Team IATF 9

Zehntausend Meilen zur Liebe Leseprobe

1.

»Stevie? Ach komm, ich weiß, dass du da bist. Mach die Tür auf.«

Stevie McInnes sah von dem Zeitungsartikel auf, den sie schon so oft gelesen hatte, dass sie ihn auswendig kannte. Sie hörte erneut ihren Namen und wusste, dass ihre beste Freundin nicht so leicht aufgeben würde. Es könnte Stunden dauern, ehe Jodie verschwand. Wahrscheinlicher war, dass sie sogar die Nacht vor der Tür verbringen würde. Tief ausatmend erhob Stevie sich vom Boden. Beim Blick durch das Zimmer wurde ihr klar, dass sie dringend aufräumen musste, und zwar, noch bevor sie ihre Freundin hineinließ. Überall lagen Notizen, herausgerissene Adresszettel, Unmengen an Zeitungsartikeln und Fotos. Bilder ihrer älteren Schwester. Bilder aus einer Zeit, in der sie noch glücklich gewesen war. Und Bilder, die sie nach der schlimmsten Zeit ihres Lebens zeigten. 

»Stevie, bitte.« Wieder holte sie die ruhige warme Stimme ihrer Freundin aus ihren Erinnerungen.

Langsam, darauf achtend, dass sie auf keine der Notizen oder Bilder trat, machte sie sich auf den Weg zur Tür ihres Apartments. Sie warf einen kurzen Blick in das kleine Bad und zog die Tür zu. Die Wäsche stapelte sich bereits seit Tagen, wenn sie nicht bald die Waschmaschine einschalten würde, müsste sie entweder nackt zur Arbeit oder sich krankschreiben lassen. Stevie schloss kurz die Augen, als sie die Tür entriegelte und einen Spaltbreit öffnete. Sie würde Jodie auf keinen Fall in die Wohnung lassen. Ihre Freundin durfte das herrschende Chaos nicht sehen. 

»Hey du.« Sie schob sich in den Türspalt und wollte so Jodie den Blick in den Raum verbauen. 

»Ähm, ich wollte mal fragen, was los ist. Du bist die letzten Tage nach Feierabend immer so schnell weg, dass ich dir nicht mal mehr tschüss sagen konnte und in den Pausen starrst du dein Handy an.« Sorgenfalten lagen auf dem Gesicht der Vierundzwanzigjährigen. 

»Es ist alles in Ordnung.« Stevie zwang sich zu einem Lächeln. Dabei war nichts in Ordnung. Jahrelang hatte sie versucht zu vergessen, aber immer wieder waren die Schatten aus der Vergangenheit gekommen und hatten sich in ihr Leben gedrängt. Schon einmal war sie an einem Punkt wie diesem angelangt, und es hatte Wochen gedauert, ehe Jodie ihr klar gemacht hatte, dass das, was sie tat, sinnlos war.

»Lüg mich nicht an. Was ist los?« Jodie wollte einen Blick an ihr vorbei in die Wohnung werfen. »Wenn du da ´nen Typen verstecken würdest, hättest du einen anderen Blick.« 

Stevie versuchte, Jodie den Blick erneut zu verstellen. »Es ist alles okay, wirklich.« Es fiel ihr schwer, überzeugend zu klingen. Als Jodies Blick sich veränderte, bildete sich ein Kloß in ihrem Hals. Es war eine Mischung aus Mitleid und Trauer, die sie in den grünen Augen erkennen konnte. Nur schwer konnte sie die eigenen Tränen zurückhalten, die in ihre Augen steigen wollten. Dabei war da doch eigentlich kein Grund, der sie zum Weinen bringen sollte. Eher viele, die sie in die Verzweiflung trieben, aber keiner war es wert, in diesem Augenblick in Tränen auszubrechen. 

»Nicht doch, Stevie. Ich dachte, das Thema hätten wir erledigt.« Jodie holte tief Luft, drückte die Tür weiter auf und schob sie so in den kleinen Flur ihrer Wohnung. 

Ja, das hatte sie schon so häufig gedacht. 

Erledigt. Abgeschlossen. Vorbei. Vergangenheit. 

Und doch konnte sie es nicht vergessen. Sie konnte ihn nicht vergessen. Sie ließ es zu, dass Jodie die Wohnung betrat, und schloss die Tür hinter sich. Mit dem Rücken an die Tür gelehnt beobachtete sie, wie ihre Freundin kopfschüttelnd und naserümpfend das Chaos betrachtete, das sich in den letzten zwei Wochen entwickelt hatte. 

»Stevie, ich dachte, wir haben das besprochen.« Jodie sah sich nicht um, als sie sprach. Ihr Blick ruhte auf dem dunklen Boden, der über und über mit Papier übersät war. »Ich dachte wirklich, wir hätten das abgeschlossen. Du hast doch gesagt, du bist darüber weg. Ist dir klar, dass es hier riecht, als würdest du tote Possums lagern?« Jetzt drehte sich Jodie um und strich sich durch die schulterlangen Haare.

»Dachte ich auch, aber dann kamen die Träume wieder«, antwortete sie, und ignorierte die Anspielung auf den, in der Wohnung herrschenden, Geruch. Vorsichtig, wieder darauf achtend keinen der Artikel zu betreten, ging sie auf das Sofa zu, wo ihre dunkle Jacke neben einer getragenen Hose und einem Pizzakarton lag. Der Wohnzimmertisch war mit Kaffeetassen vollgestellt und in der kleinen Kochnische stapelten sich Teller in der Spüle. Die kleine Arbeitsfläche war mit Verpackungs-material von Fertiggerichten zugemüllt und der Mülleimer in der Ecke quoll über. »Ich wollte ihn vergessen, ich kann es aber nicht.« Die Tränen, die sie zurückgehalten hatte, ließen sich nicht mehr bremsen. 

»Oh Stevie, es tut mir so leid.« Jodie kam auf sie zu und Stevie ließ sich dankbar in eine Umarmung ziehen.

