Team I.A.T.F 18

Vanished – Dunkle Schatten

Leseprobe

1.

Eine zuknallende Tür sorgte dafür, dass Ryan DeSanto sich entnervt in seinem Schreibtischstuhl nach hinten lehnte und seinen Blick auf Sean Harrison richtete, der unbeirrt weiter an einem Dokument schrieb. 

»21, 22, 23 …« zählte sein Kollege murmelnd, ohne den Kopf zu heben.

»Dir ist echt nicht mehr zu helfen, Bitch!« 

Ryan stieß den Atem aus, als er das Brüllen von Joe Burnett vernahm.

»Dein Job, dein Team.« Sean sah kurz grinsend auf. 

»Bitch ist dein Problem.« Ryan schüttelte energisch den Kopf. Mit der biestigen Fünfundzwanzigjährigen tat er sich nicht nur einfach schwer, wenn es nach ihm gehen würde, hätte er sie schon lange vor die Tür gesetzt. Aber in diesem Team schienen nicht nur die Uhren anders zu ticken, sondern auch das Verständnis von Moral war ein völlig anderes, als in dem Team aus dem er gekommen war. Ab und an bereute er seinen Entschluss, dass Seal Team 5 verlassen zu haben, um in der I.A.T.F einen neuen Weg zu gehen. Dass er innerhalb weniger Wochen als Captain den beschissensten Posten haben würde, den man haben konnte, hatte er in seine Planungen nicht mit einbezogen. Captain hatte er nie werden wollen. Aber nachdem John Thomson bei einem Einsatz verunglückt war und nun als Missed in Action galt, hatte er sich angeboten, das Team zu leiten, da Darrel White, der deutlich mehr Führungsqualitäten besaß als er, sich psychisch nicht in der Lage sah, diesen Posten zu übernehmen. Dabei hatte der Australier als Major in der SASR eine beachtliche Laufbahn vorzuweisen, ehe er in die Staaten gekommen war. Alles hatte so ausgesehen, als würden sie John schnell wieder hier begrüßen können, nachdem er tatsächlich über Tage spurlos verschwunden gewesen war. Er hatte sich gemeldet und ein Flugzeug hatte ihn holen sollen. Alles hatte nach einem Happy End ausgesehen, bis zu dem Augenblick an dem John nicht am Flughafen in San Diego gelandet war, wo man ihn hatte abholen wollen. Niemand wusste, wo er geblieben war, denn im Flieger hatte er nicht gesessen. Seitdem verliefen alle Versuche, ihn zu kontaktieren oder zu finden, im Nichts. Dieses Mal scheinbar endgültig. Dieser Umstand sorgte für permanente Spannungen in den Teams.

Joe Burnett, der gerade hinter Lexi Walker hergebrüllt hatte, besaß eine ellenlange Liste an Verfehlungen, die dafür gesorgt hätte, dass er den Posten des Captains wahrscheinlich ohnehin nicht bekommen hätte. Keiner hatte diesen Job haben wollen. Niemand wollte in Johns Fußstapfen treten, und jeder hoffte, dass John bald zurückkehrte. 

»Das ist ein Problem, mit dem man zu leben lernt.« Grinsend sah Sean auf und bezog sich auf Lexis Ausbruch. 

»Hört, hört. Irgendwie war ich der Meinung, dass Sean Harrison normalerweise anders reagieren würde.« Ryan erhob sich. Es war nicht nur ihm aufgefallen, dass Sean sich veränderte. Er kannte den Vierunddreißigjährigen im Prinzip nur aus Erzählungen, in denen er als knallharter Ausbilder gelobt aber auch gefürchtet worden war. In Ryans ersten Wochen in der I.A.T.F hatte Sean sich genau so gegeben, wie er es erwartet hatte, weswegen es oft laut zwischen ihnen geworden war. Aber seit John nicht mehr da war, hatte sich irgendetwas gewaltig verändert. Der Älteste der drei Harrisons wirkte oft nachdenklich und hatte, seit das Team ohne John zurückgekehrt war, niemanden mehr angebrüllt oder zur Schnecke gemacht, was doch eigentlich zur Natur von Sean Harrison, dem cholerischen SEAL gehörte. Es war erschreckend, den Mann so in sich gekehrt zu sehen. Überhaupt war Ryan der Meinung, dass sich die Stimmung, seit John verschollen war, rapide verändert hatte. Jeder im Team ging anders mit dem Verlust um, von dem niemand wusste, ob es wirklich einer war. Vielleicht stand John eines Tages einfach wieder vor der Tür. 

Viele waren in sich gekehrt und bei der Arbeit verbissener, als er es noch zuvor erlebt hatte. Andere, zu denen auch Lexi zählte, waren absolut unberechenbar geworden. Es war gerade bei ihr nicht mehr abzusehen, welche Worte zu einer Explosion führen konnten.

Ryan hatte das Team aus den Bergen geholt, er hatte Lexis Blick gesehen, Darrels Verzweiflung, der sich ebenfalls stark verändert hatte, und die schmerzverzerrten Gesichter der anderen. Lexi hatte alles gegeben, um das Team in den Stunden, in denen sie eingeschlossen gewesen waren, zusammenzuhalten. Ryan hatte den Eindruck, dass gerade sie am meisten unter dem Geschehenen litt. 

Ryan erhob sich, als eine weitere Tür donnernd ins Schloss geworfen wurde und er Joe fluchen hörte. Er ging auf die Bürotür zu und spürte Seans Blick im Rücken. Auch sein Kollege war neugierig auf das, was diesen erneuten Ausbruch verursacht hatte. Er hoffte, dass Sean in den nächsten Tagen das Gespräch mit Lexi suchen würde, um zu klären, was los war. Die Tür öffnend atmete er tief durch, trat auf den Flur und entdeckte Joe, der starr mitten auf dem Gang stand und die geschlossene Eingangstür anstarrte. Während er die wenigen Schritte auf den Commanding Officer zuging, legte Ryan sich Worte zurecht, mit denen er Joe ansprechen wollte. Aber irgendwie fühlten sich alle falsch an. Er könnte ihn anfahren, was der Krach zu bedeuten hatte, er könnte fragen, ob Lexi Hilfe benötigte, oder er könnte einen anderen Befehl erteilen. Keine dieser Varianten erschien ihm richtig. 

»Frag nicht, ich weiß es auch nicht.« Joe drehte sich zu ihm um, sah ihn kurz an und ging ohne weitere Worte an ihm vorbei. Damit hatte Ryan nicht gerechnet. Es hatte den Eindruck gemacht, dass Joe sein Kommen nicht bemerken würde. Er hatte geistig abwesend gewirkt. »Wir haben das Killhouse für morgen und auf dem Parcours ist auch Platz. Heute ist Theorie angesetzt, daher …« Joe deutete auf den Raum, aus dem er gekommen war. Er wollte offensichtlich zum Alltag übergehen.

