Zwischen Liebe und Lüge – Verbranntes Vertrauen.

1.

»Manchmal habe ich das Gefühl, er macht das mit Absicht.« Ashley saß neben Gabriel auf dem Boden vor der Gartenlaube, die er seit Monaten als Wohnung nutzte und deutete auf ihren Großvater, der gerade begann, die an einen Baum gelehnte Leiter emporzusteigen. 

Gabriel nickte und beobachtete Graham dabei, wie er sich oben im Geäst des in die Jahre gekommenen Obstbaumes etwas ansah, ehe er die Leiter wieder hinunterstieg. Da er sie jedoch nicht vom Baum nahm, erhob Gabriel sich seufzend, was Ashley, die bis gerade an ihn gelehnt dagesessen hatte, einen Protestlaut entlockte. Sie hatten einfach nur ein wenig Zeit zusammen verbringen wollen. Aktuell lief es allerdings immer ähnlich ab. Sobald sie sich hingesetzt hatten, dauerte es nicht lange, ehe Ashleys Großvater um die Ecke kam. Entweder bat er direkt um Gabriels Hilfe oder er tat es wie gerade eben durch die Blume mit seinen Handlungen. Der Dreiundachtzigjährige wusste, dass Gabriel es nicht zulassen würde, dass er irgendwo oben im Baum Äste stutzen würde. Ebenso wenig wie er Reparaturen am Dach oder schwere andere Arbeiten zuließ. Ashleys Großvater war in einem Alter, bei dem Gabriels innere Stimme ihm gebot, dem Mann zu helfen. 

»Das hast du ihm beigebracht«, raunte Ashley ihm nach, woraufhin Gabriel sich mit gehobener Augenbraue zu ihr umdrehte. 

»Er ist kein Hund.« Gabriel hielt seine Stimme leise. Graham mochte gebrechlich wirken, aber taub war er auf keinen Fall, auch wenn seine Enkelin das dachte. Gabriel hatte den Mann mit dem fast komplett weißen Haar, der nun mit einer Säge aus der Garage kam und ihm bereits vielsagend entgegenblickte, ins Herz geschlossen. Die dunkelblaue Latzhose und das karierte Hemd von Graham erinnerten Gabriel an einen kanadischen Holzfäller. 

»Was hast du vor?« Gabriel deutete fragend auf die Säge. 

»Da ist ein toter Ast drin. Ich hab das schon länger im Auge. Wenn der abbricht, brechen unter Umständen viele Gesunde auch ab. Das wäre schade um den Baum.« Ashleys Großvater hatte die Leiter erreicht. 

»Eigentlich sollte ich da hochsteigen«, murrte Gabriel, mit der Hand auf die Säge deutend und so Graham auffordernd, nicht auf die Sprossen zu steigen und das Werkzeug an ihn abzugeben. 

»Und warum machst du es nicht?«, feixte Graham nun und reichte die Säge an ihn weiter. Dieser Mann wusste genau, welche Fäden er ziehen musste. »Du kannst ihn gar nicht übersehen. Den sieht man sogar, wenn man keine Ahnung von Bäumen hat. Du wirst ihn in mehrere Stücke sägen müssen.«

Leicht genervt ausatmend stieg Gabriel die Leiter hoch. So lief das immer. Graham stellte ihm eine Frage und zeitgleich hielt er den Rentner davon ab etwas zu tun, wofür er in Gabriels Augen zu alt war. Während Gabriel dann die Aufgabe erledigte, erklärte Graham ihm, wie das Leben funktionierte. Eigentlich mochte Gabriel genau solche Anwandlungen nicht. Aber mit Graham war es anders. Er fühlte sich für das Wohl des Mannes verantwortlich, dem er nun, oben auf der Leiter stehend, kurz entgegensah, während er in die Richtung des abgestorbenen Astes dirigiert wurde. 

»Hast du dich nun schon irgendwo beworben? Warst du bei der Rekrutierungsstelle?« Der Rentner deutete auf einen blattlosen Ast.

Gabriel rollte mit den Augen, ehe er diese Fragen verneinte. Ihm war klar, dass er langsam etwas bewegen sollte. Er konnte nicht ewig in der kleinen Gartenlaube wohnen, wo Ashley immer noch saß und ihn lächelnd beobachtete. 

