Team IATF 15

Gefangen in der Wüste Leseprobe

1.

Es war zum Verrücktwerden. Das war nun die dritte Nacht in Folge, in der Mike Lutrell auf der Terrasse des Farmhauses seiner Eltern in Texas saß und die Sterne anstarrte, unfähig zu schlafen. Immer wieder waren es die gleichen Träume, die gleichen grellen Stimmen, die ihn schreiend aus dem Schlaf rissen, wenn er sich hingelegt hatte. Und jedes Mal machte er die gleiche Feststellung: Da war niemand, der schrie. Und auch das Gewehrfeuer und die Detonationen waren ebenso irreal, wie das Beben des Bodens unter seinen Füßen. Auch der Staub, der sich scheinbar so real auf seine Lunge legte, dass er schon hustend aufgewacht war, war Einbildung. Ein Trugbild seiner Ver-gangenheit, das ihn immer wieder heimsuchte. 

Hier draußen war er soweit vom Terror weg, wie man es nur sein konnte. San Angelo mit seinen knapp neunzigtausend Einwohnern war eine halbe Stunde entfernt und abgesehen davon, dass Hurrikans sie meist nur als tropische Stürme erreichten, gab es nichts wirklich Gefährliches für die große Farm seiner Familie. Neben seinen Eltern lebten fünfzehn Männer hier, die fast den ganzen Tag auf den Pferden unterwegs waren, um die Rinder im Auge zu behalten, die hier auf knappe dreihundert Kilo gezüchtet wurden, um dann in die Feedlots weiterverkauft zu werden. Hier erlebten die Tiere die einzige Zeit ihres Lebens in fast völliger Freiheit. Was ihnen blühte, wenn sie hier zusammengetrieben und auf LKW verladen wurden, war das, was alle als Massentierhaltung bezeichneten. Und doch wollten es nur wenige ändern. Billig musste es sein, die Umstände dafür waren egal. 

Die Farm seiner Familie war eine von wenigen, die Rinder noch auf Weiden aufzogen. 

Mike selbst war zwar in der Lage zu reiten, aber es war Jahre her, dass er das letzte Mal einen Viehtrack begleitet hatte. Dazu kam, dass er wenig Lust hatte, die Farm zu übernehmen. Allerdings würde ihm kaum etwas anderes übrig bleiben. Er war der einzige Sohn, sogar das einzige Kind seiner Eltern. Wenn er jedoch seinen Vater betrachtete, wusste er, dass er wenig Zeit auf Pferden oder bei den Rindern verbringen müsste. Diese Arbeit machten ihre Cowboys. Sein Vater hatte nur dafür zu sorgen, dass die Männer bezahlt und die Tiere verkauft wurden, und dass immer genügend Futter da war. Das wäre eine Aufgabe, die er erledigen könnte, nur sah er sich im Augenblick nicht als Farmer. Was er jedoch war, wusste er selbst nicht genau.

Ein lautes Poltern ließ ihn aufspringen. Seinen rasenden Herzschlag konnte er nur schwer kontrollieren. Er rief sich zur Ordnung: Hier war nichts, was ihm gefährlich werden konnte. Mit geschlossenen Augen horchte er in die Dunkelheit, grübelnd, was um drei Uhr in der Nacht einen solchen Lärm verursachte. Nur Sekunden später war es wieder da. Ein metallisches Geräusch, das sich wiederholte. Es fiel Mike schwer, sich klar zu machen, dass es keine Terroristen waren, die sich irgendwo in den Gebäuden oder auf dem Grundstück versteckten. Aber was war es und warum reagierte sonst niemand? Der Lärm war doch nicht zu überhören. Mike stand auf und trat von der Terrasse auf den trockenen Weg vor dem Haus. Am Tage konnte man die Weiden sehen, auf denen langsam das Gras verdorrte, da der Regen ausblieb. Ein Stück weiter grünte es hingegen, weil eine Bewässerungsanlage dafür sorgte, dass der Mais für die Rinder weiterwachsen konnte. Jetzt blickte er in die Dunkelheit und konnte die Felder nur erahnen. Er musste sich immer wieder daran erinnern, dass es die Dämonen seiner Vergangenheit waren, die ihm gerade eiskalte Schauer über den Rücken jagten.

Während er weiterging, konnte er immer wieder das Scheppern vernehmen. Es kam aus Richtung der Gatter, in denen sonst Tiere zusammengetrieben wurden. Hier lief es wirklich noch wie im Wilden Westen der Filme. Die jungen Tiere bekamen Brandzeichen, damit man sie später von denen anderer Farmer unterscheiden konnte. Auch für medizinische Behandlungen wurden die Tiere hier zusammengepfercht. Dann lag über dem ganzen Areal eine Staubwolke, da die Tiere den trockenen Boden in die Luft wirbelten. Oder sie hinterließen eine riesige Schlammwüste, wenn es Tage zuvor geregnet hatte. Aber das kam selten vor. Meist war es der Staub, der sich störend auf die Bronchien aller legte und sogar bei den Tieren für Hustenreiz sorgte. 

Als er näherkam, erkannte er im Dunkeln den Grund für den Lärm. Ein massiges Longhorn-Rind hämmerte immer wieder mit den Hörnern gegen das Metallgatter. Grübelnd, ob er weitergehen oder sich auf die Terrasse setzen sollte, beobachtete er das Schauspiel eine Weile. Es war ein tonnenschwerer muskelbepackter Bulle, den er im Schein des Mondes erkennen konnte, der ganz und gar nicht mit seiner Unterbringung einverstanden war. Wahrscheinlich konnte er die Kühe riechen, die sich irgendwo in der Nähe befanden. 

