Zwischen den Fronten Leseprobe
1.
Die Hände in die Taschen seiner schwarzen Hose schiebend, stand Cayden vor Jordans Grab. Ein kühler Wind trieb ihm feine Regentropfen ins Gesicht. Sein Blick verschwamm und er spürte, wie sich die Trauer schwer auf sein Herz legte. Die letzten Wochen waren anstrengend gewesen und hatten ihn nicht nur gehindert, hierher zu kommen, sondern auch daran, zu viele Gedanken an Jordan und ihre gemeinsame Vergangenheit zu verschwenden. Jetzt war es ruhiger und die verdrängten Emotionen krochen wieder hervor. Für seinen aktuellen Auftrag musste er sich nur ins Auto setzen und ins knapp vier Meilen entfernte Pendry fahren. Diese Nähe zu seiner Arbeit war der Grund, warum er regelmäßig Zeit mit Samira verbringen konnte, die in diesen Minuten mit Ellen, Jackie und Dila shoppen war. Eigentlich wollte er längst wieder im Wagen sitzen, zum Hotel fahren und dort Collin ablösen, aber er war zu früh aufgebrochen und hatte dann beschlossen, Jordans Grab zu besuchen. Diesen Entschluss bereute er jedoch bereits. Die Schwere, die sich auf ihn legte, würde ihn den Rest des Tages begleiten und das Arbeiten womöglich noch trister gestalten, als es ohnehin schon war. Er bezweifelte, dass er seine Gedanken in den nächsten Stunden von diesem Ort lösen könnte.
Miss Shaw, die sie seit einigen Tagen begleiteten, war eine angesehene Geschäftsfrau. Sie war gelernte Juwelierin und betrieb eine Kette von Geschäften, in denen keines der Schmuckstücke unter tausend Dollar über den Tresen ging. Zusätzlich kümmerte sie sich persönlich um den Einkauf von Edelsteinen, Gold und anderen Dingen, was ihrer Behauptung nach hin und wieder kritisch sein konnte, gerade wenn es sich um besonders seltene Steine handelte. Er war sich nicht sicher, ob er ihrer Aussage Glauben schenken konnte, denn wenn es danach ging, war sie die einzige Frau, die sich regelmäßig in den Kreisen der Juwelenverkäufer und Schürfer aufhielt. Ihren Reichtum trug sie nicht nur damit zur Schau, dass sie Bodyguards engagiert hatte, auch ihr Kleidungsstil zeugte von den Milliarden auf ihrem Konto. Sie kleidete sich aufreizend und machte nicht nur ihm, Collin und Duncan schöne Augen. Nach dem, was er vor Auftragsannahme erfahren hatte, war sie ein männerfressendes Monster. Dazu verbrachte sie ihre Tage aktuell fast ausschließlich in dem Fünf-Sterne-Hotel, in dem er und seine Kollegen nun permanent die Zeit totschlagen mussten. Es war eine unglaublich eintönige Arbeit. Das Hotel befand sich in Strandnähe und der Ausblick aus ihrem Appartement schien sie sogar daran zu hindern, den Strand selbst zu besuchen. Dabei wäre genau ein solcher Strandbesuch das, was er sich von Zeit zu Zeit wünschte, um nicht permanent die teure Ausstattung des Hotels anstarren zu müssen, während sie darauf warteten, dass etwas Interessantes, und sei es nur die Fahrt zu einem ihrer Geschäfte, geschah. Der Blick aus dem fünften Stock war wirklich atemberaubend, konnte aber in seinen Augen ein paar Stunden am Ozean nicht ersetzen. Seine Kollegen und er würden dafür sorgen, dass ihr nichts passierte und sie die Zeit genießen könnte. Aber sie blieb lieber in ihren vier Wänden.
Ihre Gesprächspartner empfing sie meist im hoteleigenen Restaurant oder, wenn die Treffen später stattfanden, an der Bar. Im Gegensatz zu den vorherigen Aufträgen der First-Source-Security war dieser an Tristesse kaum zu überbieten. Aber genau dieser Job war nun einer, der nicht nur ihm guttat. Auch Collin nutzte die freien Stunden, um seine Beziehung zu Dila zu festigen. Das, was zu Beginn eher eine Bedarfsgemeinschaft denn Liebe war, war inzwischen zu echter Liebe geworden und Collin entwickelte sich zu einem fantastischen Ersatzvater für Gibran. Cayden beneidete seinen Kollegen um die vielen besonderen Momente. Vor wenigen Tagen hatte der kleine Junge endlich seine ersten Worte gesprochen und es war nicht Mama gewesen, sondern Cat. Ob sich dieses Cat jedoch auf Collin bezog, der zu seinen aktiven Zeiten beim Militär den Funknamen Cat getragen hatte und noch heute von ihm so genannt wurde, oder doch mehr auf ein Kinderbuch, in dem es eine Katze gab, wusste wohl nur der Junge genau. Auch wenn er in der Entwicklung so war, wie Kinder in seinem Alter sein sollten, so war er, was das Sprechen anging, spät dran. Allerdings schob der Kinderarzt diesen Umstand auf das vorangegangene Trauma und die Tatsache, dass er erst seit kurzem in den Staaten war und Dila seitdem nur englisch mit ihrem Sohn sprach.
»Wie viel bekommen so kleine Kinder davon mit?« Die Frage leise aussprechend strich er sich durch die inzwischen nassen Haare. Gerne hätte er nun eine Antwort von Jordan erhalten. Ihre Meinung interessierte ihn. Er wusste, wie sehr Samira unter ihrer Vergangenheit litt, konnte sich aber nicht vorstellen, dass ein Baby bewusst den Horror in den Kriegsgebieten mitbekam. Obwohl Samira mittlerweile in den Nächten Ruhe fand, würde er die, in denen es nicht so gewesen war, nie vergessen. Lange hatte er ihr jeden Abend versprechen müssen, dafür zu sorgen, dass die Bösen, so nannte Samira die Menschen, die ihr und ihrer Familie Leid angetan hatten, nicht in das Haus kamen. Für sie waren es keine Terroristen, Milizen oder Sonstiges, es waren einfach nur die Bösen. Oft war sie trotz seines Versprechens schreiend oder weinend aufgewacht. Meist war es nur ihm dann gelungen, sie zu beruhigen. Zumindest war Jordan der Meinung gewesen, dass nur er es konnte, weil Samira fast immer nach ihm gerufen hatte. Aber vielleicht hatte sie ihn ja gar nicht gerufen, weil er sie trösten sollte, sondern womöglich war er es, der in ihren Träumen aufgetaucht war. Vielleicht waren diese Erinnerungen an ihn gar nicht positiv gewesen. Schließlich war er mit seinem Team in ihr Haus eingefallen. Zu diesem Zeitpunkt waren ihre Mutter und ihre Geschwister bereits tot. Er konnte sich vorstellen, dass sie in dem Augenblick, in dem er mit seinen Kollegen in das Haus eingedrungen war, Todesängste ausgestanden hatte. Wahrscheinlich hatte sie befürchtet, dass sie nun ebenfalls sterben würde. Dann hatte sie mitansehen müssen, wie einer seiner Kollegen auf schlimmste Weise umgekommen war. Cayden war sich sicher, dass auch sie den Geruch von verbranntem Fleisch gerochen hatte. Das war etwas, was er nie vergessen würde. Verdrängen ja, aber auslöschen konnte man solche Erinnerungen nicht. Und es war nicht auszuschließen, dass sie ebenfalls unter diesen Erlebnissen litt.
