Team IATF 16

Operation Protected Leseprobe

1.

»Wenn nun noch fünf Ampeln in San Diego rot sind, dann sind wir so zu spät, dass Eagle uns den Arsch aufreißt.« Terence sah ihn von der Seite aus seinen zweifarbigen Augen an. 

»Sei froh, dass es nicht Harrison ist. Der würde uns wochenlang bluten lassen.« Wesley starrte aus dem Fenster von Terence‘ Dodge Charger, der mit über hundertdreißig über den Highway raste. Sie hatten sich drei freie Tage gegönnt und waren ins Barona Resort gefahren, wo sie die meiste Zeit dem Glücksspiel gefrönt hatten. Der letzte Abend hatte sich in die Länge gezogen. An der Bar hatten sie ein paar Frauen kennengelernt, mit denen sie einige Drinks getrunken hatten. Es war früher Morgen geworden, als sie betrunken in die Betten des Motels gefallen waren. Deshalb hatten sie am Morgen sehr lang gebraucht und sich viel zu spät auf den Heimweg gemacht. Jetzt dämmerte es bereits und sie mussten pünktlich zurück in der Base sein. 

Plötzlich bremste Terence den Wagen hart ab und bog nach rechts auf eine aus Betonplatten bestehende Seitenstraße ab.

»Was hast du vor? Hier darfst du nur mit Genehmigung durch.« Wesley starrte seinen blonden Kollegen an, der in schallendes Gelächter ausbrach. 

»Du willst mir was von irgendwelchen Regeln erzählen? Ausgerechnet du? Das ist ja, als würde ein Engel mir was von der Hölle berichten oder ein Fisch fliegen. Außerdem habe ich kein Schild gesehen.« Terence hatte das Tempo zwar verringert, aber für diese Straße war er trotzdem noch zu schnell.

»Dann ras wenigstens nicht so. Ich will nicht, dass du noch einen Wanderer umnietest.« 

Die Wege hier waren als Rettungswege für die Klettergärten angelegt, die es an diversen Stellen der Steilwände gab. Wesley hatte das Schild, welches an einem Graben gelegen hatte, zwar gesehen, aber wer nicht darauf achtete, würde es durchaus übersehen. Also würde die Ausreden, dass sie kein Schild bemerkt hatten, womöglich Bestand haben. Die Gegend bot neben Strecken, die für ungeübte Kletterer geeignet waren einige, die nur von Profis genutzt wurden, da der Fels selbst im trockenen Zustand extrem glatt war. Wesley hatte vor Jahren eine Woche hier im Serra Trail verbracht und diese Fakten herausgefunden, nachdem er damit geprahlt hatte, dass er jede der Strecken schaffen würde. Aber der Climbers Loop hatte ihn eines Besseren belehrt. Zu diesem Zeitpunkt hatte er auch erfahren, dass die angelegten Straßen nur für Notfälle gedacht waren, wenn Höhenretter Menschen aus misslichen Lagen befreien oder Verletzte bergen mussten. Sollte man sie hier erwischen, würde die Abkürzung sie nicht nur teuer zu stehen kommen, sondern ihre Ankunft an der Base noch weiter verzögern. Und ganz sicher würde John dann erfahren, wo sie unterwegs gewesen waren und dass sie einmal mehr Regeln nicht eingehalten hatten. Es war vorprogrammierter Ärger. 

Mürrisch starrte er aus dem Seitenfenster. Er konnte einige der Kletterwände sehen, die aus Felsansammlungen bestanden und die jetzt verwaist waren. Gedankenverloren folgte sein Blick der Leitplanke, die an ihnen vorbeizog. Gebüsch wechselte sich mit vertrocknetem Gras ab. Obwohl es bereits Herbst war, sah es immer noch aus, als wäre es Hochsommer, vieles war verdorrt und nicht, wie sonst im Herbst, dabei, sich auf den Winter einzustellen. Es war, wie die Jahre zuvor, zu trocken. Die Gefahr, dass aus Freizeitorten wie diesem ein flammendes Inferno wurde, bestand tagtäglich. Plötzlich meinte er einen Bruchteil einer Sekunde, etwas im braunen Gras gesehen zu haben, was dort nicht hingehörte. Sofort blickte er in den Spiegel und versuchte, die Stelle zu entdecken, die seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Da war etwas. 

»Halt an.« Er löste seinen Blick vom Spiegel und sah zu Terence. 

»Was?« Verwundert musterte sein Kollege ihn für einen kurzen Moment und konzentrierte sich nicht mehr auf die schmale Straße vor ihm.

»Halt an verdammt!«, blaffte Wesley erneut und versuchte, den Punkt am Straßenrand wiederzufinden, den er gerade gesehen hatte, aber er war weg.

»Was? Musst du kotzen?« Immer noch verringerte Terence sein Tempo nicht. 

»Sticks, halt an und fahr zurück verdammt, da liegt wer!«, brüllte Wesley seinen Teamkameraden nun an, der auf die Bremse stieg. 

»Wie, da liegt wer? Sicher, dass es nicht nur irgendein Vieh ist?« Terence verlangsamte den Wagen weiter. 

»Nein, bin ich nicht! Dreh um!« Wesley war sich tatsächlich, nicht sicher, was genau er da gesehen hatte, aber er war davon überzeugt, dass dort kein Tier lag. Wenn es allerdings eine Mülltüte war, würde Terence ihn ewig damit aufziehen.

»Dann kommen wir aber erst recht zu spät.«

»Alter, das ist mir sowas von egal, mach endlich.« Da er, was auch immer er gesehen hatte, nun nicht mehr im Spiegel sehen konnte, blickte er zu seinem Kollegen. Es war nur ein kurzer Blickwechsel, der jedoch dafür sorgte, dass Terence den Rückwärtsgang einlegte und mit Vollgas und den Blick über die Schulter gerichtet, die schmale Straße zurückfuhr. Wesley hielt einen Augenblick den Atem an, obwohl er den Fahrstil seines Kollegen kannte. Terence war für seine riskanten Manöver berüchtigt und Vollgas rückwärts war etwas, dass er bestimmt auch mit geschlossenen Augen fertigbrachte.

»Wo?« Nun musterte sein Kollege ihn.

»Keine Ahnung, fahr langsamer.« Verbissen starrte Wesley auf den Seitenstreifen. Wo war diese verdammte Stelle bloß? Es sah einfach alles gleich aus. Verdorrtes Gras und Gestrüpp, welches mal grün und mal braun war und überall gleich aussah. Je länger er aus dem Fenster sah, desto unsicherer wurde er, ob er nicht vielleicht doch nur ein Tier gesehen hatte. Ein verletzter Hirsch, der geflüchtet war? Nein, dafür war es nicht groß genug gewesen. Außerdem bezweifelte er, dass es hier Hirsche gab. Und für ein anderes, hier heimisches Wildtier, war es wiederum zu groß gewesen. Terence wurde langsamer und Wesley zweifelte immer mehr, dass das, was er gesehen hatte, noch da war. Vielleicht war es nur ein Schattenspiel der untergehenden Sonne gewesen und er hatte ihre Rückreise weiter verzögert. 

»Alter, da ist nichts. Das Einzige, was ich gleich sehe, ist ein Typ, der echt Ärger bekommt.« Terence richtete seine Aufmerksamkeit in dem Moment auf ihn, in dem er es wiedersah. Ein helles Etwas, das sich nur minimal vom Farbton des Sandbodens absetzte. 