»Weg von dem Bullen!« 

Mike drehte sich interessiert um, als er die Worte vernahm. Mit einem Grinsen entdeckte er Dustin, der sich ihm von hinten genähert hatte. Der Mann Mitte fünfzig gehörte mehr oder minder zum Inventar der Ranch und war schon lange die rechte Hand seines Vaters. 

»Ich hab nicht vor, ihn mitzunehmen.« Mike wartete darauf, dass Dustin ihn erreicht hatte. 

»Was machst du hier? Ich dachte, du schläfst. Und seit wann näherst du dich den Rindern freiwillig?« Dustin kam näher und blieb kopfschüttelnd neben Mike stehen, während sein Blick auf dem tobenden Bullen lag. »Ich hab noch zu deinem Vater gesagt, er soll kein Vieh im Internet kaufen. Sein Aussehen ist prima, aber ich glaube, mit dem bekommen wir noch Ärger. Der taugt höchstens was auf ´nem Burger. Wobei es mich nicht wundern würde, wenn die in den Papieren rumgepfuscht haben und das Biest schon steinalt und zäh ist.« Dustin sprach einfach weiter.

»Kann man die Viecher echt im Internet kaufen?« Mike legte den Kopf prüfend zur Seite. Er konnte sich noch an die Zeiten erinnern, in denen er mit seinem Vater zu den Auktionen gefahren war, um dort die Zuchtbullen zu ersteigern. Aber das war weit vor seinem sechzehnten Geburtstag gewesen.

»Jo, kann man. Wie Gebrauchtwagen. Aber die fährst du ja auch erst Probe. Also, was machst du hier? Füttern wohl kaum.« Nun war es der einssechzig kleine, füllige Mann der Mike musterte. 

»Schlafen liegt mir nicht so.« Auf keinen Fall wollte er dem Vorarbeiter seines Vaters von seinen Schlafstörungen erzählen. Auch wenn sein Vater von seinen Problemen wusste, hatte er keine Lust, sich eine Analyse seiner Schlafgewohnheiten von Dustin anzuhören. 

»Ich hab deinem alten Herren noch gesagt, dass keiner, der von da unten wiederkommt, noch normal ist. Du warst zu lange weg.« 

»Ach, meinst du, ich bin nicht normal? Nur weil ich immer noch keine Lust habe, hier Rinder zu treiben? Du kennst mich lange genug und weißt, dass mir das einfach nicht liegt.« Mike biss sich nach seiner Erklärung auf die Zunge. Er hätte es so nicht sagen dürfen. Dustin würde jedes seiner Worte auf die Goldwaage legen und wahrscheinlich auch seinem Vater davon erzählen. Dann würde es wieder tagelange Debatten um die Zukunft der Ranch geben und er würde ihm wieder erklären müssen, dass er die Ranch weiter führen würde, auch wenn ihm das Herzblut dafür fehlte. Dafür, dass er das machen wollte, gab es eigentlich nur zwei Gründe. Für die Ehre seiner Familie, weil man einen Betrieb, wie sie ihn aufgebaut hatten, nicht einfach aufgab, und weil er einfach nicht wusste, was er mit seinem Leben nun anfangen sollte. Er wollte nicht der Schuldige sein, weswegen die Ranch verkauft werden müsste. Wer jedoch nach ihm das Anwesen übernehmen sollte, wusste er nicht. Hier draußen eine Frau kennenzulernen war schwer. Dazu müsste er dann doch nach San Angelo fahren. Es war unwahrscheinlich, dass eines Tages eine Frau hier auftauchte, die nach mehr suchte als einem Dutzend Zuchtkühe für die Ranch ihres Mannes.

»Du kannst mir nicht erzählen, dass die ganzen Jahre, die du da unten warst, spurlos an dir vorbei gegangen sind.« Dustin war wieder auf den Bullen konzentriert, der seine Randale eingestellt hatte und sie nun beobachtete, vielleicht hoffte er darauf, durch das Gatter gelassen zu werden. 

»Genau das will ich. Es mag einen verändern, aber es heißt nicht, dass alle, die zurückkommen, einen psychischen Schaden davongetragen haben.« 

Dustin stieß ungläubig die Luft aus. 

Mike war nur selten hier gewesen in der Zeit, in der er gedient hatte. Die Urlaube hier waren außerdem immer nur kurz ausgefallen, da er seine Zeit hin und wieder auch in Coronado und Little Creek mit Kollegen verbracht hatte. Dann hatte seine Mutter ihn immer damit aufgezogen, dass er ja mehr als ausreichend Zeit unter Soldaten war und er seinen Urlaub lieber mit der Familie verbringen sollte. Allerdings hatte er diese Freizeit oft tatsächlich auch als Arbeitszeit genutzt. Er hatte nach Männern Ausschau gehalten, die er vor Ort zum Aufbau einiger Teams rekrutieren konnte. Wirklich abgeschaltet hatte er in seinem Urlaub nie. Wohl genau deswegen fühlte es sich jetzt an, als hätte man ihn von hundert auf null ausgebremst. Aber er hatte sich selbst für das Ausbremsen entschieden.

»Und mein Vater sollte sich keine Gedanken machen. Er ist über achtzig und sollte wissen, dass er mir die Geschäfte hier in die Hand geben kann.«

»Theoretisch magst du das ja können, aber praktisch zweifle ich da mal dran. Und jetzt geh ich wieder rein. Im Gegensatz zu dir muss ich in ein paar Stunden wieder los. Sag Deinem Vater, er soll das Vieh zu seinen Kühen lassen, sonst spießt er uns womöglich noch die Pferde auf. Dann landet er schneller auf dem Grill, als er schnaufen kann.« Dustin wandte sich zum Gehen ab. 