Durchatmend hob er seinen Blick. Der Regen war stärker geworden, ohne dass er es gemerkt hatte. Sein Jackett war zwar noch nicht komplett durchnässt, aber doch so nass, dass er eigentlich ein anderes anziehen müsste, um auf der Arbeit seriös zu wirken. Der Regen hatte Flecken aus Sand auf seinen schwarzen Schuhen hinterlassen und ihm wurde bewusst, dass es wohl wirklich am besten wäre, wenn er sich vor Dienstantritt umziehen würde. Ein Blick auf die Uhr hingegen machte ihm klar, dass er bereits jetzt spät dran war. Er hatte hier nicht nur das Wetter ausgeblendet, auch die Zeit war einfach an ihm vorbeigezogen.
Für die Welt warst du irgendjemand.
Für irgendjemand warst du die Welt.
Cayden ließ seine Finger über die Inschrift des Grabsteins gleiten. »Ich vermisse dich.« Seine Worte waren ein leises Flüstern, ehe er sich abwandte. Ja, er vermisste Jordan. Die Abende an ihrer Seite, die Gespräche, ihre Nähe, ihre Anwesenheit. Jeden Tag aufs Neue. Jeden Tag verursachte ihre Abwesenheit Schmerzen auf seiner Seele. Aber er musste weitermachen. Für Samira. Sie hatten versprochen, sich um das Mädchen zu kümmern, und Cayden würde dieses Versprechen einhalten. Er würde sie nicht alleine lassen. Zumindest würde er alles dafür tun, dass sie nie wieder in die Situation geriet, aus der er und Jordan sie gerettet hatten. Dass er nicht in der Lage war, guten Jobangeboten zu widerstehen, hatte er bereits festgestellt und er hatte sich mehr als nur ein wenig über sich selbst geärgert. Ob er wollte oder nicht, er musste zugeben, dass er käuflich war. Mit ausreichend Geld konnte man ihn für jeden Job bekommen. Aber ohne Geld konnte er sich das Haus nicht leisten und er konnte Samira nicht das bieten, was er ihr gerne bieten und ermöglichen wollte. Ein Teufelskreis, aus dem er schon einmal versucht hatte auszubrechen. Damals war es ihm nicht gelungen und er hatte sich dazu entschieden, sich mit dem, was er konnte, selbstständig zu machen. Personenschutz hatte nur am Rande seiner Ausbildung auf seinem Lehrplan gestanden und doch war es nun das, womit er sich sein Einkommen sicherte. Auch Collin und Duncan verhalf er so dazu, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Er war nicht nur für seine Adoptivtochter verantwortlich, sondern zusätzlich für seine Kollegen. Als er seinen Mustang erreichte, hatte der Regen bereits nachgelassen und es war wieder ein feiner Wassernebel, der ihm vom Wind ins Gesicht getrieben wurde.
Er hing seinen Gedanken immer noch nach, als er seinen Wagen vom Parkplatz des Friedhofs lenkte. Syrien und Mexiko waren nicht gerade die Regionen gewesen, in denen sich viele Personenschützer aus den Staaten aufhielten. Andere Personenschützer hatten aber sicher auch nicht den Vorteil, dass der Verteidigungsminister große Stücke auf sie hielt.
Ein hupender Wagen riss ihn aus den Gedanken und es gelang ihm in letzter Sekunde, einen Auffahrunfall zu verhindern, an dem er schuld gewesen wäre. Das Hupen stammte von einem Auto vor ihm, das nun ausscherte, um einen anderen Wagen zu überholen. Sein Versuch, in die Straße abzubiegen, in der das Hotel lag, welches sein Ziel war, scheiterte an einem quer stehenden Wagen. Was genau passiert war, konnte er nicht mehr sehen. Er rechnete aber damit, dass in den nächsten Minuten die Polizei auftauchen würde. Das würde jedoch nichts daran ändern, dass Collin auf ihn wartete. Er war zu spät. Inzwischen sogar viel zu spät. Es wunderte ihn, dass sein Kollege noch nicht angerufen hatte. Wobei …? Er zog sein Handy aus der durchnässten Tasche seines Jacketts. Flugmodus. Augenrollend und den Blinker setzend schaltete er sein Telefon wieder auf Normalmodus. Es dauerte nur Sekunden, ehe ihn ein Dutzend Nachrichten erreichten. Durchatmend sammelte er sich, um sich daran zu hindern, die Mitteilungen sofort zu lesen. Er wäre in wenigen Minuten am Hotel und könnte dort gefahrlos schauen, wer versucht hatte, ihn zu erreichen. Sehr wahrscheinlich waren die Textnachrichten von Collin oder Duncan, der ihn am Abend ablösen sollte. Dann wollte er mit Samira ins Kino. Als ihn nur noch wenige Meter vom Parkplatz des Pendrys trennten, klingelte sein Handy Sturm. Schon der Klingelton verriet ihm, dass es Collin war, der ihn sprechen wollte.
»Alter, du kannst auch noch ein paar Minuten warten.« Murrend lenkte Cayden seinen Mustang auf den großen Parkplatz, ohne das Gespräch anzunehmen. Ein Schlagbaum verhinderte, dass Unbefugte den Platz nutzten. Nur Gäste des Hotels konnten hier parken, was für ihn von Vorteil war, da er so nicht in die Verlegenheit kam, keinen Stellplatz zu bekommen. Die Scheibe herunterlassend und das Klingeln weiter ignorierend schob er seine Chipkarte in den dafür vorgesehenen Schlitz, damit sich der Schlagbaum hob. Das nervtötende Geräusch seines Handys verstummte, als er auf einen freien Platz zusteuerte. Collin würde ihm nun exakt sechzig Sekunden geben, ehe er erneut anrufen würde. Genügend Zeit, um den Wagen abzustellen, auszusteigen und abzuschließen. Ob er das Gespräch dann annehmen würde, wusste er jedoch noch nicht. Er könnte den Anruf erneut ignorieren, schließlich würde es keine fünf Minuten mehr dauern, ehe er im Hotel war und auf Collin treffen würde.
