herz setzte einen Augenblick aus, ehe es rasend weiterschlug. Die Flüche ihrer Kollegen sorgten für ein Pfeifen in ihren Ohren. 

»Scheiße, was war das?« Darrels Stimme kam klar und deutlich bei ihnen an. 

»Keine Ahnung. Gehen wir schauen?« John wandte sich alarmiert zu ihr und Rod um.

»Wir müssen helfen.« Ihr Fahrer hatte bereits die Wagentür aufgestoßen. 

»Ich mag den Gedanken gerade zwar nicht, aber ich befürchte, er hat recht. Wir können nicht einfach hier rumsitzen und zuschauen. Das fällt auf.« Rod nickte. 

»Noir, schnapp dir deinen Kram. Seht zu, dass keiner die Pistolen sieht. Banjo, du bleibst bei den Wagen und passt auf unsere Sachen auf.« John stieß die Wagentür auf, nachdem er sie eingeteilt hatte. Lexi atmete tief durch, ehe sie es ihrem Captain gleich tat. Rod war bereits ausgestiegen und stand vor ihrem Toyota, als sie sich kurz nach Nuyen und Nick umsah, der seinen Rucksack geschultert hatte. Es herrschte Chaos auf der Straße und sie entdeckte mehrere Menschen, die ihnen mit blutenden Wunden entgegenkamen. 

»Noir, wir gehen nach vorne. Alle, die noch laufen können, brauchen deine Hilfe nicht.« Johns kühler Befehl jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Dass sie mehr oder weniger unbewaffnet zwischen Dutzenden Wagen stand, machte sie nervös. Sie ließ ihren Blick schweifen und versuchte zu erkennen, ob die Menschen, die hektisch umherliefen oder entsetzt an ihren Autos lehnten, gefährlich waren, und ob sie im nächsten Augenblick ein Gewehr zücken und das Feuer eröffnen würden. Aber es war ihr in dem immer größer werdenden Chaos nicht möglich, Gefahren auszumachen. Vor ihrem Auge tauchten Bilder von früheren Anschlägen auf. Momente, in denen nach einer Explosion eine zweite und auch dritte die Helfer in den Tod gerissen hatte. Was, wenn hier noch irgendwo eine Bombe war oder wenn ein Selbstmordattentäter nur auf seinen Einsatz wartete? Wie zum Teufel sollte sie ihn erkennen und wie ihm entgehen? Es gab keine richtigen Fluchtwege. Überall würden sie in weitere Menschenmengen laufen.

»Noir, hier!« Rods Rufen ließ sie nach vorne sehen, wo ihr Kollege neben einem Mann kniete, der eine Frau auf dem Schoß hielt.3.

»Sind unsere Leute schon durch?« Joe starrte auf den Fernseher in der Küche, auf dem CNN lief. Hier wurden gern an anderen Tagen Football- oder Baseballspiele geschaut. Dann gab es unter den Teammitgliedern hitzige Debatten und die Küche glich kurzfristig einem Stadion, in dem die Mannschaften angefeuert wurden. Gerade lief in einem Banner die Meldung, dass es in Dschalalabad zu einer Explosion gekommen war. Was genau dort passiert war, wurde bisher nicht gemeldet. Allerdings gab es eine kleine Einblendung in der Ecke des Bildes, die aus wackeligen Handyaufnahmen bestand, welche die Ausmaße der Explosion erahnen ließen. 

»Keine Ahnung.« Randall drehte sich nicht zu ihm um und Joe spürte, wie sein Blutdruck stieg. Wie konnte der sonst so ruhelose rothaarige Mann so seelenruhig hier herumsitzen und den Fernseher anstarren, als würde sich das Team gleich über den Nachrichtensender melden? »Was sitzt du dann hier rum. Ich will wissen, wo unsere Leute sind. SOFORT!«, brüllte er Randall an, der sich irritiert zu ihm umsah.

»Was ist hier los?« Sean tauchte hinter ihm auf und blieb schließlich neben ihm in der breiten Tür stehen. Wortlos deutete Joe auf den Fernseher. Sean hatte die Bilder bereits bemerkt und starrte angespannt auf die Banner, die über den Bildschirm liefen. 