Mike brummte zustimmend, entschloss sich aber, zu warten, bis Dustin verschwunden war. Wenn er nun neben ihm Richtung Haus gehen würde, würde der Vorarbeiter wieder das Gespräch suchen und dazu hatte Mike in diesem Moment keine Lust. Er wollte heute Nacht keine weiteren Gespräche bezüglich seiner Fähigkeit, eine Ranch zu leiten, führen. Er hatte jahrelang das Oberkommando einer Militärbasis innegehabt, da würde er doch wohl früher oder später in der Lage sein, fünfzehn Mitarbeiter und ein paar tausend Rinder zu leiten. So groß konnte der Unterschied ja nicht sein. Rindviecher auf zwei Beinen waren ihm immer wieder untergekommen. 

Einen Moment beobachtete er den Bullen noch, dem die Kraft nicht auszugehen schien und der mittlerweile wieder das Gatter mit seinen Hörnern bearbeitete, ehe er sich wieder auf den Weg zur Terrasse machte. Das metallische Klirren, wenn die Hörner gegen die Metallstreben schlugen, ließ er hinter sich. 

Eigentlich könnte er hier ein ruhiges Leben führen. Fernab von Terror und allem, was ihn in den letzten Jahren beschäftigt und geprägt hatte. Aber ruhig zu sein war etwas, mit dem er nicht klarkam. Er konnte nicht nur ständig rumsitzen. Dass niemand kam und etwas von ihm wissen wollte, störte ihn. Auch der Umstand, dass er das Adrenalin nicht spüren konnte, welches sich jeden Tag zu einem gewissen Pegel in sein Blut gemischt hatte, stieß ihm auf. Es hatte keinen Tag gegeben, an dem er es früher nicht bemerkt hatte. Mal mehr, wenn es zu akuten Bedrohungen gekommen war, dann wieder weniger, wenn die Lage unter Kontrolle war. Aber immer war es da gewesen. Als würde man unter Strom stehen. Nicht so viel, dass es ihn immer aufputschte, aber so viel, dass man es spüren konnte. Nun war dieses Gefühl weg. Hier gab es rein gar nichts, was dieses Kribbeln auslösen konnte. Nicht mal dieser bescheuerte Bulle hatte es wirklich geschafft. Das Poltern hatte ihm nur einen winzigen Adrenalinschub versetzt. Vergleichbar mit dem Stromschlag, wenn man sich statisch aufgeladen hatte. Ein kurzer Kick und dann war es wieder vorbei. 

Als er die Terrasse erreichte, setzte er sich in den alten Holzstuhl, auf dem wohl schon viele Generationen seiner Familie gesessen hatten, denn er konnte sich nicht daran erinnern, dass er jemals nicht hier gestanden hatte. Es gab Bilder aus der Jugend seiner Großeltern, auf denen dieser Stuhl zu sehen war. Nun saß er selber als erwachsener Mann hier, starrte in die Dunkelheit und wartete auf irgendetwas. Seine Großeltern hatten noch Angst vor Viehdieben gehabt und deswegen hier Wache geschoben. Heute gab es diese Diebe auch noch, aber keiner blieb mehr wegen ihnen die Nacht über auf. Es gab Videokameras, die jeden filmten, der das Gelände betrat. Was jedoch draußen auf den Weiden passierte, wusste niemand genau. 

Sollte das nun sein Alltag sein? Hier sitzen und in die Nacht starren? Gefrustet griff er nach seinem Handy, das auf dem kleinen Tisch neben dem Stuhl lag. Scheinbar hatte er vergessen, es vor dem Schlafengehen mit hinein zu nehmen. Auch seine Bierdose stand noch vom Abend dort. Mit der einen Hand im Netz surfend und mit der anderen immer wieder die Dose zum Mund führend, damit er sie leeren konnte, verstrich die Zeit quälend langsam. Fast wie in Bagram. Dort hatten sich Nächte auch oft unendlich angefühlt. 

Diese Beschreibung der Finsternis im Hindukusch hatte er oft von Soldaten erhalten, die den Dienst quittiert hatten. Es gab einen Unterschied zwischen der Dunkelheit, die viele Menschen kannten und der dort. Wenn man in der Stadt aufgewachsen war, kannte man die Schwärze der Nacht nicht. Irgendwo gab es immer eine Lichtquelle. Straßenlaternen, die Werbebeleuchtung der Geschäfte, die Lichter, die aus den Häusern fielen. Völlige Dunkelheit war für viele ein Fremdwort. Aber im Hindukusch, weitab von der Base, gab es sie. Die Nächte, in denen die Sterne das einzige waren, was Licht spendete. Und dieses Licht war oft nicht ausreichend, um Gefahren zu erkennen. Genau das machte einige mürbe.

Über eine Stunde surfte er durchs Netz. Die ersten Sonnenstrahlen stahlen sich schon hervor, als er sich in sein Emailfach einloggte und eine Mail von einem ehemaligen Kollegen entdeckte, der gemeinsam mit anderen Veteranen Hilfslieferungen in Krisengebiete organisierte. Mike bekam diese Mails schon seit Jahren und hatte bei Lieferungen nach Afghanistan immer dafür gesorgt, dass diese von seinen Männern beschützt wurden. Dieses Mal war es ein Transport in den Jemen, für den Reginald Peck um Unterstützung bat. Es sollten neben Kleidung und Lebensmittel, große Mengen Medikamente nach Sanaa und von dort in kleinere Ortschaften gebracht werden. Peck war auf der Suche nach Sponsoren und Helfern. 

Je länger Mike die Mail ansah, desto sicherer war er sich, dass er dem ehemaligen besten Freund seines Ausbilders auf die Zeilen antworten wollte. Finanziell konnte er zwar nicht helfen, aber er könnte nach Sponsoren Ausschau halten und vielleicht mitfliegen, und den Transport mit organisieren. 

2.