»Aber doch nicht mit dem Alpha-Team zusammen.« Ryan kannte den Plan der kommenden Tage. Das Team von Sean, zu dem auch das wilde Biest zählte, dass gerade das Gebäude verlassen hatte, hatte einen anderen Trainingsplan als sein Team, somit konnte der Streit nicht in dem Raum entstanden sein. 

»Ne.« Joe hatte die Tür bereits erreicht.

»Und warum rennst du dann hinter Lexi her, wenn sie wieder ihre fünf Minuten hat? Wo kam die überhaupt her?« Ryan schüttelte verständnislos den Kopf.

»Sie hat ihr Handy heute Morgen drinnen liegen lassen.« Joe hatte nun die Tür geöffnet und deutete in den Raum, in den er in den nächsten Sekunden verschwinden würde und in dem das gesamte Bravo-Team saß. Mit ausladenden Schritten erreichte Ryan seinen Kollegen, stellte sich vor Joe und schloss die Tür wieder. Der gerade ausgesprochene Satz war so seltsam, dass Ryan sich sicher war, etwas Wichtiges verpasst zu haben. Lexi ließ ihr Handy zum einen nie aus den Augen, zum anderen würde sie es nicht im Konferenzraum nutzen. 

»Erzähl mir keinen Mist, Gambit. Ihr Handy, hier? Im Konferenzraum, den ihr sonst meidet wie Feuer das Wasser?« Ryan deutete mit dem Kopf auf die Tür hinter sich. »Das ist Blödsinn.« Warum auch immer Joe ihm diese Geschichte auftischte, er würde es jetzt in Erfahrung bringen. Er war fest davon überzeugt, dass Lexi ihr Handy nicht liegengelassen hatte. Sie gehörte zu der Gattung Mensch, die durchgehend erreichbar war, außerdem war es mehr als unwahrscheinlich, dass sie irgendwann morgens im Konferenzzimmer gewesen war. Was sollte man alleine in diesem muffigen Raum? Und dann noch das Handy vergessen? Nein. Ryan musterte Joe, der mit den Augen rollte. »Du konntest schon besser lügen.« Ryan konnte Lügen nicht leiden. Weder im Privaten noch auf der Arbeit. Lügen im privaten Bereich empfand er allerdings als nicht so schlimm. Auf der Arbeit konnten sie fatale Folgen haben. Hier musste er den anderen blind und unter allen Umständen vertrauen können. Da konnte auch eine Lüge, die nichts mit ihrer Arbeit zu tun hatte, dafür sorgen, dass das Vertrauen gebrochen wurde, was wiederum zu großen Problemen führen konnte. Lügen hatten in ihrem Job nichts zu suchen. 

»Ihr dämliches Handy nervt nur noch. Ewig klingelt es und nie nimmt sie das Gespräch an. Gerade wenn man abends mal seine Ruhe haben will, klingelt es permanent. Irgendwann dann nur noch zwei oder drei Mal, ich denke, sie drückt die Gespräche einfach weg. Beim Frühstücken, wenn sie die News liest, oder es morgens irgendwann einschaltet, ein permanentes Gebimmel. Jedes beschissene Mal verdreht sie die Augen und drückt es weg. Warum zum Teufel sperrt sie die Nummer nicht? Dann wäre endlich Ruhe«, platzte es aus Joe heraus. 

»Ähm«, Ryan strich sich übers unrasierte Kinn. »Es geht dich nichts an, mit wem sie redet und mit wem nicht. Und woher meinst du zu wissen, dass sie die Anrufe wegdrückt? Vielleicht nimmt sie sie auch entgegen. Oder hängst du durchgehend mit dem Ohr an der Wand, um mitzubekommen, mit wem sie redet?« 

»Jetzt fang du nicht auch noch an.« Joes Unmut war nicht mehr zu überhören und Ryan war klar, warum Lexi aus der Haut gefahren war. Ehe Ryan ihn jedoch erneut darauf hinweisen konnte, dass er sich nicht in Lexis Telefongewohnheiten einmischen sollte, atmete er tief durch und sprach weiter. »Sie ist echt seltsam in letzter Zeit.« 

Ryan hob interessiert die Augenbrauen. Seltsam waren aktuell viele von ihnen. 

»Seltsamer als sonst. Ich denke, es ist irgendwas Wichtiges, aber sie lässt nicht mit sich reden …« Joe zuckte hilflos mit den Schultern. 

»Wie immer«, schlussfolgerte Ryan. »Geh rein. Ich spreche mit Sean, der soll mal mit ihr reden.« Ryan war sich nicht sicher, ob diese Entscheidung richtig war. Er wusste nur, dass er dafür sorgen sollte, dass Joe jetzt nicht zu Lexi ging, damit sie ein paar Minuten für sich hatte, um runterzukommen. So professionell sie auch auf Einsätzen war, so kompliziert war sie im normalen Leben abseits der Kriegs- und Krisengebiete. Joe antwortete ihm nicht, er zog mit mehr Kraft als nötig die Tür auf und ließ ihn im Flur stehen. Einen Moment starrte Ryan in Richtung der Ausgangstür, ehe er sich entschied, wieder ins Büro zurückzukehren und sich dort dem Papierkram zu widmen. Lexis Probleme waren nicht seine. Wenn überhaupt waren es die von Sean.

»Na, hat sie euch gefressen?« Sean sah nur kurz vom Bildschirm auf, als Ryan das Büro betrat. 

»Du solltest dringend mit ihr reden.« Ryan setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl. Dieser Platz war ihm immer noch zuwider und er war froh, dass er spätestens am kommenden Tag wieder mit dem Rest des Teams trainieren konnte. Heute würde er sich noch mal mit dem Unfall in Pakistan auseinandersetzen und schauen, ob es irgendwelche Hinweise darauf gab, wo sein Vorgänger sich befand. Er hatte nämlich nicht vor, ewig auf diesem Stuhl zu sitzen. 

»Mit Lexi reden? Über etwas Privates?« Seans Kopfschütteln und sein Gesichtsausdruck machten klar, was sein Kollege von dieser Aufforderung hielt. »Über was Privates kannst du höchstens mit ihr reden, wenn du ihr die Kündigung in die Hand drücken oder mit ihr ins Bett hüpfen willst, aber sicher nicht wegen einer Lappalie. Was ist überhaupt los?« 

Ryan fiel auf, dass Sean nicht nur den Blick gehoben hatte, sondern ihn nun tatsächlich interessiert ansah. Das Wohl und der Erfolg der Teams waren eng miteinander verknüpft. Private Sorgen könnten schnell zu Komplikationen bei Einsätzen führen, da die Konzentration darunter leiden konnte, wenn man an das dachte, was zu Hause an Problemen auf einen wartete. Er selber hatte auch schon wegen privater Probleme nicht an einem Einsatz teilgenommen.