»Da!« Er deutete auf die Stelle, die sie nun passierten. Terence riss den Kopf herum und stieß einen Fluch aus, ehe er den Wagen zum Stehen brachte. Noch während Terence pflichtbewusst den Warnblinker einschaltete, stieß Wesley die Tür auf. Da lag ein Mensch am Straßenrand. Er sprang über die Leitplanke und schlitterte den kleinen Abhang hinunter. Eine Frau lag zusammengekrümmt, nur mit einem BH und einem String bekleidet, im Graben. 

»Fuck. Ich hol eine Decke. Lebt sie?« Terence stand noch oben an der Straße, als er ihm die Frage zurief. Wesley ließ mit hämmerndem Puls seine Finger an ihrem kühlen Hals entlanggleiten. Durchatmend schloss er einen Augenblick die Augen, während er unter seinen Fingern ein leichtes Pochen spürte. 

»Ja. Bring mal das Medpack mit.« Er wollte die Frau nicht bewegen, ohne sich einen Überblick verschafft zu haben. Vielleicht hatte sie schwere Verletzungen, die er erst versorgen müsste. Wesley hob nur kurz den Blick, konnte Terence aber nicht sehen, wohl aber den geöffneten Kofferraum des Dodge. Trotz der einsetzenden Dämmerung reichte das Licht aus, um Unmengen an Schnitt- und Schürfwunden am Körper der Frau zu erkennen. Sie hatte die Augen geschlossen und reagierte auch nicht auf seine Berührungen. Ihre dunklen Haare waren völlig verfilzt und ihr Gesicht war, wie ihr Rücken, mit Kratzern und Hämatomen übersäht. Es war ein Bild des Grauens, das sich ihm an ihrem zierlichen Körper bot. Auch wenn er Wunden kannte, die im Kampf entstanden waren, schmerzte das, was er jetzt sah. Wer hatte sie so zugerichtet und warum trug sie fast nichts am Leib? Sein Magen zog sich krampfhaft zusammen. Zähneknirschend verdrängte er die Bilder, die sich in seine Erinnerungen schieben wollten. 

»Krankenwagen?« 

Während er darüber nachdachte, welche ihrer Wunden er nun versorgen sollte, sah er zu Terence auf, der seinen Blick grübelnd nach vorne richtete und schließlich sein Handy zückte. Eine Nummer wählte er allerdings nicht. Er starrte das Display an und warf ihm die Decke zu, die er aus dem Wagen mitgebracht hatte. 

»Vergiss es, die brauchen sicher zwanzig Minuten, bis sie hier sind und mindestens nochmal solange bis zum nächsten Krankenhaus. Die können hier nicht mal eben wenden. Wir fahren sie.« Nun rutschte auch Terence zu ihm hinunter. »Bekommst du das hin?« Fragend legte sein Kollege den Kopf erst auf die Seite und griff dann kurz nach dem Handgelenk der Frau. »Die ist völlig unterkühlt.« 

»Tolle Diagnose. Ich glaub der Rest ist viel schlimmer.« Wesley legte die Decke über die Frau und es gelang ihm, sie auf seinen Arm zu ziehen und aufzustehen. Sie war erstaunlich leicht und gab nicht mal einen Protestlaut von sich. Was, wenn sie nun auf den Weg ins Krankenhaus verstarb? Wer würde ihnen glauben, dass sie sie hier aufgelesen hatten? Ihm wurde klar, dass so oder so viele Fragen auf sie zukommen würden, von denen sie im Prinzip nur eine beantworten konnten. Aber selbst die Frage nach dem, wo sie sie gefunden hatten, war schwer. Wo genau waren sie hier eigentlich? Sie konnten schlecht sagen am dritten Baum auf der rechten Seite. Er warf einen Blick die Straße hinunter und dann in die Richtung einer Felswand. Aber selbst die Aussage, dass es in knapp einem Kilometer Entfernung einen Kletterpark gab, würde sicher nur für mehr Fragen sorgen. Schließlich gab es hier nicht nur einen, sondern mehr als zehn. Wenn die Polizei den Fall untersuchen würde, würde auch die Frage im Raum stehen, was sie hier getrieben hatten. Eine Frage, deren Antwort ihnen Ärger bringen würde, aber mehr nicht. Wenn auf dem Weg ins Krankenhaus etwas schieflief, würde unter Umständen Mord im Raum stehen. 

»Ey, was ist los?« Terence war bereits neben ihm aus dem Graben gestiegen und sah nun zu ihm herunter. 

»Vielleicht sollten wir doch …« 

»Was? Einen Krankenwagen und die Polizei rufen? Ey, bis die hier sind, dauert es ewig. Wir haben keine Zeit. Wir nehmen sie mit, geben sie im Krankenhaus ab, lassen unsere Kontaktdaten da und verschwinden wieder.« Terence gab ihm mit Gesten zu verstehen, dass er endlich aus dem Graben klettern sollte.

»Geben sie ab«, nuschelnd wiederholte er die Worte, während er vorsichtig, da der Boden unter seinen Füßen mit dem Gewicht der Frau noch rutschiger war, aus dem Graben stieg. »Das klingt, als wolltest du einen Hund im Tierheim abgeben.« 

»Ist doch so. Casanova, ehrlich, ich hab keinen Bock auf Stress mit Eagle. Ich hab ihm eben schon eine Nachricht geschrieben und er glaubt uns nicht, dass wir eine Frau im Straßengraben gefunden haben.« Terence umrundete seinen grünen Charger und zog die Fahrertür auf. 

»Dann schreib ihm, es ist ein Hund, vielleicht glaubt er das.« Wesley hatte damit gerechnet, dass Terence ihm wenigstens die Wagentür öffnen würde, damit er die Fremde ins Auto legen konnte, aber sein Kollege lehnte sich gegen den Wagen und sah ihn abwartend an, als er über die Leitplanke stieg.

Mit den Worten: »Dann geben wir sie ja doch nur ab«, verschwand Terence im Wageninneren, während es Wesley endlich gelang, die Tür zu öffnen. Umständlich legte er die Frau auf den Rücksitz und zwängte sich neben sie. Er bemerkte Terence’ Blick auf die Uhr des Wagens. Ja, sie würden es nicht mehr rechtzeitig zur Base schaffen, aber das war zumindest ihm in diesem Augenblick egal. Ein Menschenleben stand über der Vereinbarung, wann sie wieder am Stützpunkt sein mussten. Gerade in Anbetracht dessen, dass es keinen wichtigen Grund gab, warum sie pünktlich zurück sein sollten. Es gab weder einen Einsatz noch eine Trainingsmission und selbst ein Briefing war nicht angesetzt. Wesley musterte das Gesicht der Frau, die er auf Mitte zwanzig schätzte. Ihr Kopf lag auf seinem Schoss, ihr Rücken ruhte an der Rücklehne und ihre Beine hatte er so angewinkelt, dass er gerade noch genügend Platz zum Sitzen hatte. So konnte er ihren Zustand im Auge behalten und Terence konnte sich auf das Fahren konzentrieren.

Während sein Kollege den Wagen startete, zog Wesley sein Handy aus der Hemdtasche. 

»Was hast du vor?« Terence drehte sich zu ihm um.

»Du sollst auf die Straße schauen. Ich ruf Eagle an«, erklärte er rügend seinem Kollegen, der den Wagen bereits beschleunigt hatte. 

»Was willst du ihm sagen? Dass ich mich geirrt habe und es ein Hund ist, oder was?« Lachend behielt Terence die Straße im Auge. 

»Halt doch einfach mal die Schnauze.« Wesley lauschte dem Freizeichen am anderen Ende und hatte seinen Blick vom Gesicht der Frau auf ihren Oberkörper gerichtet, wo er die Decke, mit der er sie zugedeckt hatte, zurechtzog. 