Der erwartete Anruf kam allerdings nicht. Cayden konnte seinen Wagen abschließen und sich ungestört auf den Weg zum Hoteleingang machen, wo ein Portier ihm die Tür öffnete und zunickte. Der zweite Blick des jungen Mannes, der, wie Cayden wusste, Student war und sein Studium mit diesem Job finanzierte, wanderte vielsagend knapp zur Seite und Cayden wurde klar, warum Collin ihn nicht erneut angerufen hatte. Sein Kollege saß in einem Ohrensessel im Empfangsbereich, von wo man einen guten Blick auf den Parkplatz hatte. Prüfend sah Cayden sich um. Ihre Klientin, die er ebenfalls hier erwartet hatte, sah er jedoch nicht.
»Wie wäre es, wenn der Herr einfach mal an sein Handy geht? Ich hab schon bei Sami angerufen, weil ich dich nicht erreichen konnte. Sie meinte, du müsstest bei mir sein.« Collin hatte sich erhoben und war auf ihn zugekommen. Cayden konnte die Blicke der Rezeptionisten auf sich spüren, da Collin ihn lauter als es in der Empfangshalle üblich war, angesprochen hatte.
»Ich bin früher gefahren und war noch auf dem Friedhof.« Er hielt seine Stimme leise, obwohl er Collin Vorwürfe machen wollte, da er Samira angerufen hatte. Nun würde sie sich sicher sorgen. Noch während er gesprochen hatte, überflog er seine Nachrichteneingänge. Es waren gleich mehrere von Samira darunter. Auch Karen hatte ihn angeschrieben. »Kann ich nicht einmal später kommen?« Murrend schickte er Samira eine Nachricht, in der er erklärte, dass er im Stau gestanden und das Handy versehentlich ausgeschaltet hatte.
»Du siehst beschissen aus.« Collin ging nicht weiter auf sein Zuspätkommen ein, sondern schien sich nun darauf zu fixieren, dass er aussah wie ein nasser Pudel.
»Könnte am Wetter liegen. Warum sitzt du hier rum und bist nicht oben?« Cayden hob fragend eine Augenbraue. Normalerweise saßen sie entweder vor der Suite von Miss Shaw oder sie machten es sich ihrem großen Zimmer gemütlich. Cayden war sich sicher, dass er für eine Nacht in dem luxuriösen Appartement einen einwöchigen Urlaub mit Samira machen könnte.
»PMS oder extrem schlechte Laune. Oder beides. Von hier konnte ich wenigstens sehen, ob du kommst und ob jemand anderes reinkommt. Im Moment würde ich ihr so nicht unter die Augen treten.« Collin deutete nur knapp auf seine nassen Sachen.
»Ich kann ja wieder fahren und mich umziehen«, erklärte Cayden. Er hatte keine Lust, den Tag mit einer schlecht gelaunten Mittvierzigerin zu verbringen. Das Letzte, was er nun brauchen konnte, waren Vorwürfe von seiner immer akkurat gekleideten Klientin.
»Vergiss es. Ich fahre jetzt nach Hause«, unterbrach Collin seine Gedanken.
»Da ist eh keiner. Dila ist mit Karen und Samira shoppen.«
Cayden lachte bei Collins genervtem Augenrollen. Sein Kollege schien bereits die Rechnungen zu sehen, die seine Frau mit nach Hause bringen würde. Es würde bestimmt nicht bei einem Strampler und einem Paar Schuhe bleiben. Dila hatte sich schnell dem hier herrschenden Konsumwahn angepasst. In Syrien war sie bestimmt froh gewesen, wenn sie ein Paar Schuhe und dazu noch Wegwerfwindeln für ihren Sohn gehabt hatte. Womöglich hatte sie sich diese Sachen dort auch nicht leisten können, selbst wenn man sie in einem Laden hatte finden können. Hier konnte sie alle Dinge des Alltags im Überfluss in den Supermärkten bekommen. Sie konnte gefahrlos einkaufen gehen. Niemand würde sie erschießen und keiner ihren Einkauf vor der Nase wegschnappen.
»Dann will ich halt nach Hause, um mein restliches Geld vor meiner Frau zu retten.« Collin legte eine Hand auf Caydens Schulter. »Lass nächstes Mal einfach das Handy an.« Der zweite Satz seines Kollegen war leiser. »Ich hab mir echt Sorgen gemacht.«
Cayden nickte knapp. »Liegt heute was Wichtiges an?« Er grübelte kurz darüber, ob er am vergangenen Tag etwas von den heutigen Terminen gehört hatte, aber ihm wollte nichts einfallen. Vielleicht würde sein Tag tatsächlich daraus bestehen, dass er auf irgendeinem Stuhl oder Sessel sitzen und nichts tun würde. Dieses Rumsitzen konnte ebenso anstrengend sein, wie ein Einsatz, mit dem einzigen Unterschied, dass es nicht lebensgefährlich war.
»Abgesehen von einem Essen mit diesem komischen Russen nicht. Vielleicht steigt ihre Laune dann ja wieder. Ich mach mich vom Acker.«
Cayden grinste bei der Erwähnung des Mannes, den er auf Anfang dreißig schätzte und den ihre Klientin bereits mehrfach getroffen hatte. Schon das letzte Treffen hatte in seinen Augen wenig mit einer geschäftlichen Besprechung zu tun gehabt. Erst hatten die beiden lange gespeist und eine Flasche Wein geleert, anschließend waren sie noch auf ihr Zimmer gegangen, in das neben einer Flasche Champagner auch Wodka vom Zimmerservice gebracht worden war. An dem Tag hatte er die Nachtschicht übernommen und als er am Morgen an Duncan übergeben hatte, war der Geschäftsmann mit einem breiten Grinsen und lallend an ihm und seinem Kollegen vorbei gekommen. Ihm lag noch ein Satz von Duncan in den Ohren. »Schau nicht so, du hast doch auch Bedürfnisse.« Duncan hatte den Mann nach unten begleitet und dafür gesorgt, dass er mit einem Taxi die Heimreise hatte antreten können, während Cayden unschlüssig vor der Zimmertür der Geschäftsfrau gestanden und gegrübelt hatte, ob er sich nach ihrem Befinden erkundigen sollte. Am Ende hatte er sich dagegen entschieden, da er keine Lust hatte, sich mit einer betrunkenen Frau zu unterhalten, die ihm zudem ständig schöne Augen machte. Schon am ersten Tag war deutlich geworden, dass sie in ihm, Duncan und Collin gerne mehr als nur Personenschützer gesehen hätte. Er war jedoch nicht nur Profi, was seinen Job betraf, sondern auch nicht an der Frau interessiert, die sich permanent aufreizend kleidete und so sicher bereits das ein oder andere geschäftliche Gespräche aufgrund ihres Erscheinungs-bildes zu ihrem Vorteil geführt hatte.