»Keine Ahnung. Joe ist aufgefallen, dass Lexi wohl im Moment mehr Anrufe bekommt als sonst. Er vermutet, dass sie bisher nicht einen davon entgegengenommen hat.« Ryan lehnte sich nachdenklich in seinem Stuhl nach hinten. Eigentlich waren abgelehnte Telefonate ja kein Grund, um aus der Haut zu fahren. Wenn es Anrufe von irgendwelchen Vertretern waren, könnte man die Nummern blockieren. Freunden könnte man die Meinung sagen, und Ryan war sich sicher, dass Lexi genau das machen würde.

»Das ist doch albern.« Sean schüttelte belustigt den Kopf.

»Sag den beiden, dass sie sich kindisch verhalten. Beziehungsweise sag ihr das, mit Joe hab ich gesprochen. Sie ist dein Problem.« Ryan richtete seinen Blick wieder auf den Bildschirm. Auf keinen Fall würde er nun irgendwelche Spekulationen zu Lexis Launen aufstellen. Erstens war es nicht seine Aufgabe und zweitens war sie nicht in seinem Team.

Trotzdem ließ ihm ihr Verhalten keine Ruhe. Irgendetwas war da, da war er sich sicher. Doch es war an der Zeit, dass er dieses Irgendetwas vergaß, schließlich gehörte es in Seans Team. Grübelnd gab er der Maus einen Stoß, da sein PC-Bildschirm bereits wieder auf Stromsparmodus geschaltet hatte. Er hatte sich zu lange mit Problemen beschäftigt, die ihn nichts angingen. 

2.

Lexi bemühte sich, tief durchzuatmen. Sie spürte ihren rasenden Puls und traute sich nicht, über die Schulter zum Eingang der Base zu schauen. Sie befürchtete, dass Joe gleich neben ihr auftauchen und weitere Erklärungen fordern würde. Dass ihr Verhalten ihm gegenüber unfair gewesen war, war ihr bewusst, aber sie konnte weder seine Blicke noch seine neugierige Art ertragen. Wahrscheinlich hegte er keine bösen Absichten, aber sie wollte nicht, dass er in ihrem Leben herumstocherte, nur weil plötzlich ein Teil ihrer Familie der Meinung war, mit ihr sprechen zu wollen. Sie wusste, dass niemand gestorben war, das hatte sie kontrollieren lassen. Also gab es keinen einzigen Grund, warum ihre Angehörigen sich meldeten. 

Dieses Problem könnte sie einfach lösen. Sie könnte die Nummer ihrer Tante blockieren, die seit Tagen immer wieder versuchte, sie zu erreichen. Dann würde sie nie wieder etwas von ihr hören. Aber Lexi wollte  ihre Tante nicht aus ihrem Leben ausschließen. 

Warum eigentlich nicht? 

Sie hielt ihr Handy immer noch in der Hand und sah auf das Display. Es war doch so simpel. Aber nein, irgendein komischer Teil in ihr spielte den Moralapostel und verhinderte, dass sie den Kontakt abbrach. Es machte keinen Unterschied, ob sie seit Jahren nichts von ihr gehört hatte oder nicht. Wenn sie die Nummer nun blockierte, würde sich nichts ändern. Warum zum Teufel tat sie es nicht? Es war kein Mord, den sie begehen wollte und auch kein anderes Verbrechen, es wäre nur das Blockieren einer Person, die sich Jahrzehnte lang nicht um sie gekümmert hatte. 

Nach den ersten Anrufen hatte Lexi sich erkundigt, zu wem die Rufnummer gehörte, die ohne Unterlass versuchte, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Es wäre besser gewesen, wenn sie diese Informationen nie eingeholt hätte, dann wäre die Nummer längst auf der Liste der blockierten Anrufer. Aber ihre Neugier hatte das verhindert. Niemand aus ihrer Familie war es wert, dass sie nun hier stand und sich solche Gedanken machte.

Lexi massierte mit ihren Fingern ihre Schläfen, wo sich in diesen Minuten ein penetranter Schmerz ausbreitete. Sie wollte keine Antwort auf diese Frage finden. Sie atmete tief durch. 

Heute war es kühler als die letzten Tage und der Himmel passend zu ihrer Stimmung bewölkt. Schon in wenigen Monaten würden wieder überall die Familien zusammen unter Tannenbäumen sitzen und Weihnachten feiern. Die vergangenen Jahre hatte sie dieses Fest mit ihren Kollegen in Bagram verbracht. Zwischen einem Plastiktannenbaum und extra Bier. Mit einem guten Essen und Worten der Vorgesetzten, die sie schon damals nicht interessiert hatten. Dieses Mal würde es das erste Mal seit sehr langer Zeit sein, dass sie zum Fest wieder in den Staaten wäre. Wie sie es allerdings verbringen würde, wusste sie noch nicht. 

Ein vorbeifahrendes Auto riss sie aus den Gedanken, die sie für sich schnaubend beendete. Weihnachten. Sie lachte auf. Sie würde hierbleiben und fernsehen. Familie war etwas, was sie weder zu Weihnachten noch sonst irgendwann benötigte. Sie warf einen Blick auf ihr Handy und löschte die verpassten Anrufe. 

Nein, sie würde nicht zurückrufen. 

Irgendwann würde ihre Tante aufgeben. Sie nahm sich vor, weitere fünf Minuten genau hier, vor der Base, stehen zu bleiben, um sich zu sortieren und dann zurückzugehen. Um Joe würde sie in den nächsten Tagen einen noch größeren Bogen machen. Auch wenn er ihr eine große, wenn nicht sogar die einzige Stütze gewesen war, als man sie verletzt aus Afghanistan ausgeflogen hatte und er eine gefühlte Ewigkeit bei ihr im Militärkrankenhaus in Deutschland an ihrer Seite verbracht hatte, wollte sie die Distanz, die es zwischen ihnen gegeben hatte, zurück. Sie hatte ihn zu dicht an sich herangelassen. Viel zu dicht. Sie hatte ihn geküsst und ihm so falsche Hoffnungen gemacht, obwohl er genau wissen müsste, wie sie zu Beziehungen stand. Nämlich gar nicht. Schon gar nicht unter Kollegen. Und Joe, das war ihr vor Wochen klar geworden, wollte sie als guten Freund behalten. Sie benötigte ihn als Freund und Kollegen, dem sie blind vertrauen konnte. Sie wollte ihn nicht als eifersüchtigen, neugierigen Lebensgefährten. Er war jetzt schon zu neugierig. 