Liv strich sich über die Augenlider und musterte nur wenig später erneut die Zeilen auf dem Bildschirm ihres Rechners. Nein, das war es nicht. Somit war wieder eine Spur im Sande verlaufen und eine Woche Arbeit war umsonst. Sie schloss das Dokument und starrte auf das Display. In den letzten vier Wochen hatte sie nicht einen brauchbaren Hinweis auf die Sprengstoffwesten von Milazim gefunden. Immer wieder musste sie schon am PC feststellen, dass die Informationen, die sie hatten, falsch waren. Nach und nach tauchten Ungereimtheiten auf, bis sie sich schließlich sicher war, dass ihre Spur eine Niete war. Es gab einfach keine handfesten Beweise und sie konnte schlecht jeden, der auch nur für eine Sekunde im Verdacht gestanden hatte, verhören. Im Augenblick fühlte es sich an, als wären die Westen spurlos verschwunden. Dabei war sie sicher, dass es noch mehr von ihnen gab. Nur wo, wusste sie nicht. Die Befürchtung, dass sie das wo erst klären konnte, wenn eine zum Einsatz gekommen war, nagte jeden Tag an ihr. Vielleicht trug sie dann eine Teilschuld, weil sie die falsche Spur verfolgt hatte. Nur, wo zum Teufel war die Richtige? 

Den Blick auf die Uhr am Bildschirm wendend, stöhnte sie auf. Es war weit nach Mitternacht und eigentlich hätte sie bereits vor sechs Stunden zu Hause sein wollen. Aber da Jamain sich bisher nicht gemeldet hatte, musste sie davon ausgehen, dass er ebenfalls nicht zu Hause war und sie auch diese Nacht alleine verbringen würde. Womöglich war das der Grund, warum sie noch hier saß. Vielleicht wollte sie einfach nicht alleine im Haus sein. Dort einsam vor dem Fernseher und am Küchentisch zu sitzen, mochte sie nicht. Da konnte sie die ruhigen Stunden hier in der Base auch nutzen, um Spuren nachzugehen oder neue zu suchen. Jetzt, wo die Teammitglieder der IATF in den Betten lagen, herrschte hier eine angenehme Stille. Am Tage war es manchmal schwer, hier zu arbeiten. Dann liefen ihre Kollegen teils brüllend über die Flure, und das Arbeitsklima war ein ganz anderes als in den Büros der CIA, wo sich die meisten bemühten, keine lauten Geräusche zu machen, um niemanden zu stören. Hier war das anders, was kein Wunder war. Hier waren Soldaten untergebracht, die morgens brüllend aus den Betten kamen, die Kommandos von einem Captain erhielten, der gefühlt einen Kilometer entfernt stand und sich deswegen laut rufend Gehör verschaffen musste. Manchmal fühlte sie sich hier wie in einem Irrenhaus. Aber das war nicht der einzige Grund, warum sie sich in ihrer Haut nicht wohlfühlte. 

Ihre Gedanken wanderten zu Jamain. Er war die meiste Zeit irgendwo in der Weltgeschichte unterwegs und wenn er doch mal in San Diego war, verbrachte er nur wenig Zeit mit ihr. Sie fühlte sich in ihrer Beziehung unwohl. Den letzten Kuss von ihm hatte sie bei der Hochzeit von Yvonne und Syrell bekommen, aber schon da waren da keine Gefühle mehr gewesen. Dieses Kribbeln, welches mal im Überfluss vorhanden gewesen war, war verschwunden. Einfach weg. Dabei hatte sie sich doch mal in ihn verliebt. In den verrückten Piloten, der seine Flieger mit seinem Leben beschützte. Was genau sich in den letzten Monaten verändert hatte, wusste sie nicht. Aber die Gefühle waren nicht mehr so wie zu Beginn und das war das Problem neben seiner ständigen Abwesenheit. Sie wollte sich in seiner Gegenwart wieder geborgen fühlen, wollte sich wieder an ihn schmiegen und mit dieser tiefen Zufriedenheit neben ihm aufwachen, mit der sie auch eingeschlafen war. Meist schlief aber jeder auf seiner Seite des Bettes ein, sollten sie tatsächlich beide gleichzeitig daheim sein. Das Handy klingelte schon lange nicht mehr und überbrachte keine kurzen Nachrichten des Vermissens. Wenn überhaupt teilten sie sich mit, dass sie es nicht rechtzeitig heim schafften. Dabei waren diese kleinen Texte immer die gewesen, die sie auch während der Arbeitszeit hatten lächeln lassen. Die sie immer schnell beantwortet hatte. Oder sie hatte selbst eine kurze Nachricht geschickt, dass sie sich ein Wiedersehen herbeiwünschte. Jetzt erwischte sie sich sogar hin und wieder bei dem Gedanken, ihn nicht sehen zu wollen. 

Der Cursor bewegte sich wie von Geisterhand zum Abmeldebutton. Sie wollte nach Hause und einige Stunden schlafen, um dann weiter zu arbeiten. 