»Thomsen.« Die Stimme am anderen Ende klang beschäftigt.

»Hey John. Ich bin´s. Ich wollte dir nur sagen …« 

»Casanova, wie ich Sticks gerade schon gesagt habe: Seht zu, dass ihr eure Ärsche hierher bewegt, und zwar pünktlich. Nur weil ihr irgendwo Weiber aufgabelt und sie noch erst flachlegen müsst, braucht ihr nicht zu spät zu kommen. Mir ist …« 

»Eagle, verflucht. Wir legen niemanden flach. Wir haben sie im Straßengraben gefunden. Wenn wir einen Krankenwagen und die Polizei verständigt hätten, würden wir noch länger brauchen. Wir konnten sie doch nicht da liegenlassen. Es tut mir leid, dass wir zu spät sind, aber das geht nun mal vor.« Völlig entrüstet wurde er mit jedem Wort lauter. Dass gerade ihm ein gewisser Ruf anhaftete, wusste er, aber dass man ihm deswegen nicht mehr glauben würde, war ihm neu. »Soll ich dir ein Bild von ihr schicken?«, setzte er vor Wut schäumend nach und ignorierte den Blick im Rückspiegel, den Terence ihm zuwarf. 

»Das ist euer Ernst, oder?« Johns Stimme hatte sich verändert. Er klang so, als würde er ihnen nun doch glauben und als wäre er interessiert an dem, was vorgefallen war. 

»Ja verflucht.« Kopfschüttelnd richtete Wesley kurz seine Aufmerksamkeit auf Terence. 

»Okay, sie hatte keine Papiere bei sich?« 

»Nein, nichts. Einen BH und ´nen String hat sie an. Sie hat Unmengen an Hämatomen, Schnittwunden und Kratzern. Sie sieht aus, als hätte sie mit einem Raubtier gekämpft«, fasste er das zusammen, was er bisher hatte sehen können. 

»Okay, bringt sie in ein Krankenhaus und meldet euch, wenn ihr dort wieder losfahrt.« John beendete das Gespräch, ehe Wesley noch etwas erwidern konnte. 

»Meinst du, die stellen uns im Krankenhaus eine Entschuldigung aus?«, murmelte er nachdenklich.

»Willst du mich verarschen?« Terence warf ihm einen Blick über die Schulter zu. »Schick ihm ein Foto und gut.« 

»Als ob man mir nicht glauben kann.« Murrend schickte er ein Foto der jungen Frau an John, der nur wenige Sekunden später antwortete. 

»Scheiße. Seht zu, dass ihr trotzdem pünktlich hier seid.« 

Mit dieser Antwort hatte er gerechnet. Wenn sie es vom Krankenhaus aus noch rechtzeitig in die Base schaffen würden, würde ihnen eine Menge Ärger erspart bleiben. 

»Wir sollen trotzdem pünktlich sein«, gab er weiter, was ihr Captain angeordnet hatte. 

Terence stieß einen genervten Laut aus. »Warum musst du auch immer in den Straßengraben schauen.«

»Weil du so langsam unterwegs bist, dass es zum Grashalm zählen verleitet«, murrte Wesley. So hatte er sich das Ende seines Urlaubs nicht vorgestellt. 

Dabei waren die freien Tage bis vor einigen Minuten perfekt gewesen, wenn man von dem Vollrausch gestern Abend absah. Als Terence ihm vorgeschlagen hatte, ins Barona Resort zu fahren, hatte er ihn im ersten Moment ausgelacht. Der Name klang bereits so, als würden sich dort nur ältere Herrschaften einfinden, die sich gegenseitig ihr Leid klagten und Golf spielten. Als er dann auch noch festgestellt hatte, dass das Resort mehr oder weniger im Nirgendwo lag, hatte er ablehnen wollen. Terence hatte ihm dann aber gesagt, dass zu der Hotelanlage ein Casino gehörte und es weit günstiger wäre, als wenn sie nach Vegas fahren würden. Und tatsächlich hatten sie viel Zeit im Casino verbracht. Außerdem hatte er dort die ein oder andere Frau kennengelernt, die er schnell um den Finger hatte wickeln können. So war es dazu gekommen, dass Terence an den Abenden oft alleine im Casino unterwegs gewesen war oder an der Bar gesessen hatte. Wesley löste seine Gedanken von den heißen Nächten mit Frauen, wie er sie liebte. Viele waren nur darauf aus gewesen, einmal mit einem Soldaten im Bett zu landen. 

Inzwischen waren sie an einigen Stellen vorbeigekommen, an denen die Straße breiter war und es Parkbuchten für die zahlenden Touristen gab. Aber die Parkplätze waren verwaist. Die Sonne war verschwunden und man konnte nur noch die orangefarbenen Streifen am Himmel sehen, die auf das Ende des Tages hindeuteten. Prüfend musterte er die Frau, deren Haut langsam wärmer wurde. Er rechnete damit, dass sie in wenigen Minuten die Augen aufschlug. Nur wie würde sie reagieren, wenn sie feststellte, dass sie neben einem fremden Mann im Auto lag? 

Als ihre Straße in eine größere mündete, entdeckte er ein Schild. Dieses Mal stand es gut leserlich an der Einfahrt und wies darauf hin, dass die Straße nur von Besuchern des Kletterparks genutzt werden sollte. 

»Wir werden richtig Ärger bekommen«, murmelte er abwesend.

»Warum?« Terence warf ihm einen Blick über die Schulter zu.

»Wenn wir sagen, wo wir sie gefunden haben, wird man uns fragen, was wir hier gesucht haben.« 

»Alter, nun hör doch mal auf. So kenn ich dich gar nicht. Du machst dir doch sonst auch nichts aus Vorschriften. Vor ein paar Monaten hätten dich irgendwelche Schilder sicher nicht aufgehalten. Du hättest den Kletterparcours wahrscheinlich auch noch ausgetestet.«

»Touché.« Wesley schnaubte und sah kurz das zufriedene Grinsen seines Kollegen. Terence lag mit seinen Worten so richtig, dass ihm klar wurde, wie sehr er sich verändert hatte. Er konnte allerdings nicht sagen, ob diese Änderung zum Positiven war oder nicht. 

In Bagram hatte er sich nie um irgendwelche Schilder geschert, und schon gar nicht, wenn es Verbotsschilder gewesen waren. Er hielt sich an keine Regeln. Regeln funktionierten für ihn nicht. Das war eine Tatsache, die er schon in jungen Jahren festgestellt und so manches Mal schmerzhaft bezahlt hatte. Sein Vater hatte ihm von klein auf die Funktion und Sinnhaftigkeit von Regeln klarmachen wollen, war aber immer wieder gescheitert. 

Wesley war sich sogar sicher, dass sein Vater Schuld daran hatte, dass er regelmäßig die Regeln brach. Als Kleinkind hatte es einen auf die Finger gegeben, wenn er sich nicht an die Regeln gehalten oder Aufgaben nicht erledigt hatte, die sein Vater oder seine Mutter aufgestellt hatten. Später hatte dann ein alter Ledergürtel die Hand ersetzt und viele Male tiefe Spuren auf seinen Rücken gezeichnet. Selbst vor einem Stahlrohr hatte sein Vater nicht haltgemacht. 