»Hey.« 

Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken, als sie Syrells Stimme vernahm. Dass er einen knappen Meter hinter ihr stand, hatte sie nicht nur nicht bemerkt, sondern trieb auch ihren Puls in die Höhe. Sie wollte sich umdrehen, doch etwas hielt sie zurück. Sie schluckte und richtete ihren Blick auf den Boden, wo sie neben sich die Füße von Syrell entdeckte. Verfluchter Mist. Wann war er dahin gegangen. Dieser Typ war so unheimlich, dass sie gerade nicht einmal seine Schritte gehört hatte. Die ersten Monate hier hatte sie die Erzählungen über ihn und seine Frau immer wieder belächelt, ebenso die teils scharfen Abweisungen, die er zeitweise von Kollegen kassiert hatte, wenn sie nicht wollten, dass er ihnen in die Augen sah. Inzwischen gehörte sie selbst zu denen, die sich in Momenten wie diesem nur ungern mit ihm unterhielt. Er war ein ausgezeichneter Soldat und Kollege, aber wenn es um Gefühle ging, hielt sie ihn, soweit es ging, auf Distanz. 

»Ich komme gleich.« Klangen ihre Worte so, wie sie es wollte? Ohne Zweifel, ohne Regung? 

»Ok.« Seine tiefe Stimme ließ sie zur Seite sehen. Er drehte sich bereits um, was dafür sorgte, dass sie verwundert die Luft anhielt. Sie hatte mit einem langen Gespräch gerechnet. Darüber, warum sie so reagiert hatte, wie sie reagiert hatte und was es mit ihrem Handy auf sich hatte. 

»Vielleicht ist es auch wichtig, wenn niemand gestorben ist.« Syrell drehte sich zu ihr um. Er schaute sie prüfend an. Sie bildete sich ein, dass seine braunen Augen immer größer wurden. Da war nichts Wichtiges. Selbst wenn jemand verstorben wäre, würde es sie nicht interessieren. Ihre Geschwister waren jung und würden höchstens bei einem Unfall umkommen. Und sie hatte die Todesanzeigen der letzten Wochen und Tage aus Perrytown und Hope genau studiert. Selbst wenn jemand krank wäre, wäre es ihr egal. 

»Das solltest du dir noch mal überlegen.« Syrells Stimme hallte dunkel in ihrem Kopf nach. Es war eine Tonart, die in ihr ein kribbelndes Vibrieren verursachte. Erst als er sich abwandte, gelang es ihr, ruhiger zu atmen. Ihr leises Arschloch erreichte ihn sicher nicht. Er hatte sie tatsächlich überrumpelt und dazu gebracht, ihn anzusehen. Genau das hatte sie doch verflucht noch mal nicht machen wollen. Den Mann mit dem dunkeln Pferdeschwanz, der nun in der Base verschwand, beobachtend, versuchte sie, ihre Gedanken zu erfassen. Es fühlte sich an, als kreisten sie in ihrem Kopf umher. Es war ihr unmöglich, auch nur eine ihrer Überlegungen in Worte zu fassen. Sie entglitten ihr immer wieder. Und sie war sich sicher, dass Syrell an diesem Umstand schuld trug. 

Stunden später hatte sie nicht nur den Weg zurück in die Base gefunden, sie hatte sich auch dem Training auf dem Parcours angeschlossen und sich bemüht Syrell aus dem Weg zu gehen. Sean war den gesamten Tag einmal mehr ungewöhnlich ruhig gewesen, dafür hatte sie immer wieder Ryan DeSanto gehört, der das Bravo-Team angebrüllt hatte. Im Alpha-Team herrschte seit kurzem eine ungewohnte Ruhe. Eine Starre, die sich täglich mehr in eine drückende Stimmung verwandelte, bei der sie nur darauf wartete, dass sie kippte. Sie war sich sicher, dass Sean irgendwann der Kragen platzen würde. Ihr Captain war schon zu lange still. Er gab Befehle, verbesserte sie, stellte sie zur Rede, nur die Art wie er es tat war ihr fremd. Er wirkte absolut halbherzig. 

»Bitch!« Sean riss sie aus ihrer Konzentration. Sie blieb mit einem Fuß in einem Reifen hängen und wäre um ein Haar vornüber gefallen. Irritiert lief sie weiter, sah aber zu ihrem Captain, der sie mit einer einzigen Handbewegung zu sich bestellte. War das nun die drohende Explosion? Würde sie sie mit voller Wucht abbekommen? Darauf hatte sie wenig Lust und bereitete sich darauf vor, ihrem Captain die Meinung zu sagen. Sie würde sich nicht als Prellbock anbieten. 

»Sir?« Sie blieb salutierend vor ihm stehen. Nur keine Angriffsfläche bieten, wiederholte eine innere Stimme ihren Plan.

»Rühren.« Er wandte sich von ihr ab. »Mitkommen.« Derselbe befehlende Ton wie zuvor sorgte dafür, dass sich in ihrem Nacken kleine Härchen aufstellten. Vor versammelter Mannschaft einen Anschiss zu kassieren war das eine, aber warum sollte sie ihm nun folgen. Schweigend und mit jedem Schritt damit rechnend, dass Sean sich zu ihr umdrehte und sie anfuhr, folgte sie ihm. Erst auf dem großen geteerten Platz vor dem Strandabschnitt, an dem sie gerade trainierten, blieb er stehen. 

»Ich hab einen Anruf bekommen.« Er drehte sich nicht zu ihr um und doch glaubte sie, dass ihr Herzschlag in diesem Augenblick aussetzte. Sie erwiderte nichts. Sie konnte nicht. »Ich wurde gefragt, ob du noch bei der Navy bist oder ob ich was über deinen Verbleib sagen könnte, da man keine Sterbeurkunde finden konnte.« Erst mit den letzten Worten hatte er sich zu ihr umgedreht. Die Arme hinter dem Rücken verschränkt stand er mit bohrendem Blick vor ihr. 

»Wer …?« Immer noch konnte sie keinen Gedanken fassen. Da waren gerade viele Fragen und nicht eine davon ließ sich ausformulieren, da jede dafür sorgen würde, dass ihr Captain und ihr Team Dinge über sie erfahren könnte, die niemand wissen sollte. 

»Die Polizei von Hope. Es hat eine Anfrage von deinen Angehörigen gegeben.« Die grünbraunen Augen ihres fast zwei Meter großen Gegenübers lagen nicht einfach prüfend neugierig auf ihr. Er forderte Antworten. Keine Ausflüchte wie sie es sonst tat und wie er es von ihr gewohnt war. Jetzt wollte er die Wahrheit und die Gründe, warum nach ihr gesucht wurde. Er würde nicht mehr locker lassen. Er hatte den Blick eines Bluthundes. Noch ruhig, aber doch angespannt. Eine falsche Frage, eine Äußerung, die wie eine Ausflucht klang, jedes falsche Wort, könnte dafür sorgen, dass sein heißer Atem direkt über ihr Gesicht strich, weil er Lügen riechen konnte. Dieses Gefühl hatte sie in seiner Gegenwart noch nie gehabt. 