Als der Bildschirm schwarz war, erhob sie sich und sah sich nochmals um. Was sie zu sehen erwartete, wusste sie nicht. Sie war seit Stunden alleine in dem Büro, das sie sich mit Joyce und einer jungen Frau teilte, die erst vor kurzem im Team der IATF angefangen hatte. Jedoch war die junge Frau nur für wenige Stunden eingestellt und beschäftigte sich rein mit der Buchhaltung. Das Licht an der Tür ausschaltend, horchte sie in den dunklen Flur des Erdgeschosses. Selbst von oben, wo einige Teammitglieder untergebracht waren, konnte sie kein Geräusch hören. Jedoch fiel ihr auf, dass unter der Tür eines weiteren Büros ein schmaler Lichtstrahl hindurchfiel. Zögernd öffnete sie die Tür und fand Rafael Bishop an seinem Schreibtisch vor, wo er gebannt den Bildschirm anstarrte. In einem schwarzen, edel wirkenden Anzug gekleidet, saß der Mann mit den hellgrauen Augen wie sie zuvor alleine im Raum. Seine dunklen Haare hatte er allem Anschein nach über Stunden immer wieder in verschiedenste Richtungen geschoben, sodass sie nun wirr abstanden. Neben dem Bildschirm standen gleich drei Tassen und sie würde darauf wetten, dass in jeder ein kleiner Rest Kaffee zu finden war. Das war eine der Macken, die der NCIS-Agent wohl nie ablegen würde und die alle anderen nutzten, um ihn damit aufzuziehen. Sein Kaffeetassensammelwahn sorgte dafür, dass in der Küche regelmäßig Tassennotstand und schlechte Laune herrschte. Denn sie waren alle Kaffeetrinker. Die Tassen fanden zwar immer einen Weg zu ihm, jedoch nur selten zurück in die Küche. 

»Hey.« Nach einer gefühlten Minute, in der sie ihn beobachtet hatte, sprach sie ihn schließlich doch an, obwohl sie darüber nachgedacht hatte, einfach zu gehen. Aber sie war gerne in seiner Nähe. Nicht nur die Gespräche mit ihm taten ihr gut. Es war auch seine bloße Anwesenheit, die eine Saite in ihr zum Klingen brachte. Oft musste sie sich einreden, dass seine Berührungen rein freundschaftlich waren. Der Kuss auf die Wange am Morgen, das leichte über den Arm streichen beim Vorbeigehen. Der Blick über ihre Schulter, mit dem Gesicht viel näher an ihrem Hals als bei allen anderen. 

»Hey, komm rein.« Ohne aufzusehen, folgte die Auf-forderung. »Und? Hast du was gefunden?« Immer noch starrte er konzentriert auf den Bildschirm.

»Nein.« Kopfschüttelnd trat sie hinter ihn und warf einen Blick auf den Monitor. »Immer noch?« Nach nur wenigen Zeilen war ihr klar, dass ihr Kollege vom NCIS immer noch im Fall von Jordan Snow ermittelte und auf der Suche nach einem Weg war, um den hochrangigen CIA-Agenten Jeff Ballot des Mordes zu überführen. 

»Ja.« 

Plötzlich drehte Rafael sich zu ihr um und sie fand sich zwischen seinen Beinen stehend wieder. Sie spürte seine Arme, die er um ihre Taille schlang. 

»Nicht«, raunte sie ihm zu, versuchte aber nicht, sich von ihm zu befreien. Seine Nähe tat gut. Auch der Duft, den er verströmte, war so anders als der von Kerosin und Öl und anderen Dingen, nach denen Jamain roch, wenn er von der Arbeit kam und sie kurz umarmte. Ihn schob sie dann immer zurück. Hier und jetzt konnte sie sich nur schwer daran hindern, sich an Rafael zu lehnen. 

»Wir sind alleine.« Er kniff ein Auge zu und sah sie prüfend an. 

»Nein, die anderen sind oben. Hier kann jederzeit …« Ehe sie zu Ende gesprochen hatte, löste er seine Umarmung und wandte sich mit einem enttäuschten Gesichtsausdruck wieder seinem Bildschirm zu. Dieser kurze Blick versetzte ihr tatsächlich einen Stich. Sah Jamain sie so an, wenn sie ihn zurückgewiesen hatte, spürte sie nichts. Jetzt bei Rafael tat es ihr leid und sie wünschte sich, er würde sie wieder in die Arme nehmen, auch wenn man sie erwischen könnte. 

»Agent Andrews, Sie könnten mal wieder ein Risiko eingehen.« Die Worte hatten seinen Mund verlassen, ohne dass er sie angesehen hatte. Seine Finger flogen über die Tastatur.

Jamain würde nie etwas von dem erfahren, was hier vorging. Nein, sie war treu und würde es auch bleiben und sie hoffte immer noch, dass die Beziehung zu dem Piloten sich wieder fügen würde. Nein. Sie hoffte es nicht und sie wünschte es sich nicht. Das Einzige, was sie wollte, war, wieder die Liebe zu Jamain zu spüren, die einst da gewesen war. Auch wenn tief in ihr etwas sagte, dass es nie wieder so werden würde, wie es einmal gewesen war. Sie hatte sich in einer absoluten Aus-nahmesituation befunden. Gejagt von einem Waffenhändler, bei dem sie Monate undercover gearbeitet hatte und so unter Strom stehend, dass sie sich in Jamains Arme geflüchtet hatte. Sie hatte sich mit ihm nicht nur über Monate, nein es waren tatsächlich einige Jahre geworden, wohlgefühlt. Es war einfach verhext. 

»Und machst du Feierabend?« Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, sie wollte nicht einfach hier stehen und ihm zusehen, aber sie konnte Rafael ja schlecht bitten, sie in den Arm zu nehmen, nur weil sie Nähe spüren wollte. Vielleicht fühlte sie sich ja auch nur zu ihm hingezogen, weil Jamain ihr keine Nähe mehr gab oder sich die Nähe nicht mehr so anfühlte wie früher. Möglicherweise würde es auch reichen, wenn jemand anders sie einfach mal wieder in den Arm nahm. Aber sie konnte ja schlecht ihre Freundin und Kollegin Joyce um einen solch seltsamen Gefallen bitten. Mit ihr hatte sie ja noch nicht einmal über die Probleme in ihrer Beziehung gesprochen. Dabei besprachen sie sonst alles miteinander. 

»Nein, ich denke aber, du solltest jetzt gehen.« Rafaels Worte waren unterkühlt.