Plötzlich meinte er, wieder den Schmerz zu spüren, der in solchen Momenten durch ihn hindurch gerast war. Glühend heiß hatte er sich von der Stelle, an der er getroffen worden war, durch seinen ganzen Körper verteilt. Manches Mal hatte er auch das Blut gespürt, welches aus den Wunden gequollen war. Er presste die Zähne aufeinander, als sich immer mehr Bilder aus seiner Kindheit einen Weg aus einer finsteren Ecke seiner Erinnerungen bahnten. Die Bilder wollten sich jedoch nicht so schnell wieder vertreiben lassen, wie sie gekommen waren. Der Anblick der Frau und ihrer Wunden sorgten dafür, dass sein Vater immer wieder vor seinen Augen auftauchte. Diesen Mann, von dem er sich schon vor langer Zeit losgesagt hatte, hätte er sicher irgendwann im Affekt getötet, wenn er nicht zur Navy gegangen wäre. Dabei war die Navy nur eine Flucht vor dem Jugendknast gewesen. Sein Anwalt – nein, es war ein vom Staat gestellter gewesen, selbst hätte er sich nie einen leisten können und seine Eltern hätten ihm sicher keinen bezahlt – hatte den Richter davon überzeugt, dass die Navy für ihn weit besser wäre als der Knast. Dort könnte man ihm beibringen, wie man sich in ein Team einbrachte und wie man sich unterordnete. Etwas, was Wesley noch nie gekonnt hatte und selbst bei der Navy nur schwer gelernt hatte. Auch dort hatte es immer wieder Probleme gegeben. Seine Ausbilder waren an ihm verzweifelt und sein direkter Vorgesetzter hatte so oft beide Augen zugekniffen, dass er seinen Job mehrmals riskiert hatte. Er hatte Wesleys Potenzial gesehen und lange gehofft, dass er sich irgendwann den Regeln freiwillig anpassen würde. Irgendwann war er bei einem Auslandseinsatz in Afghanistan in Mike Lutrells Büro gelandet. In Bagram hatte es noch mehr Querulanten wie ihn gegeben, Mike hatte alle um sich gesammelt. Die ersten Monate waren wie immer gewesen. Ständig hatte er sich im Büro des Commanders einfinden müssen und immer wieder hatte dieser ihm die Regeln gepredigt, bis man ihn und das Rescue-Team auf einen Einsatz geschickt hatte, der sein Leben veränderte. 

Sie hatten einen MRAP bergen müssen, der auf eine Mine aufgefahren und beschädigt worden war. Soweit war das keine Seltenheit, wohl aber, dass in der Nähe des Wagens gleich drei Soldaten umgekommen waren, weil sie nicht im Wagen hatten warten wollen. Weil ihre Kollegen in den anderen Fahrzeugen sie nicht gewarnt hatten und weil alles schiefgelaufen war, was schief laufen konnte. Irgendetwas an diesem Anblick hatte ihm klargemacht, dass es Regeln gab, an die man sich halten musste. Was nicht hieß, dass sein Spind immer aufgeräumt war, dass er seinen Vorgesetzten nicht doch widersprach, wenn es um belanglose Dinge ging. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte er begonnen, sich in Bagram und im Team wohlzufühlen. Es waren Freundschaften entstanden, die dafür gesorgt hatten, dass er seinen Kollegen blind vertraute. 

Eine Regung neben ihm ließ ihn aus seinen Gedanken auftauchen. Die Frau versuchte, sich zu strecken, was in der Enge des Wagens, so wie sie gerade lag, unmöglich war. 

»Hey, alles okay, du bist in einem Auto und in Sicherheit«, erklärte er und bemerkte im Augenwinkel, wie Terence sich kurz zu ihm umdrehte. 

»Wir sind gleich da«, war die knappe Erklärung seines Kollegen. 

Die Frau schlug die Augen auf, blinzelte und prallte mit den Füßen gegen die Tür des Wagens, als sie panisch versuchte, sich aufzusetzen. Die Decke, die ihre Blöße verdeckt hatte, fiel in den Fußraum und sie stieß einen heiseren Laut aus. 

»Alles okay, ich tue dir nichts.« Wesley hob die Hände und rutschte ein Stück zur Seite, um ihr durch sein Verhalten zu zeigen, dass er nichts Böses im Sinn hatte. Die brünette Frau schüttelte mit weitaufgerissenen Augen den Kopf und wollte nach dem Türgriff greifen. 

»Halt.« Wesley packte ihr Handgelenk und wäre um ein Haar auf ihren Schoss gefallen. »Wir tun dir nichts, aber wenn du aus einem fahrenden Auto springst, kommt das nicht so gut.« Er hielt ihre Hände und bemerkte wie Terence das Tempo verringerte.

»Lass mich los!« Heiser fuhr sie ihn an. 

»Wenn du noch ein paar Minuten hier sitzen bleibst gerne.« Mit seiner freien Hand angelte er nach der Wolldecke. »Hier. Ich lass dich los und du bleibst hier sitzen.« Es gelang ihm nicht, ihr in die Augen zu sehen. Ihr Blick wanderte ziellos umher und sie begann zu zittern. »Nimm die Decke. Ich tue dir wirklich nichts.« Er löste seinen Griff und atmete erleichtert durch, als sie die Decke entgegennahm und so zumindest einen kurzen Moment von der geplanten Flucht absah. Trotz seiner Befürchtung, dass sie einen weiteren Fluchtversuch plante, rutschte er wieder ein Stück zur Seite. Dass sie sich bei zu viel Nähe bedroht fühlte, war nicht zu übersehen. Auch so würde er noch schnell genug sein und sie daran hindern können, aus dem fahrenden Wagen zu springen. Selbst jetzt, wo Terence das Tempo verringert hatte, würde sie sich schwere Verletzungen zuziehen, sollte sie sich wirklich während der Fahrt aus dem Auto werfen. 

»Wo …« Sie rang nach Luft und er hatte den Eindruck, dass sie sich das erste Mal bewusst umsah. 

»Wir haben dich am Serra Trail gefunden und sind gleich am Fresinus Medical Care in Allied Gardens«, erklärte Terence vom Fahrersitz aus und bog nach links ab. 

»Ich geh in kein Krankenhaus.« Ihre Stimme bebte und ihre Hand wanderte erneut zum Türgriff.

»Du sollst ja auch nicht dort bleiben. Aber vielleicht …« Wesley zögerte. Er wollte ihr keine Angst machen, indem er sie erneut berührte. Ihr stummes Kopfschütteln und die weit aufgerissenen Augen, als sie am Krankenhaus, das sie gerade erreichten, einen Krankenwagen sah, war ausreichend, um ihre Panik zu unterstreichen. »Was ist passiert?« 

Terence parkte den Wagen und drehte sich zu ihnen um. Sein Augenmerk lag auf der Frau. Ihre Atmung wurde immer hektischer. 

»Hey, es ist alles okay. Wir kommen mit rein. Dir tut keiner was, schau mal. Wir sind die Guten.« Terence zog seine Geldbörse hervor und hielt seinen Navyausweis so, dass sie ihn sehen konnte. Wesley bemerkte, dass sie den Ausweis lange prüfend ansah, ehe sie die Augen einen Moment schloss und durchatmete. 

»Wenn du willst warten wir, bis alles geklärt ist«, bot er ihr an und erntete einen wütenden Blick von Terence, der kurz auf seine Uhr sah. Abwinkend, da ihm in diesem Moment egal war, dass sie womöglich weit später in San Diego ankommen würden, als sie gedacht hatten, wandte er sich wieder der Frau zu. 

»Ich bin Wesley und das ist Terence.« Er deutete kurz auf seinen Kollegen, der knapp die Hand zu einem Gruß hob. »Wollen wir reingehen?« Nun deutete er über die Schulter zum Krankenhaus. 