All die Jahre der Therapie hatten ihr zwar geholfen mit dem umzugehen, was man ihr angetan hatte, aber vergessen hatte sie weder die Gräueltaten, die Schreie, die sich tief in sie gefressen hatten, noch die Augen des Mannes, der sie befreit hatte. Auch die Augen, die ihren Wunsch zu sterben beendet und ihr ein neues Leben geschenkt hatten, hatte sie nie vergessen.

Es war Jahre her, dass sie und ihre drei Jahre ältere Schwester auf die Idee gekommen waren, einen richtigen Backpacker-Trip zu unternehmen. Raus aus dem Haus, in dem sie die meiste Zeit ihres Leben verbracht hatten, und endlich das Land kennenlernen, in dem sie geboren waren. Nicht nur immer den kleinen Ort sehen, der über achtzig Kilometer von der Farm entfernt war, auf der sie aufgewachsen waren. Sie wollten das Land sehen. Die Großstädte, die Strände und das Leben kennenlernen, welches sie bis dato nur aus dem TV kannten. Auch wenn ihre Eltern nicht begeistert gewesen waren, so hatten sie ihre Töchter ziehen lassen. Es war Cyntias Idee gewesen, ihre Eltern darum zu bitten, ihnen nicht hinterherzutelefonieren, wenn sie sich mal eine Woche nicht meldeten. Dafür mussten sie ihren Eltern versprechen, nach Möglichkeit einmal pro Woche anzurufen. Schließlich waren sie erwachsen und durchaus in der Lage, auf sich acht zu geben. 

Also schwangen sie sich mitten im Hochsommer in Cyntias uralten VW Käfer und fuhren mehr oder weniger ohne Plan los. Sie hielten hier und dort an, mal um zu tanken und zu essen, mal um einige Tage die Gegend zu genießen und um Menschen kennenzulernen. Und dann kam der Tag, an dem sie Cyntia von einer Idee überzeugt hatte, die sie bis heute bitter bereute. In Darvin hatte sie Bilder aus Sumba gesehen und es war ihr tatsächlich gelungen, günstige Tickets zu bekommen. Auch wenn ihre Schwester sich anfangs gegen dieses Hirngespinst gewehrt hatte, so hatte sie am Ende doch zugesagt. Einmal den Kontinent verlassen, der ihre Heimat war. Einmal über den Tellerrand schauen. In ein Land, welches nur wenige hundert Kilometer entfernt lag und wunderschön, wenn auch arm war. Nur einmal ein paar Tage, um anschließend sagen zu können, man war in Indonesien. Was um alles in der Welt hatte sie nur geritten? Stevie hätte auf Cyntia hören sollen, dann wäre es nie so weit gekommen.

Stevie nahm das Geräusch von fließendem Wasser und der Kaffeemaschine wahr und warf einen Blick über ihre Schulter zu Jodie, die an der Spüle stand und Wasser einlaufen ließ. Wenige Minuten später stieg ihr der Duft von frisch gebrühtem Kaffee in die Nase. Sie war sich nicht sicher, ob sie aufstehen und Jodie bei der Mammutaufgabe helfen sollte, die ihre Freundin sich offensichtlich vorgenommen hatte. Der Abwasch stand immerhin schon seit zwei Wochen unangetastet dort. 

»Hilfst du mir? Sonst steh ich heute Nacht noch hier.« Jodie schien ihre Gedanken erraten zu haben. Träge erhob Stevie sich, stieg mit einem großen Schritt über eine Zeitungsseite, auf der das Foto eines großen Militärhubschraubers zu sehen war. Wie in Trance ging sie auf Jodie zu, die bereits einige gespülte Teller auf die Ablage gelegt hatte und ihr ein Geschirrhandtuch reichte. Geistig abwesend griff sie sich einen der weißen Teller und begann, ihn abzutrocknen. Mit ihren Gedanken war sie an einem anderen Ort, einem, der ihr und das Leben ihrer Familie für immer verändert hatte. 

Sumba war die ersten Tage ein Traum gewesen. Eine Insel mit wunderschönen Stränden, traumhaften Sonnenuntergängen und einer umwerfend schönen Natur. Weder sie noch Cyntia hatten sich sattsehen können. Sie durchquerten einen Teil der Insel zu Fuß. Entdeckten Dinge, die andere Reisende nicht sahen und durchquerten viele der typischen Dörfer. Immer wieder kamen sie an den Häusern vorbei, die durch ihre typischen Reetdächer ins Auge stachen. Die Dächer, die an einen Spitzhut erinnerten, waren so ungewöhnlich, dass man sie nie wieder vergaß. Aber es war noch mehr auf der Insel passiert, die ihre tiefen Schattenseiten hatte. Warum ausgerechnet sie und Cyntia im falschen Moment am falschen Ort gewesen waren, wusste sie nicht. Vielleicht hätten sie irgendwann auf ihrer Tour anders abbiegen sollen. Vielleicht wäre all das, was ihr den Schlaf raubte, dann nie passiert.  

Sie hatten am Wegesrand angehalten und die Waren bestaunt, die eine ältere Dame anbot. Über den matschigen, mit Schlaglöchern übersäten Weg, kam ein alter Pick-up. Der Blick der Frau hätte ihnen Warnung genug sein müssen. Die panisch aufgerissenen braunen Augen und ihre wilden Gesten hätten sie doch warnen müssen. Aber sie waren unerfahren gewesen, hatten nichts von den Männern gewusst, die den Weg entlang gekommen waren. 

Der Wagen hatte angehalten und ein Mann Mitte vierzig war herausgesprungen. Er hatte die Händlerin angebrüllt, die ihnen gedeutet hatte wegzulaufen, aber da war es schon zu spät gewesen. Drei weitere Männer hatten sie in den Wagen gezerrt. Sie hatten um ihr Leben geschrien und sich mit Händen und Füßen gewehrt. Aber die Männer waren stärker gewesen und die Schläge, die sie in den Magen und am Kopf getroffen hatten, waren hart gewesen und hatten dafür gesorgt, dass sie schnell nicht mehr in der Lage gewesen waren, sich zu wehren. 