»Wann?« Wie alt war diese Anfrage? Wusste Joe davon und war das der Grund, warum er ihr damit auf die Nerven ging, dass sie die beschissenen Anrufe entgegennehmen sollte? 

»Kurz bevor wir hierhin aufgebrochen sind.« Seans Haltung veränderte sich. Es sah aus, als würde man ihm eine Last von den Schultern nehmen und auch die Art, wie er sie ansah, entspannte sich. »Ich hab ihnen nur gesagt, dass du am Leben bist, ich aber keine weiteren Auskünfte geben darf. Lexi, da scheint irgendwem wirklich was daran zu liegen, dass du dich meldest. Mach es einfach.« Er wandte sich ab und ging an ihr vorbei. Erst als er einige Meter entfernt war, stieß sie die angehaltene Luft aus. Erst Joe, dann Syrell, nun Sean und das in einer Art, die sie nicht von ihm kannte. Warum war jemand aus ihrer Familie so scharf darauf, mit ihr zu reden? Sich umdrehend richtete sie den Blick auf den Parcours und den dahinter liegenden Ozean. Sie hoffte, dass sich irgendeine Art von Ruhe einstellte. Dass die Gleichgültigkeit, die sonst immer in Verbindung mit ihrer Familie eingetreten war, zurückkehrte. Aber es geschah das Gegenteil.

Diese Unruhe entwickelte sich bis zum Abend in einen Druck, dem sie kaum standhalten konnte. Selbst das Abendessen in der Base ließ sie ausfallen, stattdessen zog sie ihre Freizeitkleidung an und joggte durch die Stadt zum Strand, wo sie inständig hoffte, dass dieses drückende Gefühl, welches einfach nicht weichen wollte, endlich verschwand. Aber das passierte nicht. Außer Atem blieb sie an einem verlassenen Strandabschnitt stehen, die Sonne hatte sich vor einer Stunde verabschiedet und ihre nassgeschwitzte Kleidung sorgte bei jedem Windstoß für ein Frösteln. Verfluchte Scheiße! Mit dem Fuß in den Sand tretend hob sie den Blick. Das Wasser des Pazifiks lag dunkel vor ihr und hinter ihr befand sich der Wahnsinn der Großstadt. Laut, hell und nie schlafend. Auch sie hatte einige Wochen gebraucht, um sich hier wieder einzuleben. Schlaflose Nächte hatten ebenso dazugehört, wie durchzechte. Wieder hier in den Staaten zu sein, hatte sich erst fremd angefühlt, dann gut und nun verfluchte sie es, da sie viel näher an ihrer Vergangenheit war, als sie es je hatte sein wollen. 

Das Klingeln ihres Handys riss sie aus einer Trance, in der sie das an den Strand rollende Wasser beobachtet hatte.

»Verflucht, was wollt ihr?« Sie hatte nicht geschaut, zu wem die Nummer gehörte und es war ihr völlig egal, wen sie in diesem Moment so anfuhr. Sie war hergekommen, um Ruhe zu haben. Kein Joe, kein Sean, kein Team, keine aneinanderprallenden Billardkugeln und keine Dartpfeile. Ruhe. Stille. Dass nun jemand von ihr verlangen könnte, sofort zur Base zu kommen, da sie eine Mission hatten, war nur ein stiller Wunsch. 

»Lexi?« Es war die Stimme einer Frau, die sie nicht zuordnen konnte. Nach einigen Sekunden, in denen sie nicht geantwortet hatte, wurde ihr klar, dass es ihre Tante sein musste. Die Schwester ihrer Mutter, die in ihren Kindertagen so sehr an ihren Umgangsformen herumgegängelt hatte. Nie war sie freundlich genug gewesen, nie hatte sie sich passend gekleidet oder gar angemessen benommen. 

»Ja.« Murrend drehte sie sich um. Beleuchtete Hausfassaden vor den riesigen Hochhäusern San Diegos. Autos auf den Straßen, die sie sehen konnte. Überall herrschte Bewegung und Leben und sie wünschte sich nichts mehr, als dass jetzt die Zeit stehenblieb und sie sich in Ruhe überlegen konnte, wie sie reagieren sollte. 

»Ich bin es, deine Tante Eve.«

Lexi rollte mit den Augen. Alleine schon dieser erste Satz klang, als würde ihre Tante mit einem Kleinkind sprechen. 

»Was willst du?« Sie erwischte sich dabei, wie sie mit den Zähnen knirschte. Sie war kein Kleinkind mehr. Das letzte Mal, dass sie ihre Tante gesehen hatte, war sicher zehn Jahre oder länger her. Ob sie sich darüber bewusst war? Sie sprach nicht mit dem kleinen Kind, von dem es ihr nicht gepasst hatte, dass sie unterschiedliche Socken zum Geburtstag getragen hatte. 

»Ich wollte mir dir reden«, begann ihre Tante zögernd, was bei Lexi zu einem genervten Schnauben führte. 

»Da wäre ich von alleine nicht drauf gekommen. Warum? Warum meldest du dich nach über einem Jahrzehnt so plötzlich? Dich hat es nie interessiert, was aus mir wird oder was ich mache. Was ist passiert, dass du deinen beschissenen Arsch bewegst und anrufst? Ist deine heile Welt in sich zusammengefallen?« Sie lachte bitter auf. Selbst wenn ihre Tante Probleme hätte, würde sie ihr sicher nicht helfen. 

Nachdem sie in die Schule gekommen war, hatte es immer heftigere Streitereien zwischen ihrer Tante und ihrer Mutter gegeben, bis man ihr schließlich den Kontakt zu Eve verboten hatte, worum sie nie böse gewesen war. Eve war in dem Moment, in dem Lexi eingeschult worden war, zu einem Drachen mutiert. Sie wusste nicht, ob diese Wandlung mit der Schule zusammengehangen hatte oder ob etwas anderes der Grund dafür gewesen war, aber ihrer Tante hatte man nichts recht machen können. Erste gemalte Bilder mit Namen waren wild diskutiert, dann verbessert und schließlich zerrissen worden, mit den Worten, dass aus ihr nie etwas werden würde. Lexi konnte sich daran erinnern, dass sie das erste Jahr in der Schule alles versucht hatte, um ihrer Tante zu gefallen, obwohl ihre Mutter den Kontakt untersagt hatte, aber dieser Versuch war irgendwie gescheitert. Dann hatte es jahrelang keinen Kontakt gegeben. Aus irgendwelchen ihr unbekannten Gründen war Eve in Lexis Teenagerzeit wieder bei ihrer Schwester aufgetaucht. Aber in dieser Zeit war ihr das bereits egal gewesen. Sie hatte sich in einem Freundeskreis bewegt, der alles andere als gut für sie gewesen war, aber auch das hatte sie erst zu spät begriffen.