Fünfzehn Minuten später stand er in der fünften Etage und klopfte gegen die Tür ihrer Klientin. Obwohl er eine Chipkarte besaß, um die Tür zu öffnen, würde er das nur im Notfall machen. Und wenn Collins Worte stimmten, war jetzt ohnehin die Zeit, um freundlich um Einlass zu bitten. Er hatte, wie Collin und Duncan auch, noch ein Ersatzjackett in den Räumen der Geschäftsfrau abgelegt. Für den Fall, dass sie ihre Kleidung beschmutzten und ein makelloses Auftreten erforderlich war. Es dauerte eine Weile, ehe die Tür geöffnet wurde. Miss Shaw sah ihn einen Augenblick verwundert an, ehe sie die Tür ganz öffnete.
»Mister Harrison, was ist Ihnen denn passiert?« Sie trat zu Seite und deutete ihm, einzutreten. »Wollen Sie eine Dusche nehmen? Nicht dass Sie sich erkälten.«
Cayden rollte bei ihren Worten innerlich mit den Augen. »Nein Danke, Miss Shaw, es wird so gehen. Ich ziehe mir nur kurz ein anderes Jackett über und würde meines gerne zum Trocknen ins Band hängen.«
»Sie sollten es direkt in die Reinigung geben, damit es keine Flecken bekommt. Unten kümmert man sich sicher gerne darum.« Abigail Shaw ließ ihren Zeigefinger über den nassen Stoff seines Ärmels gleiten und lächelte ihn währenddessen verführerisch an. Dieses Lächeln verfehlte jedoch seine Wirkung bei ihm. Er war sich bewusst, dass er, selbst wenn seine Gedanken sich nicht immer noch um Jordan drehen würden, nie etwas für diese Frau empfinden könnte. In seinen Augen wirkte sie zu aufgesetzt und unecht. Dazu zweifelte er daran, dass ihre Erfolge alle rein mit dem Verkauf von hochwertigem Schmuck zu tun hatten. Zu oft hatte sie in den letzten Wochen ihre Gesprächspartner mit auf ihr Zimmer genommen und ihm und seinen Kollegen verboten zu stören. Auf diese Art schien sie ihre Geschäftspartner um den Finger zu wickeln, um günstig einkaufen zu können. Freundschaftspreise, wie andere es nennen würden, waren es auf alle Fälle nicht. Diese Bezeichnung passte nicht. Denn Freunde waren die Männer und Miss Shaw sicher nicht nach einer gemeinsamen Nacht im Bett.
»Das ist natürlich auch eine Möglichkeit.« Cayden trat zur Seite und störte sich nicht an ihrem gefrusteten Aufschnauben. Dass es ihr missfiel, dass er nicht auf ihren Annäherungsversuch ansprang, war ihm egal. In der Garderobe, die sich neben der Tür befand, hingen Sakkos von ihm und seinen Kollegen. Sein nasses Jackett ausziehend sah er kurz in den Spiegel, wo er Abigail Shaw entdeckte, die ihm zuzwinkerte, als sie seinen Blick bemerkte. Momente wie dieser waren die Ursache dafür, dass er sich hin und wieder zurück in den aktiven Dienst wünschte. Dort hatten ihn die Frauen nur abends in den Bars angehimmelt.
»Ich bringe es kurz runter. Verlassen Sie …«
»… Ihr Zimmer bitte nicht. Mister Harrison, als wenn ich ohne Sie irgendwo hingehen wollen würden. Ich würde doch nie auf Ihre heroische Begleitung verzichten.« Sie schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln und Cayden konnte sich nur knapp daran hindern, mit den Augen zu rollen.
»Danke.« Die Türklinke bereits in der Hand wandte er sich mit einem Lächeln zu ihr um, was sie dazu veranlasste, ihm erneut zuzuzwinkern. Erst als hinter ihm die Tür ins Schloss fiel, stieß er ein Schnauben aus. Seit dem Tag, an dem er den Auftrag erhalten hatte, sich um die Sicherheit von Abigail Shaw zu kümmern, machte sie ihm schöne Augen. Und nicht nur ihm. Collin und Duncan erging es ähnlich. Jedem Mann, dem sie begegnete, erging es so. Abgesehen davon war sie eine ruhige Klientin. Es gab bisher keine Zwischenfälle und sie hielt sich an die auferlegten Regeln. Eigentlich ein Kunde wie aus dem Bilderbuch, wenn sie nicht mit jedem Atemzug versuchen würde, sich jedes männliche Geschöpf in ihrer Nähe um den Finger zu wickeln. Collin hatte ihn vor zwei Tagen spaßeshalber gefragt, ob sie vielleicht auch dafür sorgen müssten, eine eventuelle Schwangerschaft zu verhindern. Cayden hatte jedoch nur lachend den Kopf geschüttelt. Sollte es irgendwann notwendig sein, dass Alimente gezahlt werden müssten, würde man sicher einen groß angelegten Test machen müssen. Selbst wenn sich der Zeitpunkt der Zeugung einschränken ließ, würde es ihn nicht wundern, wenn ein Dutzend Männer vorstellig werden würden.
Gedankenverloren trat er wenig später aus dem Fahrstuhl und stieß mit einer brünetten Frau zusammen, die er schon oft hier gesehen hatte. Das Tablett mit Gläsern, welches sie durch das Foyer trug, geriet ins Wanken, aber keines fiel zu Boden. Sie fuhr ihn auch nicht an, obwohl er diesen Rüffel mehr als verdient hätte.
»Entschuldigung.« Er trat einen Schritt zur Seite, als die Frau, die er auf Anfang dreißig schätzte, mit einem leicht genervten Lächeln eines der auf dem Tablett umgestürzten Sektgläser wieder aufrichtete.