»Dann solltest du das endlich machen. Jeder Tag, den du nichts tust, ist nicht gut für deine Kondition.« Bei Grahams Worten fiel der gerade abgesägte Ast auf den Boden und zerbarst in Stücke. Er war nicht nur abgestorben, er war völlig morsch und bestimmt nicht mal als Brennholz geeignet. »Gut so, nun etwas weiter hinten.« Graham deutete nach oben. 

»Die Kondition ist schnell wieder da«, erklärte Gabriel sägend. 

»Mag sein, aber du wirst dich drüber ärgern«, rief Ashleys Großvater ihm nun entgegen und hielt einen Augenblick den nach oben gestreckten Daumen so, dass Gabriel es sehen konnte, als ein zweites Stück zu Boden krachte. Nun blieb nur das dickste Ende. 

»Grandpa, lass ihn doch.« Ashley war zu seiner Rettung geeilt. Allerdings verkeilte sich die Säge im Ast, der sich immer weiter Richtung Boden bog. Es ging weder vor noch zurück. Erst mit einem kräftigen Ruck gelang es Gabriel, die Säge zu befreien und an einer anderen Stelle anzusetzen. Schließlich krachte der Ast auf den Boden. 

»Siehst du, du lässt nach.« Graham lachte auf und fing sich einen Rüffel von seiner Enkelin ein. 

Als Gabriel die Leiter wieder hinuntergestiegen war, deutete Ashleys Großvater an, dass er den schweren Ast zur Seite schaffen wollte. 

»Graham, ich mach das. Wenn du was machen willst, dann bring die Leiter weg, bevor ich sie in Stücke säge, damit du keine Dummheiten machst.« Gabriel sah zu Ashley, die sich das kleinste Stück des Astes geschnappt hatte. 

»Wenn du die Leiter zersägst, muss ich künftig etwas anderes finden, wie ich auf das Dach und den Baum klettern kann.« Graham verschwand lachend mit der Leiter unter dem Arm. 

»Er ist unmöglich«, erklärte Ashley. 

»Da kenne ich noch jemanden.« Gabriel umarmte seine Freundin und küsste sie sanft. »Lass uns das Holz wegräumen und dann …« Er deutete auf die Gartenlaube. 

Eine Stunde später saß Gabriel alleine in der Laube. Ashley, hatte darauf bestanden, Essen zu bestellen. Nun wartete sie vor dem Haus auf den Lieferboten, da dieser nicht am Haupthaus klingeln sollte. Kurz war er durch das Netz gesurft und dann in einem seiner Mailfächer auf eine Nachricht gestoßen, die er nachdenklich ein drittes Mal las. 

Ein alter Bekannter bot ihm einen Job an. Um was genau es sich handelte, stand hingegen nicht in der Mail. Er sollte nach Russland fliegen, um Näheres zu erfahren. Nach Lipezk. Einen Ort, von dem er noch nie gehört hatte. Erst eine Suchmaschine half ihm ein wenig weiter. Groß schien die Stadt mit dem eigenen Flughafen, der nur zweimal am Tag angeflogen wurde, allerdings nicht zu sein. Ganz im Gegensatz zu der Summe, die Bob bereits erwähnt hatte. Für fünfzigtausend als Anzahlung sollte er einem Oligarchen das Leben schwer machen. Sollte es ihm gelingen, den Mann komplett zu beseitigen, würde ihm eine halbe Million zustehen. Alleine der Gedanke an diese Summe sorgte für leichtes Herzrasen. Da war es auch völlig egal, dass dort beseitigen stand. Getötet hatte Gabriel bisher nicht, aber er war sich sicher, dass es nicht so schwer sein könnte. Es wäre schnell verdientes Geld. Und eine solche Summe für das Leben eines Mannes, den er nicht kannte? Wenn es um Geld ging, hatte er bisher noch nie Gewissensprobleme gehabt. 

»Das Essen ist da.« 

Er zuckte zusammen und legte sein Handy zur Seite, als Ashley mit einer Tüte voller asiatischer Köstlichkeiten in die Laube trat. 