Vorsichtig strich sie sich mit der Zunge über die Lippen und bildete sich ein, wieder das Blut zu schmecken, welches sich damals in ihrem Mund verteilt hatte. Sie erinnerte sich wieder an Cyntias grelles Kreischen und an das Gebrüll der Männer. An die Unmengen an Schlägen, die folgten, und die Wochen, in denen sie in einem Zelt festgehalten worden waren. Ihr stiegen Tränen in die Augen, als sie von dem Teller aufsah, den sie immer noch in der Hand hielt.

»Hey.« Jodie legte den Lappen zur Seite und strich sich die nassen Hände an ihrer Hose ab, ehe sie sie an ihr Gesicht legte. »Es ist vorbei, Stevie.« 

Stevie schloss die Augen und atmete mehrfach tief durch, um ihre Emotionen wieder in den Griff zu bekommen, die in der Zeit zurückgereist waren. Es war vorbei, ja, schon seit Jahren, aber vergessen würde sie nie. 

»Soll ich dir helfen, hier alles auf Vordermann zu bringen, oder schaffst du es alleine?« Jodie zwang sie sanft, sie anzu-sehen. 

Kennengelernt hatte sie die junge Frau vor vier Jahren, ironischerweise bei ihrem Therapeuten im Wartezimmer. Jodie hatte sich damals von ihrem Freund getrennt und war der Meinung, dass die gesamte Welt sich gegen sie verschworen hatte. Stevie ging zu diesem Zeitpunkt bereits seit über einem Jahr einmal die Woche zu Dr. Kickett, der ihr half, sich selbst wieder zu finden. Sie war eigens wegen ihm nach Perth gezogen und hatte die Farm, auf der sie aufgewachsen war, hinter sich gelassen. Ihre Eltern hatten sie auf der Farm halten wollen, doch dort gab es keinen Zentimeter, kein Zimmer, keinen Geruch, der sie nicht an Cyntia erinnerte. Anfangs war sie einmal im Monat die vierhundert Kilometer gependelt, um eine Therapie-stunde zu bekommen, dann kam der Tag, an dem Dr. Kickett ihr empfahl, einmal die Woche vorbeizukommen, da er mit ihrer Entwicklung nicht zufrieden war.

Sie hatte nicht lange mit sich gehadert. Zum Glück hatte sie sehr schnell das kleine Appartement bekommen, in dem sie jetzt lebte. Den Job in dem Callcenter hatte Jodie ihr kurz nach ihrem ersten Treffen besorgt. Er war bis heute nicht das, was sie sich unter einem Traumjob vorstellte, aber er brachte ihr das Geld, welches sie benötigte, um hier zu leben. 

»Stevie?« Jodie lächelte, als sie den Kopf schüttelte, um die Gedanken abzuwimmeln. 

»Wäre es okay für dich?« Stevie wusste, dass sie ohne Hilfe nicht einmal anfangen würde, aufzuräumen.

»Wenn es das nicht wäre, hätte ich dich wohl kaum gefragt oder?« Jodie strich ihr durch die Haare. 

2.

Stunden später schloss Stevie die Tür hinter Jodie und fühlte sich, als hätte sie gerade die gesamte Welt in kleine Schuhkartons und Schachteln gesteckt, die sie im Laufe des Lebens gesammelt hatte. Da war eine tiefe Leere in ihr. Ein schwarzes Loch, das nur danach schrie, dass sie sich hineinwarf, aber sie wusste, dass sie diesem Ruf nicht nachgeben durfte. 

Ein Bild ihrer Schwester und einen Zeitungsartikel hatten sie nicht weggeräumt, alles andere war wieder feinsäuberlich verpackt zurück in die Tiefen ihres Kleiderschrankes gewandert. Vielleicht wäre es das Beste gewesen, wenn sie alles endgültig entsorgt hätte. Müde sank sie auf ihre Couch, die nun wieder so viel Platz bot, dass sie sich hinlegen konnte. Sie angelte nach der Wolldecke, die Jodie, als letzte Amtshandlung, ordentlich zusammengelegt hatte, und kuschelte sich in den weichen Fleece-stoff ein. Auch wenn draußen selbst kurz vor Mitternacht sicher noch fünfundzwanzig Grad herrschten, so fror sie. Erst langsam begriff sie, wie müde sie war, und dass ihr Körper sich nach einer Auszeit sehnte, damit sie am nächsten Morgen wieder auf der Arbeit erscheinen konnte. Der Gedanke an den folgenden Tag ließ sie aufstöhnen. Wieder würde sie dutzende Gespräche annehmen und Verträge vermitteln, erboste Kunden beruhigen oder Störungsmeldungen bearbeiten. Ihre Arbeit bei einem der größten Mobilfunkanbieter Australiens war alles andere als ein Traumjob, aber was sollte sie machen? 

Nach der Schule hatte sie auf der Farm gearbeitet. Sie konnte Pferde beschlagen, Rinder einfangen und Schafe scheren, mehr hatte sie nie gelernt. Dann kam ihre Auszeit mit ihrer Schwester und deren Tod. Erst auf Drängen ihrer Eltern, die ebenso wie sie unter Cyntias Tod gelitten hatten, suchte sie den Therapeuten auf. 

Müde ließ sie ihren Kopf auf das kleine Kissen sinken und schloss die Augen. Der Schlaf griff erbarmungslos nach ihr. Er zerrte sie in einen Traum, der sie seit Wochen Nacht für Nacht verfolgte und immer mit den graublauen Augen eines Mannes endete, dessen Gesicht sie nicht erkennen konnte, da es mit Tarnfarbe bedeckt war. Aber seinen Geruch hatte sie oft noch Stunden nach dem Erwachen in der Nase. Es war eine Mischung aus Schweiß, Schlamm, Regen und Mann, die sie einfach nicht vergessen konnte. Wer er war, wusste sie nicht. Sie hatte nie erfahren, wer sie des Nachts aus der Hölle befreit hatte und zu wem die ruhige Stimme gehört hatte, die auf sie eingeredet hatte. 