»Es ist nichts passiert.« Sie eilte weiter und ließ ihn stehen. Mit dem nassen Jackett unter dem Arm machte er sich auf den Weg zur Rezeption, die er verwaist vorfand. Irritiert sah er nach links und rechts, ehe er auf die kleine silberne Klingel drückte, die vor ihm stand. Sollte sich jetzt nicht sein Instinkt bei ihm melden, wenn etwas nicht in Ordnung war? Hier war doch sonst immer jemand. Bei seiner Ankunft waren sogar zwei Personen hier gewesen.
»Allyson, Amanda hat gerade angerufen, sie ist auch krank, du müsstest heute mit Glenn die Bar alleine machen.«
»Klasse, was soll ich denn sonst noch alles tun? Ich kann mich auch nicht zerteilen.« Die von der männlichen Stimme angesprochenen Person war unüberhörbar gereizt und Cayden wurde klar, dass es die Frau war, die er gerade um ein Haar umgerannt hatte. Der Mann, der eine Sekunde zuvor gesprochen hatte, kam aus einem Raum an der Seite auf ihn zu. Sein Lächeln wirkte angestrengt.
»Entschuldigen Sie, wir sind heute etwas unterbesetzt. Was kann ich für Sie tun?« Der Mann mit den dunklen Haaren blieb vor ihm auf der anderen Seite des Tresens stehen.
»Ich wollte mein Jackett in die Reinigung geben.«
Der Gesichtsausdruck des jungen Mannes veränderte sich. Er sah nicht mehr so zuvorkommend aus wie noch vor wenigen Sekunden. Es machte den Anschein, als würde Cayden etwas von ihm verlangen, was er nur widerwillig tun würde. Und doch nickte er.
»Gerne, auf welche Zimmernummer?« Einen Stift in die Hand nehmend hob er sofort wieder den Blick.
»Zimmer 503. Harrison.« Cayden war sich immer noch nicht sicher, ob nicht vielleicht doch irgendetwas nicht in Ordnung war. Gab es womöglich irgendein Problem, von dem er bisher nichts mitbekommen hatte? Kurz sah er sich nach auffälligen Gästen um, aber abgesehen von einem Ehepaar entdeckte er niemanden.
»Wir melden uns bei Ihnen, Mister Harrison.« Der Mann nahm ihm die nasse Jacke ab. »Ally …«
»Vergiss es, ich bin verdammt nochmal nicht das Mädchen für alles. Ich werde wie eine Kellnerin bezahlt und dann mache ich auch nicht mehr.« Die brünette Frau kam mit großen Schritten aus dem Raum, aus dem zuvor der Mann gekommen war und verschwand in Richtung der Bar. Cayden konnte nicht verhindern, dass er ihr verwundert nachsah. Solch laute und vor allem unfreundliche Töne hatte er hier noch nie gehört.
»Entschuldigen Sie …« Caydens Gegenüber schien nach passenden Worten zu suchen.
»Schon okay. Ich hätte sie gerade fast umgelaufen. Vielleicht ist sie deswegen so.«
So war wahrscheinlich die einzig richtige Beschreibung für die schlechte Laune der Hotelangestellten.
»Selbst dann wäre ihr Verhalten nicht in Ordnung. Ich kümmere mich um Ihr Jackett. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Miss Shaw hat heute Nachmittag einen Tisch reserviert. Haben Sie besondere Wünsche bezüglich der Position des Tisches?« Der junge Mann überging die angesprochene schlechte Laune seiner Kollegin, legte das Jackett auf dem Tresen ab und musterte ihn. Es hatte bereits mehrere Essen gegeben und bisher hatten Cayden und seine Kollegen immer darum gebeten, keinen Platz am Fenster zu bekommen. Auch der erste Tisch am Eingang war einer der Plätze, die sie ablehnten. Zum einen war es dort sehr eng, zum anderen konnten dort viel zu viele Gäste zuhören und zu einer Gefahr für Miss Shaw werden.
»Alles wie immer.« Cayden nickte dem Mann knapp zu.
»Ich werde es weiterleiten. Falls Sie noch etwas benötigen …«
»Dann werde ich mich melden.«
2.
Allyson stellte gefrustet das Tablett ab. Nicht nur, dass sich gleich drei ihrer Kolleginnen krank gemeldet hatten. Nun musste sie den Sektempfang am anderen Ende des Hotels in einem der Konferenzzimmer gemeinsam mit einem der Köche schmeißen, der vom Servieren so viel Ahnung hatte wie sie vom Kochen. Wobei sie sich sicher war, dass sie mehr Ahnung vom Kochen hatte, als er von dem, was er nun tun musste. Nichts war so vorbereitet, wie es sollte. Nun blieb alles an ihr hängen. An sich hatte sie wenig Probleme damit, aber in den letzten Tagen wurde ihr wieder bewusst, dass sie für das, was sie tat, viel zu schlecht bezahlt wurde. Jeden Abend kümmerte sie sich darum, dass die Gäste des Restaurants wunschlos glücklich waren. Zusätzlich erledigte sie die vielen kleinen Aufgaben, die nicht in ihren eigentlichen Bereich fielen, widerspruchslos. Weil sie verlernt hatte, Nein zu sagen.
»Ally, es wäre echt …« David tauchte in ihrem Sichtfeld auf. Sein Blick war flehender als zuvor. Dass er überfordert war, war nicht zu übersehen. Einen Augenblick war sie geneigt, ihm zu sagen, dass sie das Jackett zur Reinigung bringen würde, wenn sie irgendwann Zeit hätte. Im Augenblick konnte sie hier sowieso nicht weg.
»David, ich habe dir gerade schon gesagt, dass ich es nicht mache. Ich bin nicht euer Mädchen für alles.« Ohne ihn anzuschauen, griff sie sich einen Karton Sekt. »Du kannst aber gerne die Gläser spülen. Dann hab ich vielleicht heute Nachmittag Zeit, um das Teil in die Reinigung zu bringen.« Ihr tat ihre Tonart dem jungen Mann gegenüber nur kurz leid. Alle nutzten ihre Gutmütigkeit in den letzten Tagen noch schamloser aus als sonst.