»Es geht um deinen Bruder.« 

Lexi konnte hören, wie ihre Tante durchatmete.

»Welchen?« Sie starrte weiter auf das Wasser, das mit kleinen schäumenden Kronen an den Strand rollte. Das Salz in der Luft nahm sie kaum noch wahr und die Ruhe, die nach ihr gegriffen hatte, verschwand immer mehr. Was zum Teufel wollte ihre Tante? Konnte sie nicht einfach sagen, wieso sie anrief? Musste sie ihr jeden Satz aus der Nase ziehen? 

»Keaton.« 

Wieder entstand eine Pause, die Lexi weiter in den Wahnsinn trieb. Keaton war ihr jüngster Bruder. Drei Jahre trennten sie. Sie konnte sich daran erinnern, wie sie ihn an die Hand genommen hatte, als er mit etwas über zwei Jahren alleine durch den Garten getollt war und dass sie gemeinsam die Straße auf und abgelaufen waren. Das war wohl die einzige Zeit, in der es in ihrer Familie friedlich verlaufen war. Denn auch hier war es die Schulzeit gewesen, die zu einem Bruch zwischen ihr und Keaton gesorgt hatte. Ihre Mutter hatte ihr irgendwann diese Spaziergänge verboten und auch da war Eve in Lexis Augen ein ausschlaggebender Punkt gewesen. Der Grund dafür wollte ihr jedoch nicht einfallen. Aber sie war auch einfach zu jung gewesen, um das beurteilen zu können.

»Man, was ist mit dem? Ich kann hier nicht ewig rumstehen und darauf warten, dass du sagst, was Sache ist«, schnauzte sie ihre Tante an. Es war ihr komplett egal, was mit ihrem Bruder war. Keaton hatte sich in den letzten Jahren ebenso wenig nach ihr erkundigt wie ihre anderen Brüder, ihre Eltern oder Tante. 

»Ich glaube, er hat Probleme«, erklärte Eve zögernd.

»Ach und was soll ich da machen? Er ist erwachsen«, knurrte sie ins Telefon. Ihr hatte auch niemand geholfen, als sie Probleme gehabt hatte. Sie lachte erneut verbittert auf. Es hatte ja nicht einmal jemand bemerkt, dass sie über Jahre nicht im Land gewesen war. Erst als man Eve angerufen hatte und sie über ihren kritischen Zustand nach der Schussverletzung aufgeklärt hatte, hatten sie es erfahren. Selbst da hatte sich niemand gemeldet. Sogar ihre Eltern, die sicher von dem Telefonat erfahren hatten, hatten nie zurückgerufen. Sie existierte in den Augen ihre Familie doch gar nicht mehr. Sie war nicht einfach das schwarze Schaf, sie war ein Niemand. Lexi zweifelte daran, dass es überhaupt jemanden interessiert hatte, dass sie über Wochen schwer verletzt im Krankenhaus gelegen hatte und es eine Zeit gegeben hatte, in der die Ärzte nur noch wenig Hoffnung gehegt hatten. 

»Du bist die Einzige, auf die er vielleicht hört.« Ihre Tante klang seltsam. Womöglich war es wirklich Verzweiflung, die in ihrer Stimme lag, aber selbst wenn, dann würde es Lexi nicht interessieren. Warum sollte sie sich nun kümmern? Sie lachte auf. 

»Ach, auf einmal soll jemand auf mich hören? Ich bin doch die, für die sich niemand interessiert. Weißt du überhaupt, was ich die letzten Jahre gemacht habe?« Sie machte eine kurze Pause. »Nein! Nein, das weißt du nicht, das wisst ihr alle nicht! Denn wenn ihr es wissen würdet und wenn es euch interessieren würde, dann hättet ihr euch verdammt noch mal nach mir erkundigt. Ist euch eigentlich klar, dass mein Kollege eine Beisetzung für mich geplant hatte und dass er gewollt hätte, dass ihr verlogenes Pack dabei seid?«, platzte es aus ihr heraus. Ihr waren wie aus dem Nichts Joes Worte in Erinnerung gekommen. Er hatte ihr sein persönliches Worst-Case-Szenario geschildert. Nachdem er bei der Beisetzung von DJ anwesend gewesen war, hatte er sich ausgemalt, was passieren würde, wenn er sie als Kollegin und gute Freundin nach dem Horrorangriff in Afghanistan ebenfalls verlieren würde. Er hatte mit ihr darüber gesprochen, wer aus dem alten Rescue-Team wohl alles keinen Familienanschluss mehr hatte, weil sie sich mit ihren Angehörigen überworfen hatten. Sie kamen zu dem Schluss, dass keiner von ihnen einen guten Kontakt zu den Familien hatte. Bei der I.A.T.F sah das anders aus. Diesen Unterschied hatte sie erst in den letzten Tagen weit deutlicher wahrgenommen als sonst. Das lag einzig und allein daran, dass diese beschissene Nummer ihrer Tante immer wieder im Display ihres Handys gestanden hatte. 

»Lexi, es tut mir leid. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Stell dir mal vor, da ruft wer vom Militär an und sagt, eine Angehörige ist schwer verletzt worden. Was soll man da machen?« 

»Sich in den nächsten Scheißflieger setzen und hinfliegen, verflucht.« Lexi beendete mit einem Zähneknirschen die Verbindung. Sie könnte kein weiteres Wort mit ihrer Tante wechseln. Es ging nicht. Sie war hin- und hergerissen zwischen Verzweiflung, Wut und Trauer über die Ignoranz dieser Frau und dem Rest der Familie. Ihre Sicht auf das Display verschwamm, als sie die Nummer ihrer Tante ohne Zögern zu der Liste der blockierten Nummern hinzufügte. Sie streckte das Telefon zurück in die Gesäßtasche ihrer Hose und trat in den Sand vor ihren Füßen. Da war er wieder. Der Druck, der sich auf sie legte. Sie bildete sich ein, dass er viel stärker war als zuvor. Schwer legte er sich auf sie und nahm ihr fast den Atem. Leise fluchend starrte sie auf das Wasser. Was sollte dieser Mist? Jahrelang hatte sich niemand um das geschert, was sie tat oder wie es ihr ging, und nun sollte sie diesen Menschen helfen. Das war doch ein schlechter Scherz. 

3.