Als die Männer sie und ihre Schwester am Straßenrand gekidnappt hatten, hatten sie noch gehofft, dass man Lösegeld für sie fordern würde, aber dem war nicht so. Sie waren nur zur Erheiterung der Männer da gewesen, die mitten im Wald irgendwelchen kranken Ideen folgten. 

In ihr stieg wieder diese Übelkeit auf, die sie so oft heimsuchte. Sie wusste nicht mehr, wie oft man sie missbraucht und verprügelt hatte. Sie wusste nur, dass irgendwann der Wunsch in ihr aufgekommen war, einfach sterben zu dürfen. Aber diesen hatte man ihr nicht erfüllt. Tag für Tag hatte man sie gefoltert und all das nur zum Spaß einiger kranker Typen, die dabei geil wurden. Nach einigen Tagen brachten ihre Peiniger einen Mann mit. Einen, der ausgesprochen unpassend für einen Touristen gekleidet gewesen war. Er hatte einen schwarzen Anzug und Schuhe getragen, die sicher ein Vermögen wert gewesen waren. Im Gegensatz zu ihnen wurde dieser Typ fast wie ein König behandelt. Er hatte zu essen und zu trinken bekommen und Schläge hatte er nur selten einstecken müssen. Schnell war ihnen aber klar geworden, dass dieser Typ ein mindestens ebenso großes Arsch war, wie ihre Kidnapper. Selbst wenn von seinen Rationen etwas überblieb, so hatte er es nicht an sie oder ihre Schwester weitergegeben. Er hatte nie das Wort ergriffen, wenn sie wieder vor seinen Augen vergewaltigt worden waren. Er hatte einfach nur zugesehen. 

Stevie konnte sich an einen Tag erinnern, an dem man sie an einen Wasserlauf gebracht hatten, damit sie sich waschen konnten. Das kalte Wasser hatte gut getan, aber ihr Durst war unbändig gewesen und sie hatte sich nur schwer daran hindern können, von dem Wasser zu trinken, schließlich hatte sie nicht gewusst, ob es genießbar gewesen wäre, oder ob sie krank geworden wäre. Cyntia hingegen hatte gierig von dem Wasser getrunken, obwohl sie ihr davon abgeraten hatte. Anschließend hatte man sie zurück zu den Zelten gezerrt, wo ihr Mitgefangener bereits auf einem Baumstumpf gesessen hatte und von schwer Bewaffneten flankiert worden war. Sie wurden gezwungen, sich neben ihn zu knien, dann wurde eine Kamera auf sie gerichtet, und einer der Männer, die sie Nacht für Nacht quälten, sprach. Was er gesagt hatte, hatte sie nicht verstanden und auch der Mann in dem Anzug hatte nicht den Eindruck gemacht, als hätte er gewusst, um was es ging. Aber dieser Mann war ihr egal gewesen, er war einfach hochnäsig und ihr zuwider gewesen. 

Nur wenige Stunden später hatte ein weiterer Horror begonnen. Cyntia bekam einen Brechdurchfall, der sie innerhalb weniger Stunden so sehr schwächte, dass sie kaum noch in der Lage gewesen war, die Augen offenzuhalten. Sie hatte weder Wasser noch Nahrung bei sich behalten können. Schon einen Tag später hatte sie sich in einer Art Delirium befunden und nicht mehr auf Stevies Ansprachen reagiert. 

Nach einer gefühlten Ewigkeit war es Stevie gelungen, ihrer Schwester wenige Worte zu entlocken. Damals wusste Stevie noch nicht, dass es das Letzte sein würde, was sie aus dem Mund ihrer Schwester hören würde.

»Stevie, ich liebe dich, vergiss das nie.« 

»Ich liebe dich auch.« Ihr waren Tränen über die Wangen geflossen.

»Ich hab keine Kraft mehr, sag Mom und Dad, dass ich sie liebe.« Die Stimme ihrer Schwester war kratzig und von Tränen gefüllt gewesen. 

»Das sagst du ihnen gefälligst selbst.« Hatte sie mit ersticker Stimme erwidert.

Cyntia hatte keine Chance mehr bekommen, ihr zu antworten. Ein wild brüllender Mann war in das Zelt gestürmt und hatte ihre Schwester hinausgezerrt. Erst eine Ewigkeit später hatte man sie zurückgebracht und achtlos in eine Ecke des Zeltes geworfen. Stevie hatte mehrfach versucht, ein Lebenszeichen von ihr zu erhalten, aber sie hatte nicht reagiert. Selbst als sie Cyntia angeschrien hatte, war nichts passiert. Einzig ihr nobler Mitgefangener hatte sie angeblafft, dass sie leise sein sollte, wenn sie an ihrem Leben hing. Irgendwann war sie dann eingeschlafen, obwohl sie sich geschworen hatte, die Augen nicht zu schließen, aus Angst das Cyntia sie brauchen könnte. 