»Ich kann da doch so nicht rein.« Ihre Stimme war immer noch leise und zögernd. Wesley wurde bewusst, dass sie in diesem Moment nur nach einem Weg suchte, um nicht in das Gebäude zu gehen. 

»Warte mal.« Er beugte sich nach hinten, wo er aufgrund der fehlenden Kofferraumabdeckung an seinen Rucksack gelangen konnte. Ein blaues Hemd und eine camouflagefarbene Hose hervorziehend rutschte er wieder auf den Sitz und bemerkte, dass der Blick der Frau auf seinem Oberarm lag. »Ich suche noch einen guten Tätowierer.« Erklärend reichte er ihr die Sachen. Wie er zu der Narbe gekommen war, wollte er ihr nicht erzählen, das gehörte nicht hierher und ging sie nichts an. Zaghaft nahm sie ihm die Kleidungsstücke ab. Das Hemd überziehend blieb ihre Aufmerksamkeit einen Moment auf ihren Beinen liegen. 

Als Wesley bemerkte, wie Terence ihn ansah, warf er seinem Kollegen einen knappen Blick zu, der ausreichen sollte, um ihm klar zu machen, dass es nichts bringen würde, wenn sie die Frau nun hetzten. Sie würde das gerade gefasste Vertrauen sofort wieder verlieren. Er konnte ihren schmerzverzerrten Gesichts-ausdruck nur schwer ertragen, als sie ihre Beine in die Hose schob. Terence stieg aus und öffnete die Tür. Ihr eine Hand reichend wollte er ihr helfen, aus dem Wagen zu steigen, doch erneut lehnte sie die Hilfe ab. 

»Wie heißt du eigentlich?« 

Als Wesley aus dem Wagen stieg, begann Terence ein Gespräch mit der Frau, die es zitternd schaffte, aus dem Auto zu steigen. Beobachtend, wie sie Terence’ angebotene Hand ignorierte, umrundete er den Charger. Auch dass sie auf die Frage nach ihrem Namen nicht antwortete, beunruhigte ihn. Ihr musste etwas Schreckliches zugestoßen sein. 

»Wir kommen mit.« Ihr knapp zunickend deutete er auf das Krankenhaus, wo gerade ein Krankenwagen aufbrach. Froh, dass sie nicht widersprach, ging er neben ihr her. Terence, der auf ihrer anderen Seite lief, richtete mehrfach seine Aufmerksamkeit auf ihn. Sein Blick verlangte nach einem Gespräch, welches Wesley aber erst führen wollte, wenn er sicher war, dass es ihr gut ging. Plötzlich krallten sich ihre Fingernägel in seinen Oberarm. So plötzlich, wie der Druck entstanden war, verschwand er wieder. Terence hatte sie bereits aufgefangen, als sie zusammenzubrechen drohte. 

»Wenn ich den erwische.« Terence’ tiefes Knurren, als er die Bewusstlose durch die Tür der Klinik trug, ignorierte Wesley und machte sich auf den Weg zu einem Tresen, an dem das Schild Anmeldung hing. In ihm kochte die Wut gegen den oder die auf, die sie so zugerichtet hatten. 

»Wir brauchen dringend einen Arzt und eine Liege«, erklärte er der älteren dunkelhaarigen Dame, die von ihrer Arbeit mit fragendem Gesichtsausdruck aufsah. Er deutete zu Terence, der mit der Frau im Arm im Eingangsbereich stand. 

»Ich komme.« Den Schreibtischstuhl nach hinten schiebend verschwand die Schwester in einem Raum. Er konnte hören, dass sie jemanden darum bat, sie zu vertreten. Dann öffnete sich eine Tür und keine zehn Sekunden später ging sie an ihm vorbei auf Terence zu. 

»Mitkommen.« Befehlend sprach sie Terence an, der verwundert eine Augenbraue nach oben zog. Wesley hob nur verdutzt die Hände und musste sich beeilen, um mit der Schwester und Terence Schritt zu halten. Sie kamen durch mehrere Türen, ehe die Krankenschwester in einen Schockraum abbog, wo sie Terence mit einer knappen Geste zu verstehen gab, dass er die Frau auf die Liege legen sollte. Als Wesley den Raum betreten wollte, drehte sie sich zu ihm um und fuhr ihn an. 

»Sie bleiben draußen.« Dann wandte sie sich Terence zu. »Ihre Freundin?« 

Terence schüttelte den Kopf. 

»Ihre Schwester?« Genervt begann sie, bei der jungen Frau Blutdruck zu messen, und zog ein Telefon aus ihrem Kittel.

»Auch nicht.«

»In welcher Verbindung stehen Sie dann zu ihr?« 

»In gar keiner«, erklärte Wesley und machte einen Schritt in den Raum. 

»Raus!«, herrschte die Schwester ihn an und begann zu telefonieren. Terence zog den Kopf ein und kam auf ihn zu. 

»Ich glaube, wir können gehen.« Terence warf einen Blick über die Schulter und Wesley fand den Gedanken befremdlich, nun ohne jede Erklärung zu verschwinden. Nicht dass man sie später polizeilich suchen ließ, weil sie einfach gefahren waren.

»Wir sollten zumindest warten bis jemand fragt, was passiert ist.« Auf die Schwester konzentriert, die immer noch telefonierte und einen Arzt bestellte, sprach er seine Gedanken aus. 

»Das wissen wir doch gar nicht«, murrte Terence und trat an ihm vorbei.

»Du weißt genau, was ich meine.« Wesley blieb an dem Türrahmen gelehnt stehen und ignorierte, dass Terence gehen wollte. 

»Willst du nun echt hier warten, oder was?« Terence hatte sich ein Stück entfernt und war nun stehengeblieben. 

»Ja.« Wesley sah seinen Kollegen nicht an, sondern nickte einfach, während er beobachtete, wie die Schwester sich um die Frau kümmerte. 

Nur Sekunden später kam ein Mann in einem weißen Kittel über den Gang geeilt, nickte ihm kurz zu und verschwand im Schockraum. Dann kam die Krankenschwester mit einem genervten Kopfschütteln auf ihn zu und schloss die Tür vor seiner Nase. 

»Bleiben?« Terence legte prüfend den Kopf auf die Seite. 

»Ja.« Wesley sah den Flur entlang, allerdings gab es hier keine Stühle. Es war ein kahler weißer Gang mit Edelstahlhandläufen an den Wänden und einem Bodenbelag, der ebenso steril wirkte wie der Rest. 

»Ich such mal einen Kaffeeautomaten und komm dann wieder.«

Er konnte in Terence Stimme zwar leichten Unmut hören, war sich aber sicher, dass sein Kollege ihm diese Entscheidung nicht übelnehmen würde. 

2.

»Können wir jetzt?« Terence musterte ihn von der Seite und Wesley schaute kurz zur Uhr, die im Eingangsbereich des Krankenhauses über einem Durchgang hing.