»Warum zum Teufel sitzt ihr hier noch? Und warum stehst du hier tatenlos rum«, blaffte er nun die Männer in der Küche an und drehte sich beim zweiten Satz zu ihm. »Gambit, was soll der Scheiß? Wollt ihr nun warten, bis es Berichte im TV gibt? Seht zu, dass ihr rausbekommt, wo unsere Leute sind. Das ist DEIN Team verflucht. Es ist DEIN Job zu wissen, wo deine Leute sind!« Sean war mit jedem Wort lauter geworden und deutete mit ausgestrecktem Arm auf den Bildschirm. Dort waren aber nicht seine Kollegen zu sehen, sondern eine Nachrichtensprecherin. Überhaupt hatte man dort keine amerikanischen Soldaten gesehen. Vielleicht war das der Grund, warum er noch hier stand, obwohl er genau wusste, was seine Aufgabe war und dass Sean mit seinen Worten recht hatte. Joe war sich sicher, dass er längst nicht mehr hier stehen würde, hätte er auch nur einen einzigen Stofffetzen einer amerikanischen Uniform gesehen. 

»An die Arbeit, verdammt!« Joe hatte sich mit einem tiefen Atemzug zu seinen Kollegen umgedreht und richtete erst nach seinem Befehl seinen Blick wieder auf Sean. Jedoch dauerte es einen Moment, ehe er Sean wirklich in die Augen sehen konnte, da sich seine Männer zwischen ihnen hindurch aus der Küche drängten und über den Flur in die Büros verschwanden. 

»Untergrab mich nie wieder. Das kannst du bei John machen, aber nicht bei mir«, knurrte er Sean entgegen. Seine Kollegen wären auch ohne Seans Anweisung an die Arbeit gegangen, da war er sich sicher. Sean ließ ihn gerade hier stehen, als wäre er nicht in der Lage, ein Team zu führen. Dabei hatte er schon Teams unter ganz anderen Umständen geleitet. Was mischte der Captain des Alpha Teams sich nun hier ein? 

»Wenn du hier stehst und denen zuschaust, wie sie nichts machen, dann kann ich dich sehr wohl untergraben. Dann darf ich sogar dein Team übernehmen. Da kannst du noch so oft CO sein. Es ist dein verfluchter Job dich darum zu kümmern, dass deine Leute in Sicherheit sind oder du weißt, in welcher Scheiße sie gerade stecken«, blaffte Sean ihn an. In den Augen seines großen Kollegen funkelte es bedrohlich. Aber Joe würde sich auch von einem Sean Harrison nicht ins Bockshorn jagen lassen. Sean mochte groß sein. Er mochte ein SEAL par exellence sein und ein Ausbilder, der keine Gnade kannte, aber Joe würde sich nicht von ihm aus seinem Posten drängen lassen. Solange John nicht hier war, war er derjenige im Bravo Team, der das Sagen hatte. Da konnte sogar ein cholerischer Sean nichts dran ändern, auch wenn er es noch so sehr behauptete. 

»Was geht denn hier ab?« Ryan DeSanto tauchte plötzlich im Flur auf und sprach sie an, ehe er sie überhaupt erreicht hatte. 

»Der Affe meint, er muss unser Team befehligen«, klärte Joe seinen Kollegen auf, der seine dunklen Augenbrauen nach oben zog und nickte. 

»Harrison, meinst du nicht, dass Gambit das gut alleine hinbekommt?« Ryan war nähergekommen und stand nun neben Sean, den er mit auf die Seite gelegtem Kopf eingehend musterte. Ryan, der kleiner als Sean war, musste ein wenig zum Captain des Alpha Teams aufsehen, was ihn allerdings nicht zu stören schien. Joes Kollege war zwar neu im Team, hatte sich aber vom ersten Tag an nicht gescheut, notfalls mit Sean auf Konfrontationskurs zu gehen. Wenn es Männer gab, denen man nachsagen konnte, dass sie durch und durch Soldat waren, dann war Ryan DeSanto wohl einer von ihnen. Auch wenn Joe selbst und seine Kollegen aus dem Rescue-Team viel Einsatzerfahrung hatten, musste er sich eingestehen, dass Ryan sie alle überbot. Und es war sicher diese Erfahrung, die dafür sorgte, dass Sean ein Problem mit dem Sechsunddreißigjährigen hatte. Ryan war öfter und länger im Fitnessraum, drehte spät abends noch Runden auf dem Parcours, kurzum, man sah ihn selten irgendwo tatenlos sitzen. 

»DeSanto, du bist der Letzte, der sich irgendwo einmischen darf«, schnauzte Sean nun Ryan an, der kalt auflachte. 