Etwas hatte sie aus ihrem Dämmerschlaf gerissen. Es folgte ein Tumult, Schreie und Schüsse und ihr Herz hatte ausgesetzt, als das Licht einer Taschenlampe durch das Zeltinnere getanzt war. Männer waren in das Zelt gestürmt und es war das erste Mal seit Wochen, dass sie die Worte verstanden hatte, die gesprochen wurden, nur konnte sie sich einfach nicht mehr an den genauen Wortlaut erinnern. Es war alles wie weggeblasen. Sie hatte wie in Trance gesehen, wie ein Mann in dunkler Kleidung den Mann aus dem Zelt gezerrt hatte und wie ein weiterer Cyntia nach draußen getragen hatte. Sie selbst war panisch in die Ecke des Zeltes gekrochen und hatte versucht, ihre Blöße zu bedecken, was mit den Resten ihrer Shirts nicht möglich gewesen war. Ein dunkler Schatten, der sich als Mann entpuppt hatte, war mit einer Taschenlampe in der Hand auf sie zu gekommen. Ihr Herz hatte zu stottern begonnen, als er vor ihr auf die Knie gesunken war und das Licht zur Seite gerichtet hatte. Sie hatte sich nicht getraut, ihn anzusehen. Er hatte zu bedrohlich auf sie gewirkt. Sie hatte befürchtet, er würde sie töten.

»Stevie, wir holen Sie hier raus! Ich erkläre Ihnen alles unterwegs. Wir haben keine Zeit. Ich trage Sie, okay?«

Seine Stimme war angenehm gewesen und hatte im Gegensatz zu seinem Erscheinungsbild nicht beängstigend gewirkt. Woher er ihren Namen gekannt hatte, wusste sie nicht. Ebenso wenig wer er war. Immer wieder hatte sie sich gefragt, wo man Cyntia hingebracht hatte. Immer mehr Fragen hatten sich dazugesellt, aber sie war nicht in der Lage gewesen, auch nur eine einzige zu formulieren. 

Panisch wachte Stevie aus einem viel zu kurzen Schlaf auf. Ihr Herz raste und es fiel ihr es schwer, zu atmen. Zitternd strich sie sich über die Augen, um die Bilder zu vertreiben. Dieser Traum verfolgte sie seit Wochen Nacht für Nacht und immer wieder war das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, der Mann, dessen Gesicht sie nicht erkannt hatte und der sie zaghaft, fast liebevoll am Arm berührt hatte und ihr versichert hatte, dass er ihr nichts tun würde. 

Nur selten tauchte mehr in ihren Träumen auf. Nur hin und wieder fand sie sich im Traum in seinen Armen wieder. Ihr Gesicht dicht an seinen Hals gepresst und immer wieder mit dem Verlust des Bewusstseins kämpfend. Aber seine Stimme, sein Geruch und seine Augen hatten sich tief eingebrannt. Sie konnte ihn einfach nicht vergessen. Nie hatte sie die Möglichkeit bekommen, ihrem Retter zu danken, geschweige denn, ihn nochmals zu sehen. Bruchstückhaft konnte sie sich an einen unendlich langen Weg durch den Dschungel erinnern und an einen Flug in einem Hubschrauber. Dann war da ein großes Nichts. 

Das Nächste, an was sie sich genau erinnern konnte, war der Moment, in dem sie in einem steril wirkenden Krankenhaus-zimmer erwacht war. Dort hatte sie über zwei Wochen verbracht und man hatte ihr erst nach einigen Tagen erzählt, dass Cyntia noch während der Rettungsaktion der SASR verstorben war. Für sie brach eine Welt zusammen.

Mit Tränen in den Augen erhob Stevie sich. Müde, gegen die Emotionen kämpfend, begab sie sich in ihr Schlafzimmer. Ihr Körper schrie nach Schlaf, aber ihr Kopf arbeitete, wie immer nach diesen Träumen. Ein Blick auf die roten Digitalzahlen ihres Weckers zeigte ihr, dass es halb zwei in der Nacht war. Sie blieb mitten im Zimmer stehen. Sie wusste, dass sie in den nächsten Stunden kein Auge schließen würde. Es würde nichts bringen, ins Bett zu gehen. Träge ging sie zurück zur Couch. Sie sah sich um, nicht wissend, was genau sie suchte. Ihr Blick blieb an dem Zeitungsartikel hängen, den sie schon auswendig kannte, der vor der Aufräumaktion verschont geblieben war und auf dem Wohnzimmertisch lag.

Der Bericht war fast zwei Wochen nach ihrer Rettung veröffentlicht worden. Alle anderen Berichte hatten bis zu diesem Zeitpunkt immer nur von der heldenhaften Rettung von Albert Harris berichtet, der unzählige Interviews gegeben, aber nie ein Wort über sie und Cyntia verloren hatte. 

»Wie aus sicherer Quelle bekannt wurde, wurden bei der Rettung von Albert Harris ebenfalls zwei junge Frauen befreit. Die Schwestern hatten sich auf einem Backpacker-Trip befunden und wurden von den gleichen Männern gefangen genommen, die auch Albert Harris gekidnappt hatten …«

Stevie hatte versucht, über die Zeitung herauszubekommen, wer die sichere Quelle war, aber selbst das Zusenden ihres Ausweises hatte die Mitarbeiter nicht davon überzeugt, dass sie wirklich die Frau war, die gerettet worden war. Man hatte ihr gesagt, sie dürften ihr den Namen der Personen nicht nennen, die bei der Befreiung zum Einsatz gekommen waren. Selbst die Ärzte, die sie gefragt hatte, hatten ihr nicht helfen können.

Stöhnend über ihre Gedanken begann sie, mit dem Artikel in der Hand durch das Wohnzimmer zu laufen. Es musste doch einen Weg geben, den Mann zu finden, der ihr Leid beendet und sie zurückgebracht hatte. Er war dafür verantwortlich, dass sie nun einen Ort hatte, an dem sie um Cyntia trauern konnte. Wenn man sie zurückgelassen hätte, hätte ihre Familie sie nie beerdigen können. 