»Alles ok?« Sie stellte die Tüte ab und begann, die kleinen Kartons auszupacken. 

»Ja, ich bin nur halb verhungert.« Gabriel bemühte sich, den Gedanken an die gewaltige Summe zu verdrängen. Ashley setzte sich neben ihn und reichte ihm die Nudeln.

»Ist wirklich alles ok?« Sie sah ihn von der Seite an. 

»Ja.« Er nickte knapp. Es war ihm also nicht gelungen, seine Gedanken auszubremsen. Zumindest nicht so, dass Ashley nicht bemerkte, dass ihn etwas beschäftigte, denn ihr Blick strafte ihn gerade Lügen. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und atmete schwer aus, woraufhin Ashley die Augenbrauen nach oben zog und ihn erwartungsvoll ansah. Doch die passenden Worte wollten sich nicht finden lassen. Wie sollte er ihr das erklären? Sie ging davon aus, dass er mit seinem alten Leben abgeschlossen hatte und davon war er bis gerade ebenfalls ausgegangen. Aber diese Mail änderte alles. Sie könnte ihr gemeinsames Leben für immer zum Guten wenden.

»Ich habe mir überlegt, zur Navy zu gehen.« Innerlich ohrfeigte er sich für diese Lüge. Es war nicht fair, sie anzulügen. 

»Weil Grandpa dich so lange bekniet hat oder weil du das willst?« Die Frage funkelte förmlich in ihren Augen. Wenn er jetzt sagen würde, weil ihr Großvater so lange genervt hatte, würde sie gleich aufspringen und Graham zur Rede stellen. Gabriel wusste, dass sie es nicht begrüßte, dass Graham ihm vorschreiben wollte, was er zu tun und zu lassen hatte. Dabei tat der alte Herr das nicht. Gabriel war bewusst, dass Ashleys Großvater ihn nur in eine Richtung lenken wollte, in der er sicher war und keine Probleme mehr bekam. Wobei man bei der Navy bestimmt nicht zwingend sicher war. Zumindest dann nicht mehr, wenn man die Staaten verließ und in einen Einsatz ging.

»Weil ich es so will.« 

Als Ashley ihn vielsagend musterte, legte er ein: »Wirklich, ich will das«, nach und hoffte, glaubhaft zu klingen. Gabriel hatte befürchtet, dass sie ihm sonst nicht glauben würde. Ihr langsames Nicken sorgte dafür, dass ihr einige Strähnen ihrer langen dunkelbraunen Haare ins Gesicht fielen, die er vorsichtig zur Seite schob, um ihr in die Augen sehen zu können. Auf ihrer Stirn und an ihren Mundwinkeln bildeten sich kleine Fältchen. Ein klares Zeichen dafür, dass ihr seine Aussage nicht gefiel. 

»Ich bin doch nicht für immer weg. Wir können aber auch nicht auf ewig hier sitzen.« Dabei würde er am liebsten jeden Tag in den Tag hineinleben. Machen was und wann man wollte. Aber das ging nicht. Dazu musste das nötige Geld da sein und das könnte er bekommen, wenn er nach Russland flog und seinem alten Freund diesen einen Gefallen tat. Bei der Navy würde er sicher nicht so viel verdienen, aber Ashley könnte ruhig schlafen, wenn sie davon ausging, dass er in Sicherheit war. Dass er sie mit einer Lüge leben lassen würde, verdrängte er.

»Ich weiß.« Sie lehnte sich an ihn. »Trotzdem wirst du mir fehlen.« 

»Du mir auch.« Er legte einen Arm um sie und zog sie an sich. 

»Wann willst du los?« 

Er konnte in ihrer Stimme eine unausgesprochene Bitte hören. Am liebsten wäre es ihr, wenn er noch eine Weile blieb und sie sich darauf vorbereiten könnte, dass er gehen wollte. 