»Okay.« Einen Augenblick blieb sie hinter ihm stehen, immer noch mit dem Wunsch, er möge sich einfach wieder zu ihr umdrehen, ehe sie sich abwandte. »Gute Nacht.« In ihr entfachte ein Brand, der schmerzlich an ihr zerrte, als sie das Büro und nur wenig später die Base der IATF verließ. Der Gedanke daran, dass Jamain sicher auch diese Nacht nicht daheim sein würde, nagte an ihr. Selbst wenn die Gefühle nicht mehr so wie früher waren, könnte sie sich wenigstens in der Nacht an ihn lehnen. Aber dafür musste er erstmal da sein. In ihr herrschte das reinste Gefühlschaos. Sie wollte Nähe, könnte sie von einem Kollegen bekommen, nahm sie aber nicht an, weil sie sich immer noch wünschte, dass Jamain der war, der sie in den Arm nahm und ihr die Streicheleinheiten gab, die sie so herbeisehnte. Dabei schien ihre Beziehung in einer schweren Krise zu stecken. 

Als sie eine Viertelstunde später an dem kleinen Haus ankam, das sie sich gemeinsam mit Jamain gekauft hatte, stellte sie erstaunt fest, dass im Wohnzimmer Licht brannte. Sie war der Überzeugung gewesen, dass Jamain erst in zwei Tagen zurück sein würde. Den Wagen parkte sie auf die Einfahrt, ohne die Garage zu öffnen, da sie davon ausging, dass der Wagen von Jamain dort geparkt war. Tief Luft holend und versuchend, die Gefühle zu verdrängen, die immer noch in ihr rumorten, seit Rafael sie umarmt hatte, stieg sie aus dem Wagen und machte sich auf den Weg zur Haustür. Sie bemühte sich, am Wohnzimmerfenster zu erkennen, was Jamain tat, aber sie konnte ihn nicht sehen. Wohl aber den Fernseher, in dem eine Nachrichtensendung lief. Nachrichten waren nun nicht gerade Jamains Lieblingssendungen. Gab es irgendwelche wichtigen Dinge, die sie noch nicht mitbekommen hatte? Vielleicht war er auch einfach auf dem Sofa eingeschlafen. Eilig schloss sie die Tür auf und wäre um ein Haar über einen von Jamains Stiefeln gestolpert, der mittig vor der Tür lag, die sie mit einem genervten Schnauben wieder zu warf. Sofort nahm sie den Geruch von Kerosin wahr, was sie schwer ausatmen ließ. In der ganzen Wohnung hing ein Duft, der sie an einen Flugzeug-hangar erinnerte. Aus dem Wohnzimmer hörte sie den Fern-seher und beim Blick in die Küche sank ihre Laune gegen null. Auf dem Küchentisch stand eine leere Colaflasche und der Kühlschrank stand einen Spalt offen. Kopfschüttelnd schlug sie die Tür zu, atmete tief durch und warf einen Blick ins Wohnzimmer. Jamains Füße lagen auf dem Wohnzimmertisch, in der Hand hielt er eine Colaflasche, und er hatte es noch nicht geschafft, sich umzuziehen. 

»Sag mal, bin ich deine Putze, oder was?«, platzte es aus ihr heraus. 

»Hey.« Jamain riss die Beine vom Tisch und stand auf. Er trug noch seine Uniform, die aussah, als wäre ein Ölfilter neben ihm explodiert. Livs Aufmerksamkeit wanderte auf das Sofa, auf dem sie zu seinem Glück keine Flecken sehen konnte. Sie war sich sicher, dass sie aus der Haut gefahren wäre, wären dort Flecken gewesen. Sie hatte bereits jetzt Mühe, ihre Gefühle zu kontrollieren. Jamain kam näher und wollte sie in eine Um-armung ziehen. 

»Komm, ne. Du stinkst wie ein Mechaniker und siehst auch so aus. Haben wir keine Dusche? Dem Chaos in der Küche nach zu schließen bist du ja schon eine Weile hier.« Sie machte einige Schritte zurück, was ihn dazu veranlasste, verdutzt stehen zu bleiben. Nur kurz war sie über sich selbst erstaunt. Gerade noch hatte sie sich doch nach seiner Nähe gesehnt, jetzt wollte sie nicht im Ansatz von ihm berührt werden. Was war nur los? 

»Entschuldige, schrauben gehört nun mal zu meinem Job. Wenn ich den Mechanikern blind vertrauen würde …« 

»Jamain, hör auf. Die machen einen super Job. Du tust so, als wärst du der Einzige in der gesamten Air Force, der Ahnung von Flugzeugen hat. Das bist du aber nicht«, fuhr sie ihn wütend an. 

»Ach, sagt die, die bis Mitternacht im Büro hockt und am Ende doch nichts gefunden hat, was von Bedeutung ist«, giftete er als Antwort.

»Aber jede Spur, die ich finde und die sich als falsch herausstellt, sorgt dafür, dass keiner ihr nachrennt, um hinterher womöglich bei Miss Snider im Wohnzimmer zu stehen«, rechtfertigte sie ihre Arbeit. Und rief so eine alte Dame in Erinnerung, die vor Wochen von einer Sondereinheit aus dem Schlaf gerissen worden war, weil es hieß, in ihrem Haus würden sich Sprengstoffe befinden. 

»Hör an. Und ich kontrolliere nur, was andere machen, um hinterher wieder lebend hier anzukommen«, erklärte er seine Kontrollen, von denen sie genau wusste, wie wichtig sie eigentlich waren. Und doch war sie davon überzeugt, dass er es übertrieb. Er war nicht nur einfach einhundert Prozent korrekt, was seine Maschinen anging, er war dreihundert Prozent perfektionistisch. 

»Und das rechtfertigt, dass du nicht duschen gehst, wenn du nach Hause kommst?«, maulte sie ihn an und machte einen weiteren Schritt zurück. 