Ihr Weg führte sie wieder ins Schlafzimmer an den Kleiderschrank. Tief einatmend und wissend, dass es ein Fehler war, die Kartons wieder herauszuholen, zog sie als Erstes einen schwarzen Schuhkarton hervor. Vorsichtig, als wäre er aus Glas, nahm sie den Deckel ab und griff nach den Fotos, die sie an den Campell Barracks heimlich geschossen hatte. Dutzende Männer hatte sie in der Hoffnung fotografiert, den zu finden, der sie gerettet hatte. Es war wie eine Sucht, ein Wahn. Sie wollte ihn finden und würde erst wieder zur Ruhe kommen, wenn sie ihn gefunden hatte. Was aber, wenn er nicht dort, sondern irgendwo anders stationiert war? Die Bilder, die sie in der Hand hielt, waren schon über zwei Jahr alt. Es war ihr eine Weile gelungen, den Wunsch zu verdrängen, ihn zu finden, nun aber war er stärker denn je zuvor. Wer zum Teufel konnte etwas über den Mann wissen, den sie so verzweifelt suchte? Anfragen über soziale Netzwerke würden ihr sicher nichts bringen, da ein Soldat, selbst wenn er die Suche sehen würde, wohl kaum darauf reagieren würde. Mit dem Karton in der Hand ging sie ins Wohnzimmer und sank auf die Couch. Sie begann, die Bilder zu betrachten. Selbst wenn ihr Retter unter den Abgelichteten sein sollte, so würde sie ihn auf einem Foto wahrscheinlich nicht erkennen, sie musste in seine Augen sehen, um zu hundert Prozent sicher sein zu können. Verflucht, in was hatte sie sich da verrannt? Kopfschüttelnd griff sie nach der Fernbedienung. Sie musste auf andere Gedanken kommen und dann sollte sie den Karton zurückstellen, sonst wäre die Aufräumaktion völlig umsonst gewesen. Bereits jetzt lagen wieder dutzende Bilder auf der Couch. 

Durch das Programm zappend blieb sie bei einer Reportage hängen, die die Arbeit in der Notaufnahme zeigte. Patienten wurden hektisch hereingeschoben und behandelt. Ärzte klagten über zu lange Arbeitszeiten und Schwestern über ungeduldige Patienten. Die Piloten der Rettungshubschrauber sprachen über Donuts und Kaffee, über nicht unterschriebene Übergabe-protokolle …  

Stevie schreckte hoch.

Die Notaufnahme. 

Wenn ihr dort auch kein Arzt Auskunft erteilen konnte, vielleicht – nein, sicher würde sich noch jemand an ihre Ankunft erinnern. Sie wusste, dass sie mit einem Militärhubschrauber nach Darvin gebracht worden war. Vielleicht wusste jemand aus der Notaufnahme noch etwas über die Männer, die sie eingeliefert hatten. Schließlich landete doch nicht jeden Tag ein Militärhubschrauber dort. Daran musste man sich doch erinnern. Achtlos warf sie die Fotos in den Karton zurück und schaltete den Fernseher aus. Sie sah sich suchend nach ihrem Handy um, welches normalerweise auf der Ablage in der Küche lag, aber da dort nun aufgeräumt war, wusste sie nicht, wo sie es hingelegt hatte. Fluchend lief sie durch die Wohnung und versuchte sich daran zu erinnern, wo sie es zuletzt gesehen hatte. 

Eine knappe Stunde später hatte sie ihr Handy gefunden, ein paar Kleidungsstücke in einen Rucksack gesteckt und das Ladekabel des Handys mit dem Adapter für ihren Holden Commodore zusammengerollt in die Tasche ihrer weiten Jogginghose gestopft. Mit dem Navi in der einen und dem Rucksack in der anderen Hand, zog sie die Tür ihres Appartements hinter sich zu. Ihr war klar, dass die Idee, die sie gerade hatte, absolut hirnrissig war, aber sie schwor sich, dass sie, wenn sie in Darwin nichts erreichen würde, die Suche endgültig einstellen würde. Ihren Vorgesetzten würde sie in den Morgenstunden anrufen und sich für die Woche krankmelden, alles Weitere würde sich ergeben, wenn sie in Darwin angekommen war. Eilig, als dürfte sie einen wichtigen Termin nicht verpassen, spurtete sie die Treppe hinunter. Ihren Wagen hatte sie auf dem kleinen Parkplatz vor der Tür geparkt und war froh, dass die Straßenlaternen, auch wenn es schon kurz vor drei war, die gesamte Parkfläche immer noch in ein helles Licht tauchten. Hier in der Gegend gab es Stellen, an denen sie sich nachts sicher nicht bewegen würde. Schon oft hatte sie das Gefühl gehabt, verfolgt zu werden, was absolut schwachsinnig war. Wer sollte hinter ihr her sein? Es gab niemanden, dem sie etwas getan hatte, also wurde sie auch nicht verfolgt. Wer sollte ihr schon etwas antun wollen? Sie tat dieses seltsame Gefühl, welches sie so oft heimsuchte, mit ihren Erfahrungen auf Sumba ab. 

3.

Jodie sah sich suchend in dem Großraumbüro um. Überall wurde gesprochen und niemanden schien zu interessieren, dass sie nicht an ihrem Platz war. Aber es gab noch einen Platz, der nicht besetzt war. Stevie war nicht da. Schon mehrfach hatte Jodie versucht, sie anzurufen, aber sie ging einfach nicht an ihr Handy. War ihr vielleicht etwas zugestoßen oder hatte sie sich gar etwas angetan? Nachdem Jodie am Abend zuvor mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend zu ihrer Freundin gefahren war, hatte sich schnell herausgestellt, dass ihr Gefühl sie nicht getäuscht hatte. Warum Stevie nicht in der Lage war, diesen ominösen Mann zu vergessen, konnte sie einfach nicht verstehen. Wenn Stevie wenigstens mit ihm gesprochen hätte, seinen Namen wüsste, oder sonst irgendetwas, was bei der Suche helfen könnte. Aber sie wusste nichts. Gar nichts. Nur die Augenfarbe. Wie um alles in der Welt sollte man unter über sieben Milliarden Menschen den einen finden, von dem ihre Freundin immer wieder schwärmte. Das war unmöglich. Man konnte ja schlecht alle Männer mit graublauen Augen zu einer Gegenüberstellung einladen. 