»Ally, bitte, Sophie kommt erst in einer Stunde.« Nervös wanderte Davids Blick zur Rezeption. »Ich kann doch nichts dafür, wenn alle Magen-Darm bekommen.«
»Dann bete, dass unsere Gäste verschont bleiben, sonst ist ein Jackett dein kleinstes Problem.« Sie wandte sich von ihrem Kollegen ab und machte sich zurück auf den Weg zum Konferenzzimmer, wo der Empfang dem Ende zuging und die Gäste sich in den nächsten Stunden an bereitgestellten Getränken selbst bedienen würden. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass sie eine Bitte abgeschlagen hatte. Es fühlte sich nicht, wie sie befürchtet hatte, schlecht an, sondern sogar gut. Sie spürte endlich mal keinen Druck, der sonst entstand, weil sie eine weitere Aufgabe so erfüllen musste, damit noch jemand mit ihr zufrieden war. Heute musste sie nur Gläser spülen, Bestellungen annehmen und diese an die Tische bringen. Hoffend, dass der Tag im Restaurant ruhig bleiben würde, war sie zurück zum Konferenzzimmer gehastet, in dem ein Autohaus zu einer Versammlung geladen hatte. Ihr Herz setzte aus, als sie ihren Kollegen am Boden hockend Scherben aufsammeln sah. Das Getuschel der Umstehenden ignorierte sie, als sie ihm zur Hilfe eilte. Den Kommentar, ob sie ihn nicht einmal ein paar Minuten alleine lassen konnte, hinunterschluckend, beugte sie sich zu ihm und entdeckte seinen blutenden Zeigefinger. Einen leisen Fluch ausstoßend sprach sie ihn an.
»Geh bitte deinen Finger verbinden. Ich räume das hier auf.« Dass ihr schlecht wurde, weil sie kein Blut sehen konnte, versuchte sie zu verdrängen. Es war schlimm genug, dass Scherben auf dem Boden lagen, Blutflecken nun den Teppich zierten und alle Blicke auf sie gerichtet waren. Sie war sich sicher, dieser Tag konnte nur noch schlechter werden. Schließlich war er noch lange nicht zu Ende. Ihr Kollege erhob sich. Eine Serviette um seinen blutenden Finger gepresst nickte er ihr kurz zu, während er ihren Zuschauern eine Entschuldigung zu murmelte. Allyson bemühte sich, nicht auf die Menschen zu achten, die sich nun wieder anderen Dingen widmeten, als sie die Scherben auflas.
Erst eine Stunde später begab sie sich wieder zur Bar. Die letzten Glassplitter hatte eine Putzfrau aufgesaugt, sie hatte die Sektflaschen in den Kühlschrank geräumt und ein weiteres Mal die Getränke gerichtet. An der Bar war kein Licht angeschaltet, und sie konnte ihren Kollegen, der eigentlich schon hier sein müsste, nirgendwo entdecken. Wieder schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass es schlimmer ging. Sich ein Glas Wasser einschenkend musterte sie die Getränkekartons, die irgendwann während ihrer Abwesenheit angekommen sein mussten. Sie begann, einen Plan für sich zu entwerfen. Sie würde eine Aufgabe nach der anderen erledigen. Zwischendurch würde sie die Gäste bedienen. Dabei war ihr Platz heute eigentlich nicht die Bar. Eigentlich sollte sie Bestellungen aufnehmen, die vorbereiteten Getränke dann an die Tische bringen, kassieren und immer freundlich lächeln, in der Hoffnung, dass die Kunden ein üppiges Trinkgeld gaben. Das musste sie sich leider am Ende des Monats mit ihren Kollegen, die teilweise längst nicht so viele Stunden wie sie hier arbeiteten, teilen. Sie bemerkte im Augenwinkel, dass im Hinterzimmer Licht aufflammte.
»Hey, Ally, entschuldige, auf den Straßen ist die Hölle los.« Glenn tauchte hinter ihr auf und betätigte weitere Lichtschalter. Erst jetzt zog ihr der Duft aus der Küche in die Nase und ihr fiel der genervte Ausdruck ihres Kollegen auf. »Dann müssen wir das wohl alleine rocken heute.«
»Sieht so aus, aber bisher sind es nur ein paar Reservierungen.« Allyson hatte schon vor einigen Stunden in das Buch geschaut, in dem sie die reservierten Plätze notierten. Es war unter der Woche meist wenig los. Die Hotelgäste waren oft die einzigen, die hier speisten.
»Dann hoffen wir mal das Beste.« Er schenkte ihr ein knappes Lächeln und begann, Gläser zu verräumen. »Und wie läuft es sonst so?«
Sie schluckte. Glenns Frage stach ihr unerwartet ins Herz. Er stellte sie jeden Tag und genauso oft musste sie sich zu einer Notlüge zwingen. »Gut«, brachte sie hervor, schnappte sich einen Karton mit Spirituosen, die nicht mehr in die Regale passten, und verschwand in einem Nebenraum. Urplötzlich hatte sich ein unerträglicher Druck auf sie gelegt. Sie rang mit dem Tränen, während sie hoffte, dass Glenn ihr nicht folgte, und begann, die Flaschen in ein Regal zu räumen. Sechs Stück. Einige Minuten, um sich zu sammeln. Die Pappe zusammenfaltend und mit dem Handrücken schnell die Spuren beseitigend, die die drohenden Tränen gezeichnet haben könnten.
»Oh, Santa kommt. Hat sie wieder einen Tisch reserviert?«
Ehe Allyson Glenn antworten konnte, hörte sie, wie ihr Kollege in dem Buch blätterte. Ja, Miss Shaw hatte ihren Stammtisch reservieren lassen und ihre Wachhunde würden einmal mehr den ganzen Abend in der Nähe des Tisches im Weg stehen. Dass sie einem der Männer heute schon in die Arme gelaufen war – nein, Moment sie war ihm nicht in die Arme gelaufen, er hatte ihr im Weg gestanden, weil er nicht hingeschaut hatte, wo er hinging – verschwieg sie, als sie wieder hinter den Tresen trat.
»Na klasse. Hauptsache sie machen sich nicht so breit.« Glenns Murmeln ließ sie schmunzeln. Es wurde Zeit, dass die Frau ihre Koffer nahm und verschwand. Sie konnte High Society Kunden nicht leiden, wenn sie sich derart aufspielten. Bodyguards, kein Trinkgeld und Angestellte von oben herab behandeln, sowas mochte sie nicht. Sie stieß ein Schnauben aus und begann, Besteck in Servietten zu rollen. Auch wenn diese Männer oft von den weiblichen Gästen angeschmachtet wurden, empfand Allyson ihre Anwesenheit als störend. Nur zeigen durfte sie das nicht. Das Klingeln ihres Handys riss sie kurz aus ihren Gedanken. Eine Nachricht. Sie weigerte sich, sie zu lesen. Ihr Mann hatte ihr geschrieben, sie hatte es schon am Klingelton gehört. Wahrscheinlich wollte er etwas wissen oder sie sollte ihm etwas mitbringen. Vielleicht wollte er in Erfahrung bringen, wann sie Feierabend hatte oder wo etwas lag. Oder die Cola war aufgebraucht oder es war etwas ganz anderes. Diese Dinge könnte er ohne Probleme selbst erledigen. Er war schließlich erwachsen. Der nächste Walmart war nur einen knappen Kilometer von ihnen entfernt und zu Fuß besser zu erreichen als mit dem Auto, da der Parkplatz immer überfüllt war. Und doch, obwohl sie es nicht wollte, griff sie kurz nach ihrem Handy, welches sie in der Gesäßtasche ihrer Hose trug, und entsperrte den Bildschirm. Es war, wie sie geahnt hatte. Er wollte wissen, wann sie heute Schluss machen konnte und ob sie auf dem Rückweg Zigaretten mitbringen konnte. Tief einatmend schaltete sie das Handy aus.