»Entschuldige, dass ich mich kurz hingesetzt habe.« Er lenkte hörbar reumütig ein und senkte seinen Blick, in dem sie gerade noch ein erzürntes Funkeln gesehen hatte. »Ich gehe duschen. Wollen wir dann noch einen Film schauen? Ich muss erst übermorgen wieder los, dann bin ich aber bestimmt vier Tage weg.« Er sah sie erneut an. In seinen braunen Augen konnte sie sehen, dass ihm sein Verhalten leidtat und dass er tatsächlich gerne Zeit mit ihr verbringen würde. Jedoch fühlte es sich gerade nicht richtig an. Nicht nur, weil er wie ein Mechaniker stinkend auf dem Sofa gesessen hatte und nicht in der Lage war aufzuräumen und den Kühlschrank zu schließen. Da war noch mehr.

»Nein, ich geh ins Bett.« Ohne ihn nochmals anzusehen, wandte sie sich ab und erwartete, dass ihr Herz sie nun daran erinnerte, dass sie diesen Mann geliebt hatte. Aber sie fühlte rein gar nichts. Wo war dieses Feuer hin, das in ihr gebrannt hatte? 

»Ach, nach Hause kommen, rumstänkern und dann ins Bett? Was ist los mit dir?« 

»Und was ist mit dir?« Sie wandte sich um und spürte eine Wut in sich, die rein gegen ihn gerichtet war. »Nach Hause kommst du nur hin und wieder mal und sonst bist du mit deinen Kumpels irgendwo in Bars unterwegs«, spie sie ihm entgegen. Sie fühlte sich von ihm allein gelassen. Das war es, was seit Monaten unter ihrer Haut brannte. In einer Beziehung zu stecken, in der man den anderen kaum sah. In der er ihr zwar, wenn er dann mal anrief, lachend in Telefonaten berichtete, was er gerade tat, sie aber allein auf der Couch saß und die Stütze vermisste, die er einst gewesen war. 

»Du bist kein bisschen besser. Du bist auch ständig arbeiten«, brachte er erzürnt hervor. »Warum kommst du überhaupt nach Hause? Du kannst doch auch im Büro schlafen, in der Base sind doch sicher noch Zimmer frei.« 

»Ach? Dann schlaf du doch in deiner bescheuerten Lockheed, dann kannst du da abends im Laderaum ein Bier mit deinen heiligen Kollegen trinken.« Immer weiter entfachte die Wut ein Feuer, das all die Probleme aufdeckte, die es gab.

»Was kann ich dafür, wenn ich ständig unterwegs bin?« Seine Worte wurden wieder leiser. »Es ist mein Job, genau wie der von anderen, immer da zu sein wo man gebraucht wird.« 

»Weißt du was? Ich schlaf heut Nacht wirklich in der Base. Mir reichts.« Der Gedanke daran, das Bett diese Nacht mit Jamain teilen zu müssen, schnürte ihr die Luft ab. Selbst der Gedanke, nur mit ihm in einem Haus zu sein, hinterließ einen bitteren Beigeschmack. 

»Was soll der Scheiß?« In der Wohnzimmertür stehend sah er ihr nach, als sie bereits wieder an der Haustür angekommen war und sie aufzog. »Ist das nun dein Ernst?« 

»Ja.« Mit Tränen in den Augen riss sie die Tür hinter sich zu. Es fühlte sich an, als hätte sie in dem Augenblick, in dem die Tür ins Schloss gefallen war, ein Kapitel in ihrem Leben abgeschlossen. Eines, zu dem sie nicht zurückkonnte, selbst wenn sie sich noch so sehr bemühte. Eines, zu dem sie eigentlich auch nicht zurückwollte. Ihr Blick war tränen-verschwommen, als sie auf ihren Wagen zuging. 

Sollte sie wirklich in die Base fahren? Was würden die anderen sagen, wenn sie sie am Morgen in ihrem Büro finden würden? Nur, wo sollte sie um diese Zeit noch hin? Es war kurz nach eins und sie traute sich nicht, Joyce anzuschreiben, die sicher an Tom geschmiegt im Bett lag. Auch bei den anderen Frauen im Team war sie sich sicher, dass ein Anruf um diese Zeit, mit diesem Grund, nur dafür sorgen würde, dass sie die gesamte Nacht kein Auge zu bekommen würde. Sie wollte all die perfekten Beziehungen nicht in der Nacht damit stören, dass ihre gescheitert war. 

3.

Fassungslos starrte Jamain die Haustür an. Das konnte doch nicht sein, oder? Liv war einfach gegangen. Auch seine nicht vorhandenen Gefühle irritierten ihn. Er hatte damit gerechnet, dass es ein Brennen im Herzen oder einen verkrampften Magen verursachte, wenn die Liebe des Lebens einfach das Haus verließ, aber nichts dergleichen konnte er spüren. Da war nur Wut auf sie und auf sich. Warum war sie so stur und warum war er nicht duschen gegangen, als er nach Hause gekommen war? Dann könnte er nun Zeit mit Liv verbringen. Sie könnten noch einen Film schauen, in dessen Verlauf sie wahrscheinlich beide eingeschlafen wären, weil sie viel zu müde waren. Es stimmte, was sie sagte. Er war einfach zu wenig daheim. Aber es war bei ihr auch nicht anders. Es gab keinen Tag, an dem sie keine Überstunden machte … oder? Oder waren es nur die Tage, an denen er hier war, an denen sie länger im Büro blieb? Wollte sie ihm aus dem Weg gehen? Gab es einen anderen Mann in ihrem Leben? 