»Jodie? Warum bist du nicht an deinem Arbeitsplatz?« 

Sie stieß den Atem aus und drehte sich mit einem gezwungenen Lächeln zu dem fülligen Mann Mitte fünfzig um, der auf sie zukam. 

»Ich wollte auf die Toilette.« Mist, das war die schlechteste Notlüge, die ihr einfallen konnte. Das Klo befand sich genau am anderen Ende des Flurs. 

»Also, wenn du nicht zufällig an Alzheimer leidest, glaube ich dir kein Wort.« 

Mister Brandis war nicht der Typ Chef, mit dem man Spaß haben konnte und so befürchtete sie, dass er ihr gehörig die Meinung sagen würde. Jeder wusste, dass er es nicht leiden konnte, wenn seine Angestellten nicht an ihren Arbeitsplätzen waren. Sollte sie ihm sagen, dass sie schauen wollte, wo Stevie war? 

»Falls du nicht doch zufällig auf die Toilette musst, möchte ich dich zu mir ins Büro bitten, Jodie.« 

Verfluchte Scheiße, ins Büro. Jodies Herz setzte aus und ein Kloß im Hals wollte ihr die Luft nehmen. Wegen diesen zwei Minuten, die sie im Gang zwischen den Arbeitsplätzen ge-standen hatte, musste sie ins Büro. Sie hatte gerade nicht die Kraft, sich vor ihm zu rechtfertigen. Nickend und unfähig zu denken, folgte sie dem Mann mit den grauen Haaren unter den mitleidigen Blicken ihrer Kollegen in sein geräumiges Büro.

»Du bist doch mit Stevie befreundet, oder?« Brandis sank auf seinen riesigen Ledersessel, der hinter dem weißen Monster von einem Schreibtisch stand.

»Ja.« Was um alles in der Welt wollte er wissen? 

»So wie du da eben gestanden hast …« Er deutete durch die Scheibe der Tür auf den Gang. »… weißt du auch nicht, wo sie ist, oder?« 

»Nein, leider nicht.« Sollte sie ihm sagen, dass sie am Abend zuvor bei Stevie gewesen war und dass es ihrer Freundin psychisch nicht gut ging? Nein, auf keinen Fall. Erst mal abwarten, was er will, redete sie sich mit Nachdruck ein. 

»Hast du schon versucht, sie anzurufen?« Er beugte sich nach vorne und sein Blick bohrte sich förmlich in sie.

»Nein, Mister Brandis, noch nicht«, log sie. 

»Dann mach das. Ich will wissen, warum sie sich noch nicht gemeldet hat.« Er schob ihr das Telefon zu, das am Rand seines Schreibtisches stand. Ihr Zögern bedachte er mit einem knappen Nicken in Richtung des Telefons. »Ich dachte, du weißt, wie man damit umgeht, oder soll ich es dir erst zeigen?« 

Da war er, ihr gehässiger Vorgesetzter. Mit Argusaugen beobachtete er sie dabei, wie sie mit zitternden Fingern die Handynummer von Stevie wählte. Es war ihr unmöglich, den Blick von ihm zu lösen, als sie dem Freizeichen lauschte. 

»Stevie McInnes?« Die Stimme ihrer Freundin war heiser, sie klang müde. Hatte sie vielleicht einfach nur verschlafen? 

»Stevie, wo bist du?« Jodie bemühte sich, nicht besorgt zu klingen. Ihr Vorgesetzter sollte keinen falschen Eindruck gewinnen. 

»Jodie? Aber das ist doch die Nummer von Brandis.« Stevies Heiserkeit war verfolgen. 

»Ja, ich sollte dich fragen, wo du bist.« 

»Ich bin krank. Sorry das ich mich noch nicht gemeldet habe, aber mir geht es wirklich schlecht.« 

Jodie wollte mit dem Kopf schütteln, konnte sich aber im letzten Moment noch daran hindern. Stevie klang nicht, als wäre sie krank. Schon gar nicht so krank, dass sie nicht ans Telefon gehen konnte, um sich krankzumelden. Aber sie konnte nun auch nicht sagen, dass sie ihr nicht glaubte. Schon gar nicht, unter dem prüfenden Blick von Mister Brandis. 

»Okay, gute Besserung. Ich melde mich nach der Arbeit noch mal bei dir. Wenn ich dir was vorbeibringen soll, sag es einfach. Bis später.« Sie beendete das Gespräch. »Sie ist krank. Ich werde heute Abend bei ihr vorbeifahren.« Kurz angebunden erklärte sie ihrem Chef, was Stevie gesagt hatte und hoffte, dass sie das Büro schnell wieder verlassen konnte.

»Dann sag ihr, dass ich ihre Krankmeldung hier haben will, sonst schicke ich ihr Post. Das kann doch nicht so schwer sein, sich morgens abzumelden«, giftete er drauf los. »Geh wieder an deine Arbeit.« Er deutete auf die Tür. 

Jodie konnte eine pochende Ader an seiner Schläfe sehen, die immer dann zum Vorschein kam, wenn er wirklich verärgert war. Jedes weitere Wort könnte nur noch mehr Ärger bedeuten. Also verließ sie schweigend das Büro und machte sich wieder an die Arbeit, obwohl ihre Gedanken ganz woanders waren. 

Eine Stunde, nachdem sie mit verschwitzten Händen Mister Brandis Büro verlassen hatte, suchte sie tatsächlich die Toilette auf. Allerdings nicht, um sich zu erleichtern. Sie konnte und wollte nicht mehr bis zum Feierabend warten, sie musste wissen, was mit Stevie los war, und zwar jetzt sofort. Hoffend, dass niemand sonst auf der Toilette war, zog sie die Tür auf und wäre um ein Haar mit einer blonden Frau zusammengestoßen, die gerade heraus wollte. 