»Ja.« Auch wenn er das Gefühl hatte, noch bleiben zu wollen nagte an ihm. Sie würden nicht nur eine oder zwei Stunden zu spät in San Diego ankommen. Mit etwas Glück würden sie es gerade noch zum Trainingsbeginn schaffen, wobei diese Chance auch schlecht stand. Die Nacht war fast vorbei und er war völlig hin und hergerissen. Als die Frau, die ihren Namen immer noch nicht preisgegeben hatte, aufgewacht war, hatte sie darauf bestanden, dass er während der Zeit, in der die Ärzte sie versorgt hatten, in ihrer Nähe blieb. Nur mit viel gutem Zureden von seiner Seite und einiger Krankenschwestern hatte man sie davon überzeugen können, einige Tage zur Be-obachtung im Krankenhaus zu bleiben. Sie hatte einige Untersuchungen völlig verweigert, weswegen man im Laufe des nächsten Tages einen Psychologen zu Rate ziehen wollte, der sie von der Dringlichkeit dieser Untersuchung überzeugen sollte. Die Ärzte hatten außerdem die Polizei eingeschaltet, um die Hintergründe zu klären. Die beiden Beamtinnen hatten aufgrund der Geschehnisse großzügig darüber hinweggesehen, dass er und Terence eine Straße genutzt hatten, die nicht für den öffentlichen Verkehr freigegeben war. Sie hatten ihnen eine mündliche Verwarnung erteilt und wollten die Sache auf sich beruhen lassen. Allerdings war es auch ihnen nicht gelungen, in Erfahrung zu bringen, wer die Frau war, wo sie herkam oder wie sie an den Seitenstreifen des Kletterparks gelangt war. Überhaupt sprach sie kaum mehr als Ja, Nein und einige wenige andere Worte, die sie benötigte, um sich zu verständigen. Worauf sie jedoch vehement bestanden hatte, war, dass er in ihrer Nähe blieb. Terence missfiel das, er drängte bereits seit Stunden zum Aufbruch, um möglichst wenig Ärger mit ihrem Vorgesetzten zu bekommen. Erst vor einer Stunde hatte eine Krankenschwester die Frau auf ein Einzelzimmer gebracht und ihr ein Medikament verabreicht, das sie beruhigen sollte. Wesley hatte sich in diesem Moment von ihr verabschiedet und war in den Eingangsbereich gekommen, wo er noch Papiere ausgefüllt und seine Telefonnummer hinterlassen hatte. Seine Daten hatte er nur widerstrebend herausgegeben. Wozu man sie benötigte, hatte ihm die junge Auszubildende nicht sagen können. Nur dass sie die Daten derer, die die Patienten brachten, immer notierten, sie aber noch nie erlebt hatte, dass diese in irgendeiner Form nochmals aus den Akten genommen wurden. 

»Man, kommst du nun oder soll ich alleine fahren?« Terence riss ihn aus seinen Gedanken. Nickend und ohne seinem Kollegen zu antworten, folgte er ihm auf den Parkplatz. 

»Was denkst du?« Als Terence seinen Charger aufschloss, sah er ihn kurz über das Wagendach hinweg an. 

»Worüber?« Fragend hob er eine Augenbraue. 

»Was ihr passiert ist.« Terence zog die Autotür auf und wandte seinen Blick ab. 

»Keine Ahnung. Die Blutergebnisse kommen erst in ein paar Stunden. Wenn sie Drogen genommen hat … Stress mit ihrem Dealer, ihrem Zuhälter oder ´nem Kunden.« 

»Dann sollte der aufpassen, dass ihr Zuhälter ihn nicht findet.« Terence stieg bei seinen Worten in den Wagen. 

Wesley gab nur ein zustimmendes Brummen von sich. Nicht nur in ihrem Job in den Krisengebieten, auch hier bei jedem Blick in die Zeitung taten sich so oft menschliche Abgründe auf. 

»Was ist los?« Terence musterte ihn kurz, als sie wenige Minuten später den Parkplatz verließen. 

»Was soll sein?« Eine Augenbraue fragend gehoben warf er seinem Kollegen einen kurzen Blick zu. 

»Dich beschäftigt was.« Terence hatte seine Aufmerksamkeit bereits wieder auf den Verkehr gerichtet. Sie würden mitten in der morgendlichen Rushhour in San Diego ankommen. John war bei ihrem letzten Anruf zwar nicht weniger ungehalten gewesen als bei ihrem ersten kurz vor Einbruch der Nacht, aber er hatte zumindest irgendwann den Eindruck erweckt, als glaube er ihnen. 

»Ich frage mich nur, wer zu sowas fähig ist und ob sie wirklich von niemandem vorher gesehen wurde. Ich meine, sie lag da sicher nicht erst eine halbe Stunde.« Wesley strich sich durch den Bart. Auch wenn er schon vieles gesehen hatte, wollte sich ihm nicht erschließen, wieso eine junge Frau mitten in den Staaten, dazu in einem Freizeitgebiet, in dem sich tagsüber hunderte Touristen tummelten, so lange irgendwo am Straßenrand liegen konnte, ohne beachtet zu werden. Täuschte er sich womöglich und sie hatte nicht seit Stunden dort gelegen? »Und warum will sie ihren Namen nicht sagen?«, murmelte er gedankenverloren hinterher.

»Vielleicht haben die, die vorbeigekommen sind, woanders hingeschaut. Du hast sie doch auch nur zufällig gesehen. Warum sie ihren Namen nicht sagen will, werden die Psychologen schon rausbekommen. Sie ist da in besten Händen und du musst dir keinen Kopf darüber machen, dass sie nicht medizinisch versorgt wird.«

»Uh, was für weise Worte aus dem Mund von Mister Blatter«, zog er seinen Kollegen auf. Es gab kaum Momente wie diesen, in denen sie zuließen, dass die Schicksale anderer sie beeinflussten. Ihre Arbeit im Rescue-Team hatte ihnen schon oft Situationen beschert, die oft weit schlimmer gewesen waren als das, was sie bei der Frau gesehen hatten. Wenn sie sich jedes dieser Schicksale zu Herzen genommen hätten, wären sie daran zerbrochen. 

Als sie an der Base ankamen, versammelten sich gerade die Teams vor dem Gebäude. Sean warf ihnen einen wütenden Blick zu und John schnauzte ihnen zu, dass sie fünf Minuten Zeit bekommen würden, um sich umzuziehen. Auf dem Weg in die Base verdrängte Wesley die Gedanken, die ihn beschäftigt hatten. Ab jetzt zählte nur noch das Training, nicht mehr und nicht weniger. Er musste diesen Tag trotz Schlafmangels hinter sich bringen, ohne John weiter zu verärgern. 

Erst Stunden später, kurz vor Sonnenuntergang, kamen sie wieder an der Base an. Seine Sachen waren tropfnass, ihm war nicht nur kalt, ihm war eiskalt. Das Wasser der San Diego Bay war heute gefühlt noch kälter gewesen als sonst und der Sand des Strandes war in jede Hautfalte gekrochen. Gemeinsam mit Terence hatte er nicht nur Extrarunden im Wasser drehen müssen, man hatte sie außerdem gleich mehrfach immer wieder auf die Düne gehetzt, als Strafe für ihre Verspätung. Seine Lunge brannte immer noch. Als er sich mit den Fingern über die Augenlider strich, verteilte er den Sand in seinen Augen, was ein unerträgliches Brennen auslöste. Neben all den üblichen Schmerzen, die beim Training immer wieder auftauchten, hatte sein Kollege Bear ihn im Nahkampftraining so zu Boden geschickt, dass seine Schulter selbst jetzt, Stunden nach der Trainingseinheit, noch Probleme machte. 

»Ey Casanova, Sticks, kommt mal rüber, ich dusch euch ab, dann verteilt ihr den Mist nicht im ganzen Gebäude.« An der Seite des alten Hotels stand Lexi Walker. Die Fünfund-zwanzigjährige war aktuell die einzige Frau im Team und dafür berüchtigt, Haare auf den Zähnen zu haben. Sie weigerte sich immer noch, sie mit ihrem Klarnamen anzusprechen. Er selbst sah seit einiger Zeit davon ab, seine Kollegen mit Funknamen zu nennen, wenn sie unterwegs waren. Hier in den Staaten gab es keinen Grund, sich hinter einem ausgedachten Namen zu verstecken. In Afghanistan war das anders gewesen. Dort hatte er seinen richtigen Namen über Monate nicht gehört. 