Das ging nun schon seit Wochen, nein, seit Monaten so. Irgendwie war sie distanzierter als sonst und auch er ertappte sich immer wieder dabei, dass er das Heimfahren aufschob. Wenn noch spontan etwas zu erledigen war, war er oft der Erste, der sich freiwillig meldete. Und sie hatte auch mit ihrer Anschuldigung recht, dass er sich oft mit anderen Piloten nach Feierabend traf. Mit ihnen konnte er über die Fliegerei reden und Fachgespräche führen, ohne schief angesehen zu werden, oder ohne, dass er Dinge erklären musste, die für ihn selbstverständlich waren. Das war oft bei Liv der Fall gewesen. Aber eigentlich hatte er sich nie daran gestört. Und auch sie hatte nie gesagt, dass es sie störte. Schließlich hatte sie ihm auch hin und wieder von ihrer Arbeit berichtet, wovon er nur die Hälfte verstanden hatte. Manchmal sogar von Fällen, die der Geheimhaltung unterlagen. Es war immer ganz normal gewesen, dass die Dinge, die sie hier besprochen hatten, das Haus nie verließen. Vielleicht hätten sie mehr über ihre Beziehung und ihre Gefühle sprechen müssen.

Nur einen kurzen Moment blieb er im Flur stehen und dachte darüber nach, Liv eine Nachricht zu schicken oder sie anzurufen. Diesen Gedanken verwarf er dann jedoch. Sie konnte sich ebenso gut bei ihm melden. Mit einem Blick ins Wohnzimmer entschied er sich gegen die Couch und machte sich auf den Weg ins Bad. Als er Livs Bademantel entdeckte, packte ihn für einen kurzen Moment die Sehnsucht. Wie oft hatte sie ihn morgens in dem weißen Frottee in der Küche überrascht, mit einem Hauch von nichts darunter, nur um ihn von der Kaffeemaschine zurück ins Bett zu lotsen. Aber je länger er den Frotteemantel anstarrte, umso klarer wurde ihm, dass selbst Liv im Bademantel ihn in diesem Moment nicht wirklich auf andere Gedanken bringen könnte. 

Als er eine Viertelstunde später aus der Dusche kam, schob er seine alten Kleidung mit dem Fuß zur Seite. Liv würde sich wieder tierisch aufregen, aber da er am Morgen ohnehin der sein würde, der die Sachen entweder wieder anzog oder in die Waschmaschine steckte, war es ihm egal. 

Nur mit einer Shorts bekleidet, ging er zurück ins Wohn-zimmer, wo das Klingeln seines Handys in ihm die Hoffnung weckte, dass es Liv sein könnte, die sich für ihr kindisches Verhalten entschuldigte. Aber es war die Nummer von Sharleen Porter, die im Display auftauchte. Sie hatte ihm eine Nachricht geschickt, in der sie ihm mitteilte, dass sie wieder in San Diego wäre und nun eine Woche frei hatte. Etwas, was es in ihrem genau wie in seinem Leben nur selten gab. Gerade Sharleen war als eine der besten Piloten ständig auf Abruf. Eine Woche frei konnte schnell bedeuten, dass es nur wenige Stunden dauerte, bis sie erneut in einen Einsatz musste. Mit etwas Glück wären es dann doch einige freie Tage. Ihre Frage, ob sie am kommenden Abend einen Drink zusammen trinken wollten, beantwortete er mit einem knappen Ja.

»Hey, du bist ja noch wach. Dachte, du genießt die Zeit mit Liv« war die prompte Antwort von ihr.

»Mache ich. Werde aber gleich ins Bett.« Es fühlte sich falsch an, sie anzulügen, als er die Sprachnachricht abschickte. Er hätte einfach eine Nachricht tippen können, aber er wollte in diesem Moment reden und wünschte sich auch, Sharleens Stimme zu hören. Sollte er ihr von dem Krach mit Liv erzählen? Die Frauen kannten sich bisher nur flüchtig. Was, wenn er nun etwas Falsches sagte und sie Liv anschrieb, um zu klären, was vorgefallen war. Er wollte jetzt nicht mit Liv reden. Er wollte nicht einmal das Bett mit ihr teilen. Irgendetwas war kaputt, und zwar etwas, das schon vor einer Weile einen Sprung bekommen hatte. Nur wann war das passiert? 

»McFly, ich kenn dich zwar nicht so gut wie andere, aber ich bin nicht taub.« Sharleens Stimme bekam etwas Ernstes, als er die von ihr geschickte Nachricht abhörte. 

»Wie, taub?« Hatte er etwas gesagt, was ihm gerade nicht bewusst war? 

»Komm, was ist los, ich kann doch hören, dass was nicht stimmt.« 

»Ich bin nur müde und gehe gleich ins Bett.« Sein Blick lag auf dem Boden vor seinen Füßen. Was sollte er der Pilotin auch sagen? Dass seine Beziehung zu Liv am Ende war? 

»Sie ist nicht da, oder?«

Bingo. Warum auch immer, aber seine Kollegin hatte alleine an seiner Stimmlage das Problem erkannt. 

»McFly, wollen wir noch ein Bier trinken?« 

War das nun eine Mitleidseinladung? Eine, bei der sie ihm Vorwürfe machen würde? Sie hatte schon vor Wochen genau das prophezeit, was nun gerade eingetreten war. Sie hatte ihm immer gesagt, er sollte doch früher heimgehen und vielleicht den ein oder anderen Auftrag ablehnen. Was er durchaus gekonnt hätte. Es gab Flüge, um die rissen sich seine Kollegen. 

»Nein danke. Ich gehe ins Bett.« Nein, er wollte sie nicht sehen. Er wollte nun nicht belehrt werden. Schon gar nicht von Sharleen.

»Dann morgen Abend. Ich hol dich ab. Gute Nacht und Kopf hoch.« 

Seufzend legte er das Handy zurück auf den Tisch, ohne eine Antwort zu senden. Sollte es das nun wirklich gewesen sein? Sollte er Liv vielleicht doch anrufen?