»Joe?« 

Er zuckte zusammen, als er Ryans Stimme vernahm. Für seinen Captain war es ungewohnt spät. Normalerweise war er um diese Zeit nicht mehr hier. Dann gehörte ihnen das Gebäude und er war dafür zuständig, dass alle sich benahmen, niemand einen Brand legte oder sich derart betrank, dass er am kommenden Morgen seinen Namen nicht mehr wusste. So in der Art hatte John Joes Aufgabe an den Abenden und Nächten hier mal beschrieben. 

»Hm?« Fragend drehte er sich zu Ryan DeSanto um, der mit großen Schritten auf ihn zukam. Joe fiel der Schlüssel auf, den sein Captain in der Hand hielt. Also würde er gleich aufbrechen und Joe würde die Gelegenheit haben, mit seinen Kollegen im Gemeinschaftsraum Football zu schauen. 

»Ist Bitch schon wieder da?« Ryans dunkle Augenbrauen hoben sich, während Joe mit dem Kopf schüttelte. Weil er sich um Lexi sorgte, stand er hier und trank nicht mit seinen Kollegen ein Feierabendbier. Ryan murmelte etwas, das Joe nicht zuordnen konnte. 

»Ich fahr nach Hause. Wenn sie kommt, kannst du ja mal versuchen, mit ihr zu reden. Vielleicht bekommst du ja raus, was los ist. Aber mach es bitte so, dass ihr euch nicht gegenseitig den Kopf abreißt.« Ryan drehte sich um und ging.

»Aye.« Joe nickte, hatte allerdings keine Idee, wie er Lexi ansprechen sollte, da sie schon am Morgen extrem bissig reagiert hatte. Er zweifelte daran, dass sie ihm erzählen würde, was für ihre Reaktion verantwortlich war. Er sah Ryan nach und befürchtete, dass weder Sean noch Ryan Lexi gegenüber das Thema anschneiden würden. Ryan war jemand, der sich nur ungern in das Leben anderer einmischte und Sean war im Augenblick vieles egal.

»Gambit?« Ryan, der bereits einige Meter gegangen war, blieb stehen und hatte sich erneut zu ihm umgedreht. »Wenn sie ein paar Tage Urlaub braucht, bekommt sie die.« 

»Jetzt?« Joe spürte, wie sich seine Stirn in Falten legte. Das gesamte Team befand sich seit Wochen auf Abruf. Sie warteten darauf, dass man eine Spur von John fand. Was, wenn genau das passierte, wenn Lexi nicht da war? Und warum kam diese Ansage von Ryan und nicht von Sean? 

»Ja, jetzt.« Ryan ging bereits weiter. »Es geht auch ohne sie.« 

»Und was sagt Sean dazu?« Joe musterte Ryan prüfend. 

»Der erfährt es dann von mir, sollte sie nicht auftauchen.« Ryans Worte erreichten Joe, als sein Captain seinen Wagen erreicht hatte. Die Luft ausstoßend wollte er erwidern, dass Sean sicher aus der Haut fahren würde, unterließ es jedoch. Es wunderte ihn, dass sein Captain das Thema in die Hand nahm und nicht Sean, der in diesem Fall eigentlich zuständig wäre. Warum ausgerechnet er und wieso kam dieser Befehl von Ryan, der normalerweise nichts mit Lexi zu tun hatte? In der Regel hielten sich Ryan und Sean aus den Angelegenheiten des jeweils anderen heraus. Schließlich hatte jeder sein eigenes Team und Probleme wurden intern geklärt, wenn es nichts war, was beide Teams betraf. Und sie würde sicher wieder genau so reagieren wie am Morgen. Joe konnte hören, wie Ryan seinen Wagen startete und wenig später vom Parkplatz fuhr. 

Er spielte mit dem Gedanken, einen Kollegen aus dem Alpha-Team zu bitten, seine Aufgabe zu übernehmen. Mit der Begründung, dass Probleme vor dem Einsatz gelöst werden sollten, um nicht während des Einsatzes negativen Einfluss zu haben. Ja, das wäre wohl die beste Möglichkeit. Aber wen sollte er fragen? Ehe er sich auf jemanden versteifen konnte, bemerkte er Lexi, die zu Fuß über den Parkplatz kam. Vielleicht bildete er es sich ein, aber es sah aus, als würde sie langsamer werden. Sie hatte ihn mit Sicherheit entdeckt und ahnte nun, dass er mit ihr reden wollte. Er ertappte sich bei dem Gedanken, jetzt einfach zu gehen. Er könnte reingehen, sich zu seinen Kollegen setzen und, sollte Lexi ebenfalls dazukommen, so tun, als wäre nichts. Er könnte Ryans Auftrag ignorieren. Diese Überlegung wurde immer stärker, da er keine Ahnung hatte, wie er das Gespräch mit ihr beginnen sollte, ohne dass es nach zwei Minuten eskalierte. Sie mochten sich in der Zeit, in der sie im Krankenhaus in Landstuhl gewesen war, nähergekommen sein. Aber diese Nähe hatte sich innerhalb kürzester Zeit nach ihrer Rückkehr in die Staaten wieder verflüchtigt. Die Hoffnung, dass die wenigen Küsse und Zärtlichkeiten, die sie ausgetauscht hatten, der Grundstein für etwas Festeres werden könnten, hatte er schnell verloren. Es war ein wenig so, als wäre Lexi bei ihrer Ankunft am Flughafen von San Diego ausgewechselt worden. Er kannte sie seit Jahren und war einer der Ersten gewesen, der mit ihr im Bett gelandet war. Danach hatte sich eine Distanz entwickelt, die in seinen Augen richtig und gut gewesen war. Sie kamen miteinander aus, vertrauten einander blind, aber weder sie noch er machten dem jeweils anderen irgendwelche Vorhaltungen aus der einen Nacht, die sie zusammen verbracht hatten. Sie waren Profis, die gleichzeitig gute Freunde waren. Der Tag, an dem sie von einer Kugel getroffen um ihr Leben gerungen hatte, hatte irgendetwas zwischen ihnen verändert. Er hatte sie nicht alleine lassen wollen und hatte auch das Gefühl gehabt, dass sie seine Anwesenheit genossen hatte. Sonst hätte sie die Küsse nicht zugelassen. Sie hatte ihn mehrfach aufgefordert, in die Staaten zu fliegen. Mehrmals hatte sie gesagt, dass sie zurechtkommen würde. Dieser Wunsch war bei ihm jedoch ungehört verhallt. Er war bei ihr geblieben, bis sie das Krankenhaus verlassen konnte. Aber schon am Tag ihrer Rückkehr hatte Lexi sich distanziert und nach nur zwei weiteren Tagen hatte sie sich verhalten, als hätte es weder die Zärtlichkeiten noch die vielen Gespräche je gegeben. 