»Alles okay?« Glenn musterte sie prüfend.
»Ja.« Nickend wollte sie sich wieder auf ihre Arbeit konzentrieren, aber die Nachricht und ihr Mann gingen ihr nicht aus dem Kopf. Wie so oft, wenn solche Textnachrichten kamen. Es war seit Jahren so. Dabei könnte alles so einfach sein. Sie könnte ausziehen oder Raul vor die Tür setzen. Aber beide Varianten machten ihr Angst. Sollte sie ausziehen, würde ihre Familie ihr Vorwürfe machen, weil ja immer alle gesagt hatten, dass sie diesem Mann nicht trauen konnte. Sie hatten ihr vorausgesagt, dass sie an seiner Seite unglücklich werden würde. Außerdem würden dann sicher alle erwarten, dass sie die Schulden, die sie gemeinsam bei ihren Angehörigen gemacht hatten, alleine zurückzahlen würde. Dass würde jedoch ewig dauern und sie müsste eine Ewigkeit bei ihrer Familie wohnen, die sie tagtäglich mit Vorwürfen bombardieren würde. Sollte sie ihn vor die Tür setzen, rechnete sie damit, dass er seine brutale Art nicht mehr kontrollieren könnte. Die, mit der sie sich schon jetzt hin und wieder konfrontiert sah. Auch wenn er sie bisher nur verbal angegangen war, fürchtete sie, dass sich das ändern würde, sollte sie ihn rauswerfen. Davon abgesehen hatte sie keine Idee, wie sie es anstellen sollte. Sie war ein riesengroßer Feigling. Ein Ja-Sager. Die wenigen Freunde, die sie gehabt hatte, hatten sich alle aufgrund seiner Art von ihr abgewandt und sie hatte es viel zu spät bemerkt. Sie hatte sich in den Badboy verliebt. Den Mann, der sie in den Bars beschützt hatte und der sie für sich alleine hatte haben wollen. Dass er sie auf diese Weise von ihren Freunden isoliert hatte, hatte sie erst vor kurzem realisiert. Es war ein schleichender Prozess gewesen. Einer, der sich viele Jahre hingezogen hatte. Sie hatte sich immer weiter von ihm abhängig machen lassen. Nicht zuletzt mit dem Kauf des Hauses. Über einen kurzen Zeitraum hatten sie Geld angespart. Das war eine Zeit gewesen, in der Allyson gedacht hatte, dass er sich ändern würde. Dass alles gut werden würde. Ein eigenes Haus, eine eigene Familie … aber es war leider alles anders gekommen. Er hatte seinen Job geschmissen und nun musste sie irgendwie genug verdienen, damit sie über die Runden kamen. Allerdings gelang es ihr nicht. Sie drehten sich immer weiter in die Schuldenfalle der Bank. Vielleicht sollte sie einfach verschwinden. Diesen Gedanken hegte sie schon eine Weile, dann tauchten die Punkte auf, die sie hinderten. Ihre Familie würde sie suchen lassen und wenn sie nicht arbeiten ging, hätte sie kein Geld und konnte sich kein Dach über dem Kopf leisten. Die Möglichkeit, einen anderen Job zu finden, hatte sie nur kurz in Erwägung gezogen. Sie befürchtete, dass sie keine Stelle bekommen würde. Schon gar nicht so spontan, wie sie es sich vorstellte. Also musste sie einen anderen Weg suchen – irgendwann.
»Nimmst du die Bestellungen auf?« Glenn riss sie aus ihren Grübeleien. Dass erste Gäste Platz genommen hatten, hatte sie nicht einmal bemerkt. Auch dass das Besteck, welches sie in einen Korb gelegt hatte, nun sicher drei Tage reichen würde, war völlig an ihr vorbeigegangen.
3.
»Mister Tremblay, ich würde es begrüßen, wenn Sie mir heute nicht ständig auf den Teller schauen.« Miss Shaw hob kurz den Blick und sah zu Duncan, der ihr den Stuhl zurechtgerückt hatte. Diese Freundlichkeiten gehörten zwar nicht zu ihrer eigentlichen Aufgabe, aber Duncan bezeichnete sie als Service am Kunden. Und nur er war in der Lage, ihre Kundin dabei anzulächeln. Cayden ließ derweil seine Aufmerksamkeit über das fast leere Restaurant wandern. Nur drei weitere Tische waren besetzt. An einem nahm die Bedienung gerade die Bestellung auf, an einem anderen wurde die Speisekarte gelesen und am dritten saß ein einzelner Mann mit einem Glas Wein.
Der Herr, der sich mit ihrer Klientin verabredet hatte, verspätete sich. Cayden rückte seinen In-Ear-Kopfhörer zurecht und musterte kurz Duncan, der einige Schritte zurückgetreten war. Das würde ein verdammt langweiliger Abend werden.
»Hier haben auch schon mal mehr Leute gearbeitet, oder?« Duncans Bemerkung erreichte ihn nur leise über den Ohrstecker.
»Hoher Krankenstand wurde mir heute gesagt«, kommentierte Cayden und beobachtete, wie die Bedienung, die er heute um ein Haar umgerannt hatte, mit großen Schritten zum Tresen eilte, den Barkeeper ansprach, und dann nach wenigen Worten wieder zum Tisch zurücklief. Was auch immer sie dem Paar mitteile, es schien den Gästen nicht zu gefallen. Das Gespräch dauerte einige Minuten, ehe die Kellnerin sich erneut auf den Weg zum Tresen machte. Dort stehend drehte sie sich, ihn kurz anschauend, um.
»Mit der ist heute nicht gut Kirschen essen.« Duncans Kommentar ließ Cayden fragend die Augenbraue heben, was sein Kollege jedoch gar nicht sehen konnte, da Cayden mit dem Rücken zu ihm stand.