»Ich erkundige mich morgen, wie das alles abläuft, und dann entscheide ich mich, wann ich fahre.« Eine weitere Lüge, die sie ihm wahrscheinlich nie verzeihen würde, wenn sie es erfuhr. Wie er das verhindern wollte, wusste er noch nicht. Er wusste nur, dass er sie auf keinen Fall verlieren wollte. Irgendwo anzukommen war lange sein Wunsch gewesen. Das Gefühl loszuwerden, dass man nirgends daheim und nirgends willkommen war. 

Hier hatte er endlich das Gefühl, willkommen zu sein. Schon nach der ersten Nacht hatte er sich wohlgefühlt. Ashleys Eltern hielten sich weitestgehend im Hintergrund und Graham hatte er sehr ins Herz geschlossen, auch wenn er sich hin und wieder von dem Senior genervt fühlte. Aber er konnte ihm nicht böse sein.

Aus dem Essen wurde ein gemütlicher Abend auf dem Sofa, welches für sie beide eigentlich zu klein war. Aber sie hatten in den letzten Wochen einen Weg gefunden, eng aneinander gekuschelt dort liegen zu können, ohne dass einer von ihnen sich permanent bewegen musste, damit keine Gliedmaßen einschliefen. 

Dass sich Ashleys Fingernägel tief in seinen Rücken gegraben hatten, als sie später im Bett der Ekstase verfallen war, bemerkte Gabriel erst, als er in der Nacht aufwachte. Ein leichtes Brennen machte klar, dass sie ihm einmal mehr blutige Schrammen zugefügt hatte. Bemüht, sie nicht zu wecken, drehte er sich auf den Rücken und starrte die Decke an. Eine kurze Weile hatte er das Angebot seines Freundes ausblenden können. Nun war es wieder da und spukte gemeinsam mit den Lügen, die er Ashley aufgetischt hatte, durch seinen Kopf. Sie hasste es, angelogen zu werden. Er hatte ihr vieles von dem, was er bisher getan hatte, zu Beginn ihrer Beziehung verschwiegen und erst nach und nach erzählt. Das Schlimmste war, dass sie inzwischen wie in einem offenen Buch in ihm las. Sie konnte ihm Lügen ansehen oder hören, dass er etwas ausließ, was wichtig sein könnte, wenn er sprach. Sie war ein wandelnder Lügendetektor. Sie hatte ihn in der Hand und er genoss genau das … eigentlich. Nach seinem Handy greifend las er erneut die Nachricht von Bob durch und stand schließlich auf. Es ließ ihm einfach keine Ruhe. Mit dem Handy, einem Stift und einem Zettel bewaffnet setzte er sich auf die Couch, notierte den Zielflughafen und begann, Flüge zu suchen, die ihn ans Ziel bringen würden. Der Entschluss, nach Lipezk zu fliegen und den Auftrag anzunehmen, stand innerhalb weniger Augenblicke endgültig fest. Er schickte eine Nachricht an seinen Bekannten, der sofort fragte, wann er ankommen würde. Gabriel überflog die von ihm notierten Zeiten nochmals und entschied sich für einen Flug, der bereits in einigen Stunden gehen würde. Sollte er kein Ticket mehr bekommen, würde er den nächsten Flieger nehmen. Was genau ihn zu dieser spontanen Entscheidung getrieben hatte, konnte er nicht in Worte fassen.

»Hey.« 

Er zuckte zusammen, schob den Zettel unter eines der Kissen und wandte sich zu Ashley um. »Hey.« Er stand auf, umrundete die Couch und zog sie in die Arme. »Ich liebe dich«, flüsterte er ihr ins Ohr. Diese Worte auszusprechen war ihm in diesen Sekunden ein brennendes Anliegen. »Vergiss das nicht.« 

»Als ob ich das könnte. Ich liebe dich auch.« Ihre Lippen fanden seine zu einem leidenschaftlichen Kuss. Es war nur ein Augenblick, in dem er seinen Entschluss zu gehen bereute. Er würde wiederkommen. Er würde Worte finden, eine Geschichte, eine Lüge, mit der er ihr erklären könnte, warum er wieder da war und vielleicht auch, warum er womöglich nie wieder arbeiten müsste. 

Ein Erbe. 

Ein Gewinn.

Ihm würde etwas einfallen. 

2.