»Hey, die in der Mitte ist verstopft, voll ekelhaft.« Mit angewiderter Miene deutete sie auf die mittlere von drei Kabinen und ging an Jodie vorbei in den kleinen Flur, der ihr Großraumbüro von Toiletten, Fahrstuhl und zwei weiteren Büros trennte. Jodie nickte und wartete darauf, dass die Tür ins Schloss fiel. Prüfend ließ sie ihren Blick durch den weiß gefliesten Raum wandern. Die Türen der drei Kabinen standen offen, der Wasserhahn des alten Waschbeckens tropfte unablässig und von irgendwoher konnte sie ein leises Brummen hören. Sie war alleine. Instinktiv steuerte sie die rechte Kabine an, klappte den Toilettendeckel hinunter, schloss die Tür und sank auf die geschlossene Toilette. Das Handy aus der Gesäßtasche ihrer Hose ziehend wusste sie, dass sie nicht viel Zeit haben würde, selbst bei einer Frau würden mehr als zehn Minuten auf der Toilette verdächtig wirken und sie wollte auf keinen Fall weiteren Ärger mit Mister Brandis. Mit den Fingern glitt sie über den Touchscreen und wählte Stevies Nummer. 

»Hast du schon Feierabend?« Stevie klang leicht verwundert.

»Nein, ich sitz auf dem Klo.« Jodie lehnte sich nach hinten gegen den Spülkasten und fragte sich, was ihre Freundin nun wohl dachte? 

»Wo?« 

»Auf dem Klo«, wiederholte Jodie und hatte die Befürchtung, dass die Verbindung abgerissen war.

»Warum rufst du mich an, wenn du auf dem Klo bist? Ich kann dir kein Klopapier bringen.« Stevie lachte auf und auch Jodie entfuhr ein amüsierter Ton bei der Anspielung. Vor einigen Monaten hatte sie Stevie eine Nachricht geschickt, als sie auf dem Klo festgestellt hatte, dass kein Toilettenpapier mehr da gewesen war und sie auch keine Taschentücher zur Hand gehabt hatte. Also war Stevie aus dem Büro geeilt und hatten Toilettenpapier unter der Tür hindurch gerollt. 

»Blöde Ziege, das war mir klar. Ich will wissen, was bei dir los ist. Und nun erzähl mir nicht, dass du krank bist, das glaub ich dir nicht. Sag mir einfach, was los ist. Soll ich dir später etwas vorbeibringen? Soll ich kommen? Wollen wir mit Schokoeis eine Liebesschnulze schauen? Sag mir, was ich tun muss, damit du morgen wieder da bist.« Jodie beendete ihren Redeschwall erst, als sie Stevies Lachen vernahm. Sie biss sich auf die Unterlippe und wartete gespannt auf die Antwort ihrer Freundin. Stevie klang nicht so, als würde es sich um einen Schokoeis-Filme-Abend-Notfall handeln.

»Nein, ich brauch nichts. Ich bin nicht zuhause.« 

»Du bist was? Wo bist du?«, fiel Jodie ihrer Freundin ins Wort und beugte sich nach vorne.

»Auf dem Weg nach Darwin.« Stevies Stimme wurde leiser.

»Wohin?« Jodie zweifelt an dem, was sie gerade gehört hatte.

»Ich fahre nach Darwin.«

»Du fährst nach Darwin? Was um …« Nein. Jodie holte tief Luft. Sie durfte ihr nun keine Vorwürfe machen. Konzentriert schloss sie die Augen und dachte darüber nach, wie sie Stevie klar machen konnte, dass es dumm war, was sie tat. Schließlich war Darwin über viertausend Kilometer von Perth entfernt. Mit welchen Worten konnte sie ihre Freundin zur Umkehr überreden? 

»Mit dem Auto?« Jodie strich sich über die Stirn, bei dem Gedanken, dass Stevie diese Wahnsinnsstrecke mit ihrem, in die Jahre gekommenen, Holden Commodore zurücklegen wollte. Auf eine so absurde Idee würde doch kein normaler Mensch kommen. Das war ja, als würde man mit dem Eselskarren eine Weltreise unternehmen, und das im einundzwanzigsten Jahrhundert.

»Ja.«

Okay, Stevie war nicht mehr normal. Jodie atmete durch. 

»Was willst du in Darwin?« Sie hatte ein ungutes Gefühl in der Magengegend und Stevies Zögern verbesserte diesen Umstand nicht. »Stevie?« Jodie musste nachhaken, ihr lief die Zeit davon. Bald würde jemandem auffallen, dass sie nicht im Büro war und wenn sie dann nicht aussah, als hätte sie ernstzunehmende Magen-Darm-Probleme, würde sie schneller wieder bei Brandis im Büro stehen, als ihr lieb war.

»Ihn suchen. Ich habe eine Idee, wen ich fragen kann.«

»Und da kannst du diese Person nicht anrufen, sondern musst nach Darwin fahren?« 

»Ich weiß nicht genau, wen ich suche.« Gestand Stevie kleinlaut. 

Jodie konnte sich nicht daran hindern aufzulachen. »Du bist völlig durchgeknallt«, entfuhr es ihr. Einfach auf blauen Dunst loszufahren, sie schüttelte den Kopf, das war etwas, das ihr nicht in den Kopf wollte.

»Es ist der letzte Versuch, versprochen.«

»Stevie, du fährst nun bei der nächsten Möglichkeit ran, bestellst dir da ein oder zwei, nein drei Kaffee und wartest, bis ich dich anrufe. Wir müssen in Ruhe reden.«

»Ich weiß, was ich tue.« 

Jodie konnte hören, dass Stevie von ihrer Aufforderung nicht begeistert war. Aber sie musste ihre Freundin aufhalten. Es war völlig irrsinnig, alleine mit dem Auto von Perth nach Darwin zu fahren. Die Strecke war nicht nur zu weit. Was, wenn sie eine Panne hätte? Dann wäre sie auf sich gestellt. 

»Bitte, dann fahr ran und warte da auf mich, du fährst auf keinen Fall alleine«, forderte sie mit Nachdruck.