»Könntet ihr mal kurz herkommen und euch danach wieder die Köpfe einschlagen?« Randall sah kurz aus einer der Bürotüren und unterbrach sie. Joe war sich sicher, dass es zu einer handfesten Auseinandersetzung gekommen wäre, hätte der rothaarige Mann sie nicht gestört. Die in der Luft liegende Spannung war deutlich zu spüren. Ihm lagen viele Dinge auf der Zunge, die er Sean in diesem Augenblick aber nicht mehr an den Kopf werfen wollte, da er befürchtete, dass sie schnell zu unwichtigen Belanglosigkeiten werden könnten. Wenn ihre Kollegen gerade in Gefahr waren, wäre jeder Streit hier und jetzt völlig überflüssig und reine Zeitverschwendung. 

»Vergiss nicht, dass ihr zwei von meinen Leuten dabei habt, Gambit«, murrte Sean wenige Schritte hinter ihm. Dass Joe etwas mehr als nur Freundschaft für Lexi empfand, die nicht nur in Seans Alpha Team war, sondern nun auch irgendwo in Dschalalabad, sprach er nicht aus. Die in seinen Augen völlig unnötige Teamtrennung, die ihm immer noch aufstieß, ließ er ebenfalls in diesem Moment unkommentiert. Der Gedanke an Lexi kristallisierte sich erst jetzt langsam heraus. Auch wenn es seine Kollegen waren, die womöglich gerade ungeplante Schwierigkeiten hatten, machte er sich am meisten Sorgen um Lexi. Bilder eines Einsatzes schossen ihm in den Sinn. Bilder, die ihm erst klargemacht hatten, was er für sie empfand. Er hätte sie fast verloren. An diesem Tag waren viele von ihnen in einen Hinterhalt geraten. Den Kopf schüttelnd zwang er sich, die Bilder zu verdrängen. 

»Sie sind inzwischen in dem Haus angekommen, wo sie auf weitere Befehle warten sollen. Sie haben bei einigen Verletzten erste Hilfe geleistet und sind dann zu Fuß die letzten Kilometer durch die Stadt gelaufen, weil die Autos mitten im Stau standen und es ihnen zu gefährlich war, dort zu wenden.« Randall lehnte sich, auf seinem Schreibtischstuhl sitzend, zurück und hatte ein gewinnendes Lächeln auf den Lippen. »Es gab in unseren Reihen keine Verletzten, nicht mal einen abgebrochenen Fingernagel. John meldet sich gleich noch mal.« Das Grinsen, welches sein Kollege Sean zugedacht hatte, wurde immer breiter. Joe verkniff es sich, ihn deswegen anzufahren, sondern drehte sich zum Captain des Alpha Teams um. Schweigend hob er die Hände und deutete ihm mit Gesten, zu gehen, er wollte ihn nun nicht hier haben. Sollte es wirklich vonnöten sein, würde er Sean Bescheid geben. Jetzt war die Situation nicht nur unter Kontrolle, sie war genau so, wie sie sein sollte. Liv, Joyce und Rafael, der Randall seinen PC in dem kleinen Büro überlassen hatte, beobachteten die Situation gebannt. Dass weitere Mitglieder des Bravo Teams den Raum betraten, entspannte die Lage nicht, da nun jeder die Meinungs-verschiedenheiten zwischen Sean und Joe bis ins Detail mitbekommen würden.

»Siehst du Harrison, Gambit hat die Lage voll unter Kontrolle.« Ryan, der sich an Sean vorbei in das Büro schob, grinste wie Randall beinah schadenfroh. Seine Kollegen freuten sich darüber, dass Sean sich nun schnaubend in der Tür umdrehte. Sean war jedoch nicht der Typ, der sich bei solchen Schlagabtauschen einfach ohne ein Wort abwandte. Joe war sich sicher, dass gleich noch irgendetwas folgen würde. Der knapp zwei Meter große Captain blieb auf dem Flur stehen, drehte sich um und kam mit wenigen Schritten zurück in das Büro, wo er sich dicht vor Ryan aufbaute.

»Und du solltest dich am besten ganz aus der Sache raushalten. Wenn du einen Arsch in der Hose hättest, wärst du als Scharfschütze mitgegangen oder sogar als Sani. Aber du hast ja gewartet, bis sich Lexi und Nick gemeldet haben. Oder kann der heilige Jhesus vielleicht gar nicht so viel, wie er immer behauptet?«, knurrte Sean aggressiv. 