»Mit wem?« Cayden war sich nicht sicher, wen Duncan meinte, da Miss Shaw zwar bei seiner Ankunft etwas seltsam gewesen war, sich aber nun wieder professionell wie immer verhielt.
»Die Bedienung«, erklärte Duncan. »Ich glaub, Modrzik ist da.«
Der zweite Satz seines Kollegen ließ Cayden endlich den Blick von der Kellnerin lösen, die immer noch am Tresen wartete. Ein Mann Anfang dreißig mit elegantem Anzug und raspelkurzen Haaren stand in Begleitung von zwei älteren Männern in dunklen Anzügen an der Rezeption. Es dauerte nur wenige Minuten, ehe sich die Gruppe auf den Weg zu ihnen machte. Der kleinere der beiden Bodyguards kam auf Cayden zu.
»Mister Harrison nehme ich an.« Er reichte ihm ohne weitere Worte die Hand.
»Ja, und mit wem habe ich das Vergnügen?« Im Augenwinkel beobachtete er, wie Miss Shaw sich erhob und dem jungen Mann freudestrahlend die Hand reichte.
»Smith. Ich und mein Kollege begleiten Mister Modrzik.«
»Dann hoffen wir auf einen ruhigen Abend.« Cayden hatte seinen Griff bereits wieder gelöst. Miss Shaw hatte sich den Stuhl von ihrem Gast zurechtrücken lassen und saß flirtend mit dem jungen Mann am Tisch.
Über Stunden passierte nichts. Cayden stand sich wie Duncan und die zwei Bodyguards die Beine in den Bauch, bis ein Streit an einem anderen Tisch seine Aufmerksamkeit weckte. Der Mann, der seit Stunden alleine am Tisch saß, Wein getrunken und ein fünf Gänge Menü verspeist hatte, fuhr die Bedienung an, die versuchte, den Gast zu beruhigen. Cayden warf einen kurzen Blick zu Duncan, ehe er einige Schritte in Richtung des Tisches machte, um verstehen zu können, um was es ging und ob dieser Mann eine Gefahr darstellte.
»Gute Frau, es ist mir völlig egal, ob Sie hier alleine arbeiten oder nicht, ich werde nicht den vollen Preis zahlen. Jeder Gang kam mit reichlicher Verspätung und der Wein war nicht wie versprochen lieblich«, fuhr er die brünette Bedienung an.
»Entschuldigen Sie die Wartezeiten, aber ich kann Ihnen deswegen keinen Rabatt berechnen. Wir müssen die Gerichte auch erst kochen. Hier wird alles frisch zubereitet. Was den Wein angeht, wir können Ihnen nur das sagen, was auf den Flaschen steht. Es tut mir leid, wenn er Ihnen nicht geschmeckt hat, aber dass hätten Sie mir schon nach dem ersten Schluck sagen können. Dann hätte ich die Flasche getauscht.« Sie blieb erstaunlich ruhig, während der Gast bereits rote Wangen bekam.
»Ich möchte Ihren Vorgesetzten sprechen.«
»Das geht leider nicht. Der ist nicht hier. Er ist krank.« Immer noch hatte sie ein Lächeln auf den Lippen. Allerdings war Cayden davon überzeugt, dass es nicht echt war.
»Sie werden doch irgendjemanden hier haben, der Ahnung von dem hat, was er tut. Es kann doch nicht sein, dass Sie hier mit keinerlei Qualifikationen Gäste bedienen«, ranzte der Mann die Frau nun an.
»Ich kann gerne meinen Kollegen dazu holen, der kann Ihnen unsere Weinkarte und Getränke im Allgemeinen erläutern.« Sie wartete ein Nicken des Gastes ab, der nun bemerkt hatte, dass er von Cayden beobachtet wurde.
»Snipes, misch dich da nicht ein.« Duncans Worte kamen leise über sein Headset bei ihm an.
»Habe ich nicht vor, wenn er sitzen bleibt«, brummte Cayden. Er hatte sich in den Kopf gesetzt den Mann daran zu hindern, einfach zu gehen oder die Bedienung anzugreifen. Immer noch blickte der Mann ihn an. Die Kellnerin war zur Bar verschwunden und sprach dort mit ihrem Kollegen, der bereits nach wenigen Worten konzentriert den Gast musterte, ehe er nickte.
Schließlich kam der Barkeeper an den Tisch.
»Meine Kollegin berichtet gerade, dass Sie ein Problem mit der Rechnung haben. Kann ich Ihnen weiterhelfen?«
Auch der Mann blieb in den folgenden Minuten professionell ruhig und musste sich die gleichen Vorwürfe anhören wie die Kellnerin, die nun am Tresen stand und das Schauspiel aus der Distanz beobachtete. Es folgten die gleichen Sätze wie zuvor, allerdings gelang es der männlichen Bedienung, den Gast dazu zu bewegen, seine Rechnung zu begleichen. Mit dem Angebot, er könne in zwei Tagen wieder kommen, der Chef würde sich dann Zeit für ihn nehmen, verschwand der Gast. Jedoch nicht, ohne der Frau an der Bar nochmals einen erbosten Blick zu zuwerfen.
Das Dinner zog sich extrem in die Länge und Cayden musste gleich mehrere Nachrichten an Samira schicken, in denen er ihr mitteilte, dass er sich verspäten würde. Allerdings verspätete sich noch jemand. Collin. Er hatte sich im Laufe des Abends gemeldet, dass er weit später als abgemacht vor Ort sein würde, die Gründe hatte er jedoch nicht mitgeteilt. Als Miss Shaw sich endlich erhob, tauchte Collin auf. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen und steuerte direkt auf Cayden zu. Befürchtend, dass Collin um einen freien Tag bitten würde, sah er ihm entgegen.
»Sorry, der Kleine bekommt einen Backenzahn, schlafen ist im Moment echt nicht drin. Wir sind zu dritt auf dem Sofa eingepennt und viel zu spät wach geworden. Gibt es was, was ich wissen muss?« Collin ging direkt zu dem über, was für ihn für die nächsten Stunden wichtig wäre. Seinen Blick hatte er kurz auf die beiden fremden Bodyguards gerichtet, die ihm zugenickt hatten.
»Alles ruhig. Die gehören zu Modrzik, sind aber okay. Wenn du Duncan später nicht mehr hier brauchst, kann er ja fahren. Dann kannst du morgen am Tage wieder versuchen zu schlafen. Vielleicht ist bis dahin der Zahn ja raus. Und was das pünktlich sein angeht, sind wir ja nun quitt.« Grinsend klopfte Cayden seinem Kollegen auf die Schulter.