Terence trat an ihm vorbei auf ihre Kollegin zu, die bereits den Gartenschlauch in der Hand hielt, der hier nur den Zweck erfüllte, sich kurz zu waschen, sollte das Training mal wieder sandiger geworden sein. Es waren jedoch die wenigsten, die ihn tatsächlich nutzten. Oft war es nicht zu übersehen, von wo sie gekommen waren, wenn sie ins Gebäude traten. Zusätzlich zum Sand trugen sie oft auch den Geruch des Meeres in die Base. Er beobachtete Terence dabei, wie der sich das Shirt über den Kopf zog und seine Schuhe öffnete. Nach wenigen Sekunden stand der blonde, guttrainierte Mann, nackt wie Gott ihn geschaffen hatte vor Lexi, die völlig unbeeindruckt blieb, als sie den Wasserstrahl auf ihren gemeinsamen Kollegen richtete. Wesleys Gedanken schweiften ab, als er zusah, wie Terence sich von ihrer Kollegin abduschen ließ und schließlich auch seine Kleidung grundreinigte. Andere Frauen würden wahrscheinlich mit offenem Mund dastehen und Terence anschmachten. Sie würden jeden Muskel zählen und die Tätowierungen genau studieren. Lexi tat, als wäre es völlig normal, dass Terence nackt vor ihr stand. Wesley wusste jedoch, dass seine Kollegin schon mit jedem von ihnen eine Bettgeschichte gehabt hatte, und er war da keine Ausnahme. Weder sie noch seine Kollegen machten einen Hehl aus diesen kurzfristigen Beziehungs-geschichten.

»Ey, hör auf zu träumen.« Terence rief ihm die Worte zu, als er mit seinen nassen Sachen unter dem Arm in der Base verschwand. Im nächsten Augenblick traf ihn der eiskalte Wasserstrahl und Lexi lachte auf. 

»Vergiss es, ich geh duschen.« Er wandte sich ab, was Lexi dazu veranlasste ihm einen Fluch hinterherzuschicken. 

3.

Das Schnarchen ihrer Zimmernachbarin, die man kurz vor Beginn der Nacht auf ihr Zimmer gebracht hatte, machte June von Stunde zu Stunde mehr zu schaffen. Es war ein nervtötendes Gurgeln, mit dem normalen Schnarchen vieler Männer nicht zu vergleichen. Der Klang hatte was von einem verstopften Abfluss, durch den das Wasser nur stoßweise entweichen konnte. Je mehr Vergleiche June zu anderen Geräuschen zog, desto weniger war an Schlaf zu denken. 

Eine Wasserleitung, die mit Lufteinschlüssen zu kämpfen hatte. 

Ein alter Heizkörper, der rauschend an einem kalten Wintertag zum Leben erwachte. 

Einer der Art, wie sie ihn in ihrer ersten Mietwohnung in Lakeside gehabt hatte. Vierter Stock, nur wenige Quadratmeter. Ein Bett, ein Stuhl und eine kleine Küche, die eigentlich keine gewesen war. Der Winter war damals kalt gewesen und die Heizung hatte es nicht geschafft, ihr winziges Reich aufzuwärmen, weil sich mehr Luft als Wasser in der Leitung befunden hatte. Die Beanstandungen bei ihrem Vermieter waren ungehört geblieben, und da sie sich nie getraut hatte, das Problem selbst zu beheben, hatte sie entweder in eine Wolldecke gehüllt auf dem Bett gesessen oder ihre Tage in der Bibliothek oder einem kleinen Café verbracht. 

Sie hatte viel gelesen in diesem Winter. Notgedrungen, denn sie wäre sonst nicht in der Bibliothek geduldet worden. Aber die Geschichten hatten sie von dem kalten Winter und ihrer Einsamkeit abgelenkt und ihre Freizeit gefüllt. Sie hatte studieren wollen, aber den Plan hatte sie über den Haufen geworfen, als ihr klar geworden war, was ein Zimmer in San Diego kostete. Also hatte sie sich einen Job gesucht, ihren Eltern in Tucson verschwiegen, dass sie ihr Studium schon nach wenigen Wochen geschmissen hatte, weil es unmöglich gewesen war, zwischen Lakeside und San Diego zu pendeln und zu arbeiten, und ihr eigenes Geld verdient. Erst an der Kasse eines Einkaufszentrums, dann als Bedienung in einem Eiscafé und ihr letzter Job war der in einem Restaurant gewesen, wo sie als Mädchen für alles zwar gut bezahlt worden war, aber auch wirklich jede Arbeit hatte erledigen müssen. Ihr Chef hatte sie immer als seine rechte Hand bezeichnet. Als die Frau – ohne die, wie er ständig gesagt hatte – der Laden nicht mehr funktionieren würde und das nach nicht einmal einem halben Jahr. Die Arbeit hatte ihr trotz der Dinge, die sie nicht leiden konnte, Spaß gemacht. Es hatte sie tatsächlich ausgefüllt und sie hatte die Zeit genossen. Sie hatte sogar darüber nachgedacht, ihren Eltern von ihrem abgebrochenen Studium zu erzählen, um endlich das Schauspiel zu beenden, das sie solange hatte aufrechterhalten müssen. Vielleicht hätte sie auch eine Ausbildung beginnen können, schließlich hatte ihr Chef sie doch in höchsten Tönen gelobt. 

Es war alles so perfekt gewesen. Bis zu dem Tag, an dem Mister Robins aufgetaucht war. Erst kam er nur einmal die Woche, dann täglich. Immer öfter verschwand ihr Chef mit ihm in einem Nebenzimmer. Dorthin hatte sie Kaffee oder alkoholische Getränke bringen müssen. Ihr Chef hatte teilweise Stunden mit dem Mittfünfziger verbracht und war meist ungewohnt wortkarg aus dem Raum gekommen, um dann in der Küche zu verschwinden. Dann hatte Mister Robins sich nach vorne gesetzt. So, dass er gut im Blick hatte, wer das Restaurant betrat und was sie tat. Jedes Mal waren dann seine Hände an ihrem Hintern gelandet, wenn sie an ihm vorbeigekommen war, was sie immer mit einem gezwungenen Lächeln abgetan hatte. Auch wenn es selten war, begegnete sie doch ab und an aufdringlichen männlichen Gästen. Dann hieß es, bis zu einem bestimmten Punkt Ruhe bewahren. Hin und wieder hatte sie solche Tische an den einzigen männlichen Kollegen abgegeben, wenn er Dienst hatte. Ansonsten hatte sie die Zähne zusammengebissen und gehofft, dass die Gäste bald gingen. Einen Klaps auf den Hintern und Flirtversuche konnte sie abwehren. Was Mister Robins jedoch getan hatte, war zu viel gewesen … zumindest hatte sie es so empfunden. Er hatte sie am Handgelenk gepackt und zu sich auf den Schoss gezogen. Mehrfach hatte er versucht, sie zu küssen, einige Male war es ihm auch gelungen, weil er sie festhielt. Es hatte sie angewidert. Er hätte ihr Vater sein können. Das Schlimmste an der Situation war der Umstand, dass ihr Chef nichts gegen diese Annäherungsversuche unternommen hatte. Schlimmer noch, er hatte sie erlaubt. Mister Robins hatte Geld an ihren Chef gezahlt, damit er sich nicht einmischte, zumindest hatte sie das immer gedacht.