Joe war nicht schnell genug, um sich zwischen seinen Kollegen von Team Bravo und Sean zu schieben, obwohl er die Situation erkannt hatte. Sean war mit seiner Äußerung zu weit gegangen. Ryan hatte Sean am Kragen gepackt, gegen die Wand gedrückt, wo Sean sich nur eine Sekunde später wieder befreit hatte und nun im Gegenzug Ryan aus dem Büro schob und an die Flurwand drückte. Darüber, dass die beiden sich nun im breiten Flur angingen, war Joe einen kurzen Augenblick glücklich. Das Büro war vollgestellt mit Tischen, Computern und anderen Dingen, die nicht dazu gedacht waren, als Kollateralschaden einer Schlägerei zu enden. Er wollte es aber eigentlich gar nicht zu einer Schlägerei kommen lassen. Seine Kollegen waren sich körperlich ebenbürtig und sollte bei beiden nun der logisch denkende Menschenverstand aussetzen, könnte es zu ernsthaften Verletzungen kommen. 

»Wenn du glaubst, du kannst es mit mir aufnehmen, musst du früher aufstehen, du scheinheiliger Frosch«, raunte Ryan Sean drohend zu. 

»Spinnt ihr?« Joe drängte sich zwischen Ryan und Sean, der seine rechte Hand nicht von Ryans Kragen lösen wollte. »Mann, lass ihn los!« Joe fühlte sich in die Zeit versetzt, in der er in Bagram die Streitigkeiten des Rescue-Teams hatte schlichten müssen. Aber da gab es einen kleinen Unterschied zu dem Moment jetzt. Es war nie sein Vorgesetzter gewesen, den er in seine Schranken hatte weisen müssen. Mike Lutrell hatte nie die Kontrolle über sich verloren. Sean war da anders. Joe griff nach Seans Handgelenk und sah zu ihm auf, während der Blick des Captains aufgebracht auf Ryan lag. 

»Falls ihr es nicht mitbekommen habt, es ist nichts passiert. Unseren Leuten geht es gut«, raunte er Sean zu und bemerkte, wie die beginnende Auseinandersetzung immer mehr Zuschauer bekam. Wie zum Teufel hatte John es so lange an Seans Seite ausgehalten und wie schafften es die alten Teammitglieder der I.A.T.F immer wieder, Seans Wutausbrüche zu ignorieren? Und warum war er nun der, der sich dem Captain des Alpha Teams entgegenstellen musste? 

Schließlich löste Sean den Griff und wandte sich mit einem Schnauben und ohne jeden weiteren Kommentar von ihm und Ryan ab.

»Von wegen Führungsqualitäten«, raunte Ryan, hinter Joe stehend, was der mit Kopfschütteln bedachte. 

»Lass gut sein.« Joe wandte sich seinem Kollegen zu, ohne darauf zu warten, dass Sean im Büro verschwunden war. 

»Tatsache«, knurrte Ryan und ging an ihm vorbei zurück in das kleine Büro, in das gerade auch andere verschwanden, die die Auseinandersetzung beobachtet hatten. Als Joe ebenfalls in den Raum trat, lag eine seltsame Stimmung in der Luft und ihm fiel auf, wie seine Kollegen den Blick von ihm und Ryan abwandten. 

»Hab ich was verpasst?« Er versuchte, auf den Bildschirm von Randall zu sehen, als in ihm die Befürchtung aufkam, dass etwas passiert war. Aber egal wo er hinsah, er sah nur die Rücken seiner Kollegen.

»Nein. Sie warten immer noch. Mattis wird wohl erst in einigen Stunden den endgültigen Befehl zum Aufbruch geben. Ich weiß zwar nicht, auf was genau sie nun warten müssen, aber …« Randall zuckte mit den Schultern und sorgte mit seiner Äußerung dafür, dass eine Last von Joe abfiel, die sich kurz zuvor auf ihn gelegt hatte. Einen Moment hatte er wirklich befürchtet, dass etwas passiert sei. »… wenn er sagt warten, dann werden wir wohl warten müssen.« 

Joe nickte knapp. Warten war schon immer der Teil seines Jobs gewesen, den er nicht leiden konnte. Aber es gehörte dazu und machte oft einen sehr großen Teil seiner Einsatzzeit aus. Warten auf die passende Gelegenheit. Auf ihre Zielpersonen, das passende Wetter und die richtige Uhrzeit. Das war ein Teil seines Handwerks. Aber wenn diese Zeit dann vorbei war, konnte er gemeinsam mit seinen Kollegen zu einer präzisen Waffe werden. Genau deswegen hatte Warten auch etwas Gutes. Es brachte den perfekten Moment für ein perfektes Ergebnis.