»Hey.« Ashley betrat die kleine Gartenlaube und sah sich suchend um. Von Gabriel war allerdings nichts zu sehen, weswegen sie zurück in den Garten ging. Ihre Eltern hatten ihr, als sie von der Uni heimgekommen war, nichts davon gesagt, dass Gabriel weggefahren war, weswegen sie ihn auf dem Grundstück suchen wollte. Sie lauschte in die Umgebung. Vögel zwitscherten, die Autos der Straße waren zu hören und dann ein ihr ebenfalls gut bekanntes Geräusch. Das der Axt, welche auf Holz traf. Gabriel hatte sich sicher von ihrem Großvater dazu überreden lassen, den Ast zu Feuerholz zu verarbeiten. Wahrscheinlich stand er gerade hinter Gabriel und erklärte ihm, wie er das Holz am besten spalten konnte. Sie machte sich auf den Weg um das Haus, wo es einen Lagerplatz für das Kaminholz gab und wohin Gabriel gestern die Stücke des Astes gebracht hatte. Als sie um die Ecke bog, entdeckte sie nur ihren Großvater, der die Axt auf ein Holzstück schnellen ließ, welches knackend auseinandersprang. 

»Hey.« Sie wartete, bis ihr Großvater sie bemerkt hatte, und trat dann näher. »Hast du Gab gesehen?« Als ihr Großvater sofort mit dem Kopf schüttelte, machte sich ein ungutes Gefühl in ihr breit. 

»Nein, aber er hat mir das gegeben.« Graham zog den Handschuh aus und holte einen zerknickten Umschlag aus seiner Hemdtasche. »Mach dir keine Sorgen um ihn. Der ist bestimmt in zwei oder drei Wochen wieder hier.« Er reichte den Umschlag an sie weiter, ehe er seine Hand wieder in den Arbeitshandschuh schob. Noch ehe Ashley den Umschlag geöffnet hatte, hatte ihr Großvater ein weiteres Holzscheit auf den großen Baumstumpf gelegt, den sie zum Spalten des Holzes nutzten. Während sie die ersten Zeilen las, krachte die Axt wieder in das Holz. 

»Meine Liebste. Ich bin schon heute nach San Diego aufgebrochen. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, dich anzurufen. Dein Studium ist wichtig für dich und ich wollte nicht, dass du deine Lesung unterbrichst, um heimzukommen. Ich habe versucht, dir eine Nachricht zu schicken, sie aber immer wieder gelöscht. Entweder waren es nicht die richtigen Worte oder ich hatte Angst, dass du sie liest und doch sofort heimkommst. Ich liebe dich und melde mich, sobald ich angekommen bin und weiß, dass du auch daheim bist. Sei mir nicht böse. Wir sehen uns ganz bald wieder und hören uns später.« 

»Er ist doch nur zur Navy. Er haut doch nicht ab.« Ihr Großvater hatte die Axt abgelegt und atmete mitleidig durch. »Der ist in San Diego und nicht in der Arktis. Da musst du doch nicht weinen.« Das warme Lächeln ihres Großvaters passte so gar nicht zu den Worten, die fast vorwurfsvoll geklungen hatten. »Er ruft bestimmt später an. Mach ihm keinen Vorwurf. Sei froh, dass er diesen Entschluss nun gefasst hat.« 

»Bin ich ja, aber das ist nun ein bisschen plötzlich.« Sie strich sich die Tränen aus den Augen und ging auf die abgelegte Axt zu. »Und du solltest das nicht mehr machen.« Sie griff sich ein Holzscheit. »Gab bringt mich um, wenn er erfährt, dass ich hier neben dir gestanden und zugeschaut habe.« 

»Ihr behandelt mich alle, als könnte ich gar nichts mehr.« Ihr Großvater trat mit einem gespielt bösen Blick zu Seite. 

Holz spalten war zwar bei Weitem nicht ihre liebste Aufgabe, aber ehe ihr Großvater sich verletzte oder verausgabte, übernahm sie es. Mit einer leichten Wut auf ihren Vater, der seinen Vater einfach hier Unmengen an Holz machen ließ, ließ sie die Axt in das Holz schnellen, welches widerstandslos auseinanderbrach. 