Er musste sich zwingen, diese Gedanken zu beenden und die aktuelle Situation zu betrachten. Lexi war nur wenige Meter von ihm entfernt und die Art, wie sie ihn ansah, benötigte keine Worte. Sie würde nicht mit sich reden lassen. Der Blick war starr auf ihn gerichtet und ein wütendes Funkeln, das er schon auf die Entfernung erkennen konnte, lag in ihren Augen. Noch ehe sie ihn erreicht hatte, bog sie über eine Rasenfläche zum Eingang ab. Ihm lag ein Befehl auf der Zunge. Er wollte sie zu sich bestellen, unterließ es aber. Es würde nichts nützen. Wenn sie nicht reden wollte, würde sie es nicht tun und daran würde auch ein Befehl von ihm keine Änderung bringen. Wenn Ryan der Meinung war, dass jemand mit ihr sprechen sollte, dann musste er es selbst machen oder Sean überlassen. Sollte sie ihren Captain lautstark angehen und nicht ihn. Er wartete darauf, dass er die zufallende Tür der Base hörte, ehe er sich einige Augenblicke später umdrehte. Sie war verschwunden und er der festen Überzeugung, dass sie nicht bei den anderen im Keller war. Der Gedanke, dass er Ryans Befehl nicht nachgekommen war, lag nicht so schwer auf ihm wie der, dass bei Lexi etwas nicht in Ordnung war. Mit Ryans Wut konnte er ebenso leben wie mit der von Sean. Damit, dass es in Lexis Umfeld etwas gab, dass sie so veränderte, nicht. Seine Gedanken kreisten derart penetrant, dass er sich entschied, eine Runde auf dem Gelände der Base zu laufen, um sich zu sortieren. So konnte und wollte er das Gebäude hinter sich nicht betreten. Er hatte keine Ahnung, was er machen sollte. Ein Gespräch schien sie nicht zu wollen, aber nur zu warten und zuzusehen lag ihm auch nicht. Es war verhext.

Erst als er nach knappen zwei Stunden zurück war, fühlte er sich dazu in der Lage, seinen Kollegen gegenüberzutreten, ohne dass sie erkennen konnten, dass etwas ihn aufwühlte. Als er im Gemeinschaftsraum ankam, waren nur noch Patrik, Steve und Randall dort. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass es weit später war, als er gedacht hatte. Seine Kollegen musterten ihn verwundert. 

»Wo warst du?« Der sechsundzwanzigjährige Steve Ribar war gerade dabei einige Gläser zu spülen. Die Bar, die sie hier gebaut hatten, war neben dem Kicker, dem Fußballtisch, dem Fernseher und dem Fitnessraum ein beliebter Aufenthaltsort der Männer, die durchgehend hier lebten. Nur wenige von ihnen hatten in ein Haus oder eine Wohnung investiert. Das Leben hier hatte durchaus seine Vorzüge. 

»Draußen«, murmelnd umrundete er die Theke, hinter der Steve gerade ein Glas aus dem Wasser nahm, öffnete den Kühlschrank und griff sich ein Bier. Einen Strich neben seinen Namen machend, der auf einer Tafel hing, setzte er sich auf den einzigen Barhocker, den es hinter der Bar gab. Nachdenklich beobachtete er Patrik und Randall, die sich ein Duell am Billardtisch lieferten.

»Den ganzen Abend?« Steve polierte eines der gravierten Gläser und stellte es in das Regal an der Rückwand. Das Glas trug den Namen von Randall. Zu ihrem Einzug in das ehemalige Hotel, das nun als Base diente, hatte jeder ein solches Glas bekommen. Sogar Ryan besaß seit knapp einer Woche eines. Es gab neben den Gläsern, die regelmäßig genutzt wurden, einige, die Staub angesetzt hatten. Cayden, John, Paul, die Staubschicht war nicht zu übersehen. Cayden und Paul waren keine Mitglieder des Teams mehr und Johns … er atmete durch und konzentrierte sich wieder auf Steve, als er einen Schluck nahm.

»DeSanto hatte mir noch was zu sagen, dann hab ich auf Bitch gewartet und anschließend war ich eine Runde laufen.« Er sah zu Randall, der einen Protestlaut ausstieß. Steve gab ein zustimmendes Brummen von sich, ehe eine Stille eintrat, die eine Weile nur von den zusammenschlagenden Billardkugeln unterbrochen wurde. 

»Was ist bei ihr los?« 

Im Augenwinkel konnte Joe sehen, wie Steve das Wasser aus der Spüle abließ, das weiße Geschirrtuch zur Seite legte und ihn anschließend scharf musterte. 

»Keine Ahnung.« Joe zuckte mit den Schultern. 

»Aber es ist was, oder?« 

Er konnte immer noch den Blick seines Kollegen spüren. 

»Ich gehe davon aus, aber du kennst sie.« 

»Na, wer von uns kennt sie nicht?« Steve lachte auf. 

»Gehts um Bitch?« Randall hatte sich zu ihnen umgedreht und Joe konnte sehen, wie Steve nickte. 

»Und keiner weiß was?« Nun kam ihr rothaariger Kollege auf sie zu und ließ sich auf einem Barhocker nieder, der auf der anderen Seite des Tresens stand. 

»Du kennst sie«, murrte Joe, er wollte nun keinesfalls hören, dass er nicht in der Lage war mit ihr zu sprechen. Auch wollte er sich nicht vorführen lassen, indem ihm irgendwer an den Kopf warf, dass er nur nicht mit ihr sprach, weil er Angst vor ihrer Reaktion hatte. Dass er nicht der Erste sein würde, der von ihr ein blaues Auge bekommen könnte, war ihm klar. Da hatte es schon andere gegeben und die hatten die Schläge oft zurecht eingesteckt.

»Ich könnte ja mal schauen, wer sie da ständig anruft.« Randall musterte ihn. 

»Und dann? Das ändert nichts an ihrer Laune und sicher auch nicht am Problem.« Joe schüttelte den Kopf. Nicht nur, dass sich das Problem so wahrscheinlich nicht beheben ließ. Randall würde diese Informationen nicht über einen legalen Weg bekommen. Ärger, nicht nur mit Lexi, wenn sie es herausbekam, war vorprogrammiert. 

»Mehr als es dir anbieten kann ich nicht.« Randall zuckte mit den Schultern und war nur wenig später verschwunden. Joe wurde klar, dass die Nacht mit jeder Minute, die er hier saß, kürzer werden würde. Dass er tatsächlich in den Schlaf finden würde, bezweifelte er jedoch. Inzwischen beschäftigte ihn die Frage, was er am Morgen Ryan sagen sollte, mehr als der Umstand, dass er nicht mit Lexi gesprochen hatte. Vielleicht wäre eine hitzige Unterhaltung mit Lexi doch besser gewesen.