June hatte nicht gewusst, was sie tun sollte. Sie benötigte den Job und hatte Angst gehabt zu kündigen. Denn es war nicht einfach, einen neuen Job zu finden. Schließlich hatte sie nichts gelernt, und als billige Aushilfe wollte sie nicht arbeiten. Also hatte sie ihren Chef zur Rede gestellt. Ein Fehler, wie sie heute wusste. Wobei, nein ein Fehler war es nicht gewesen. Es hatte ihr nur gezeigt, was sie ihrem Chef wert war. 

Nichts. 

Im Prinzip nur das, was Robins für sie zahlen wollte. Bis sie die Worte ihres Chefs verstanden hatte, war es jedoch zu spät gewesen. Er hatte nicht einmal auf ihre Vorwürfe reagiert. Seine Hand hatte sich wie ein Schraubstock an ihren Unterarm gelegt und sie hatte fassungslos zugelassen, dass er sie in das kleine Hinterzimmer gezerrt hatte. In den ersten Stunden, nachdem die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen und verriegelt worden war, hatte sie nicht glauben wollen, was passierte. Immer wieder spürte sie die Hoffnung, dass er sie wieder rauslassen und ihr eine Erklärung liefern würde. Schließlich hatte er ihr über Monate immer wieder gesagt, dass sie eine tolle Arbeit machte und er auf keinen Fall auf sie verzichten wollte. Sie hatte sich nicht erklären können, warum er sie einfach in diesem kleinen beschissenen Hinterzimmer eingesperrt hatte. Dieser kleine Raum mit dem klischeehaften roten Sofa und dem riesigen Flatscreen, auf dem sonst immer Football lief, war zu ihrem Gefängnis geworden. Der weiche Teppich am Boden war einige Tage ihr Schlafplatz, weil sie sich nicht mehr getraut hatte, sich auf das Sofa zu legen, zu sehr hatte es sie angewidert.

June lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, ihr stiegen Tränen in die Augen. Schwer schluckend musste sie sich zwingen, nicht verzweifelt aufzuschluchzen. Ihr Blick wanderte verschwommen auf die Tür des Krankenzimmers. Hier war sie sicher. Niemand wusste, wo sie war. Solange sie keinem sagte, wer sie war, würde sie doch nicht gefunden werden, oder? 

Die Frau neben ihr grunzte im Schlaf und drehte sich auf die Seite. 

June fiel es schwer, sich zu beruhigen. Aber um Hilfe bitten wollte sie nicht. Zu groß war die Angst vor Fragen, die sie nicht beantworten wollte. Wie spät war es? Draußen war es dunkel. Es musste mitten in der Nacht sein. Sie schob ihre Füße aus dem Bett und ging zur Zimmertür. Ohne zu wissen, wohin sie wollte, öffnete sie die Tür und trat barfuß auf den menschenleeren Flur. Langsam machte sie sich auf den Weg zum Fahrstuhl. Nervös drückte sie dort immer wieder auf den kleinen runden Knopf. Das nach unten deutende Dreieck blinkte bei jedem Druck auf. June begann, von einem Fuß auf den anderen zu treten, da eine unerklärliche Unruhe nach ihr griff. Sie konnte ihren Herzschlag in den Ohren hämmern hören und bildete sich ein, einen warmen Atem in ihrem Nacken zu spüren. Nein, auf keinen Fall würde er sie nochmals berühren. Nie wieder. Schon gar nicht würde er sie dorthin bringen, wo sie hinsollte. Sie war doch kein Stück Vieh, das man einfach verkaufen konnte. 

Die Fahrstuhltür öffnete sich endlich. Schwer durchatmend trat sie in den Fahrstuhl und zwang sich, ihren Atem zu kontrollieren. Das hier war ein Krankenhausfahrstuhl. Hier war sie in Sicherheit. Sie drückte den Knopf, der sie in das Erdgeschoss bringen würde, und lehnte sich an die kalte Metallwand. Erst jetzt wurde ihr klar, dass ihr Shirt am Rücken völlig durchgeschwitzt war. Sie schüttelte den Kopf und wollte die Bilder loswerden, die nach ihr griffen. Verdammter Mist. Zitternd starrte sie auf die Anzeige über der Tür. Noch zwei Stockwerke. Als sich die Türen endlich öffnete, taumelte sie in den Gang. Unfähig, noch klar zu sehen, eilte sie Richtung Ausgang, bis sich plötzlich ein riesiger Mann vor ihr aufbaute. Er trug einen weißen Kittel und wollte nach ihr greifen. Drohend bewegte sich sein Arm auf sie zu. 

»Nein.« Energisch schüttelte sie den Kopf und machte einige Schritte nach hinten. 

»Miss, Sie haben doch gar keine Schuhe an.« 

June blinzelte mehrfach, als sie die ruhige helle Stimme des Mannes vernahm. Langsam wurde das Bild vor ihren Augen klarer. Der Mann war tatsächlich sehr groß, aber auch sehr schlank und jung. Er richtete seine Aufmerksamkeit kurz auf ihre Füße, dann sah er ihr direkt in die Augen. 

»Miss, wollen Sie nicht wieder auf Ihr Zimmer gehen? Oder kann ich Ihnen irgendwie helfen? Haben Sie sich verlaufen?« Vorsichtig machte er einen Schritt auf sie zu. 

»Nicht anfassen.« Heiser brachte sie die Worte hervor. Worte, die sie in den letzten Tagen schon so oft gesagt hatte, denen aber nie jemand nachgekommen war.

»Habe ich nicht vor. Ich möchte nur nicht, dass Sie barfuß nach draußen gehen. Und auch hier drinnen sollten sie nicht barfuß laufen. Hier kann auch mal eine Nadel am Boden liegen, auch wenn sie es nicht sollte. Und … ach Sie wissen sicher, worauf ich hinauswill.« Er zuckte mit den Schultern. »Oder wollen Sie sich erstmal ein bisschen setzen?« Nun deutete er auf eine Stuhlreihe, wo bereits zwei junge Männer saßen. Einer hielt seine Hand krampfhaft fest, während der andere auf seinem Handy herumtippte. June musterte die Männer eine Weile. 

»Die sind okay. Der eine hat zu tief ins Glas geschaut und stand sich dann selbst im Weg und der andere versucht gerade zu klären, wer die Behandlung zahlen kann. Aber sie sind echt okay«, erklärte der Mann ruhig und glaubhaft. 

»Sie sollten sich endlich angewöhnen, Patientendaten für sich zu behalten.« 

Eine rothaarige Mittvierzigerin kam mit ausladenden Schritten auf sie zu und der junge Mann vor ihr zog schuldbewusst den Kopf ein.

»Sehen Sie zu, dass Sie an Ihren Arbeitsplatz kommen«, ranzte die Schwester den Mann vor June an und wandte sich dann ihr zu. »Und wo kommen Sie her?« Plötzlich hatte die Schwester eine so sanfte Stimme, dass June verwundert den Blick auf die Frau richtete. Eine Sekunde dachte sie darüber nach, ihr zu antworten, dann deutete sie aber einfach nur auf den Fahrstuhl. 

»Dann sollten Sie wieder auf ihr Zimmer gehen. Es ist mitten in der Nacht, da würden Sie draußen nur noch mehr auffallen als ohnehin schon.« Sie zwinkerte ihr kurz zu. »Soll ich Sie begleiten?« 

June schüttelte den Kopf. Nur kurz ließ sie ihren Blick nochmals auf den Parkplatz vor der Klinik wandern. Wenn sie gehen wollte, müsste sie wohl wirklich an Schuhe denken. Bisher hatte man ihr vom Krankenhaus nur das Shirt gestellt, welches sie trug, und eine weite Jogginghose. Vielleicht sollte sie nach Schuhen fragen.