»Das hat sie von mir gelernt«, erklärte ihr Großvater mit stolzgeschwellter Brust irgendjemandem, der gar nicht da war. Es war wohl nur eine Bestätigung für ihn, dass er ein guter Lehrer war. 

Sie verbrachte über eine Stunde damit, die kurzen Stämme zu Holzscheiten zu verarbeiten, die im Kamin landen würden. Ihren Großvater ließ sie nur dabei helfen, die Scheite an der Rückwand des Hauses zu stapeln. Immer wieder sah sie auf ihr Handy, in der Hoffnung, dass Gabriel sich meldete. Aber ihr Handy schwieg eisern und sie musste sich daran hindern, ihn anzurufen oder ihm zu schreiben. Er würde ihr schreiben, wenn er angekommen war. Sollte er es nicht machen, würde sie ihn am kommenden Tag anrufen. Sie wollte ihm nicht nachspionieren, aber zumindest hören, dass es ihm gut ging. Nur seine Stimme zu hören würde schon reichen. Ashley vermisste seine Stimme, seine Nähe und seine Wärme jetzt schon. Unbewusst schlang sie die Arme um sich. Wie lange würde er fortbleiben? 

Am Abend saß sie das erste Mal seit langer Zeit wieder gemeinsam mit ihren Eltern am Tisch, der Platz neben ihr war verwaist. Ihre Mutter hatte für Gabriel gedeckt, da auch sie nichts von seiner Abreise mitbekommen hatte. Wie Ashley war ihre Mutter ebenfalls davon ausgegangen, dass Gabriel anwesend sein würde. 

»Vielleicht ist das auch besser so. Ein wenig seltsam war er ja schon.« Ihr Vater meldete sich zu Wort, als ihre Mutter begann, den Tisch abzuräumen, wobei Ashley ihr hatte helfen wollen. 

»Was heißt hier seltsam?« Sie verharrte mit einem Teller in der Hand in ihrer Bewegung und musterte ihren Vater. Es war das erste Mal, dass er etwas in dieser Art über Gabriel sagte. Zuvor war nie ein schlechtes Wort gefallen, er hatte sich sogar des Öfteren gut mit ihm unterhalten. Zumindest hatte Ashley diesen Eindruck gewonnen. Dass er sich nun fast abfällig äußerte, wunderte sie. 

»James, du bist doch nur froh, dass er nicht mehr da ist, weil er dir dann deine Tochter nicht mehr wegnehmen kann. Gabriel ist ein wirklich feiner Kerl. Von dem …« 

»Dad, hör doch auf.« Ihr Vater verbot ihrem Großvater, der gerade ein paar gute Worte hatte einlegen wollen, den Mund. Die Stimmung in der Küche drohte zu kippen, ohne dass ihr klar war, weswegen Gabriel auf einmal nicht mehr gern gesehen sein sollte. Auf keinen Fall sollten sich nun ihr Vater und ihr Großvater streiten. Ihre Mutter stand an der Küchenzeile und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, als warte sie darauf, dass sie die heranziehenden dunklen Wolken vertrieb. Aber was sollte sie sagen? Gab sie ihrem Großvater recht, würde ihr Vater sauer sein. Stimmte sie ihrem Vater zu, was sie nicht konnte, würde ihr Großvater sie zu einem Gespräch bitten. Sie wollte keinen Streit. Nicht jetzt, wo sie nicht wusste, wann Gabriel zurück sein würde.

»Also wenn er wirklich wiederkommt, könnt ihr ja auch hier im Haus ein oder zwei Zimmer beziehen, es sind ja genug da«, erklärte ihre Mutter nun völlig unerwartet.

»Wenn er wiederkommt«, warf nun ihr Vater erneut ein. 

»Habe ich gerade gesagt«, legte ihr Mutter mit einem tadelnden Unterton an ihren Vater gerichtet nach. 

»Der kommt wieder. Er ist eine ehrliche Haut. Ihr könntet mein Bad mit nutzen.« Ihr Großvater lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lächelte sie an. Er würde wohl bis zu Gabriels Rückkehr der Einzige in der Familie sein, der ihr den Rücken stärkte. 

»Er kommt zurück.« Ashley wollte keine Sekunde daran denken, dass Gabriel nicht zurückkommen könnte. 

»Wir werden es sehen.« Ihr Vater hatte sich erhoben und verließ, noch während er sprach, den Tisch. Das Thema schien für ihn erledigt zu sein. Ihre Mutter ging ebenfalls zur Normalität über. Nur Ashley selbst benötigte einen Augenblick, ehe sie mit den Tellern zu ihrer Mutter ging, die dabei war, den Geschirrspüler einzuräumen. 

»Er kommt ganz bestimmt zurück«, erklärte Ashley entschlossen, als sie ihrer Mutter das Porzellan reichte. 

»Ich will dich nicht enttäuschen, aber vielleicht hat dein Vater recht. Gabriel ist wirklich ein wenig eigenartig gewesen.« Ihre Mutter sah nicht einmal von ihrer Arbeit auf. Zudem klang sie völlig gleichgültig. 

»Was soll das? Ihr hab euch immer gut verstanden. Du hast dich sogar für mich gefreut. Du warst froh, dass Gab Grandpa draußen geholfen hat.« Ashley verstand den Wandel ihrer Mutter nicht. Hatte sie womöglich Streit mit Gabriel gehabt? War etwas vorgefallen, von dem sie nichts wusste, weil weder er noch sie ihr etwas davon gesagt hatte? War Gabriel wegen eines Streites kommentarlos gegangen? 

»Haben wir.« Ihre Mutter drehte sich zu ihr um. Auf ihrer Stirn waren Sorgenfalten zu sehen. »Aber wenn er nicht sagt, dass er geht … Ich weiß nicht, ob er es dann wirklich ernst meint. Er hätte mit dir reden müssen. Man verabschiedet sich doch. Das ist doch keine Art«, gab ihre Mutter mit gereiztem Unterton zu verstehen.

Ashley blieb einen Moment die Luft weg. Sie musste die Worte einen Augenblick wirken lassen, da sie die Vorwürfe für absolut aus der Luft gegriffen fand.

»Mom, vielleicht hat er gedacht, er ist schon bald wieder da, oder er hat sich nicht getraut, es mir zu sagen. Oder …« Sie machte eine Pause. Ihr wollten keine weiteren Argumente einfallen. »Was weiß ich. Aber nur weil er sich nicht so verhält, wie ihr es erwartet, könnt ihr ihn nicht verurteilen. Außerdem hat er mir einen Brief dagelassen. Er kommt wieder.« 

»Aber sowas lernt man daheim. Was ist das für ein Elternhaus? Was will er seinen Kindern beibringen, wenn er schon nichts gelernt hat?« Ihre Mutter musterte sie vorwurfsvoll. Es fühlte sich an, als würde das Blut in Ashleys Adern zu kochen beginnen. Sie wusste nicht viel über Gabriels Kindheit. Aber das, was sie wusste, warf sie ihrer Mutter wutentbrannt entgegen.

»Du weißt nichts über sein Elternhaus. Er ist ohne Vater aufgewachsen und hat schon früh seine Mutter verloren. Er ist auf der Straße aufgewachsen und hat sich durchgeschlagen«, spie sie ihrer Mutter entgegen. Sie wusste nichts über die Umstände, wie er seine Mutter verloren hatte, was sie aber wusste, weil sie es in Gabriels Augen gesehen hatte, war, dass er seine Mutter geliebt hatte und diesen Verlust nie verkraftet hatte. 

»So schrecklich das auch sein mag, aber sowas verroht einen Menschen.« Ihre Mutter trat an ihr vorbei. »Vielleicht kommt er wieder, vielleicht auch nicht. Du solltest aber vielleicht wirklich über eure Beziehung nachdenken«, erklärte sie im Gehen. 

Ashley lagen viele Worte auf der Zunge, aber sie konnte sie nicht aussprechen. Es war, als würde man ihr die Luft abschnüren. Was waren das für Vorwürfe aus dem Mund ihrer Mutter. Warum verurteilte sie Gabriel derart hart? 

Spät am Abend, im Bett liegend, waren ihr die Augen bereits mehrfach zugefallen, obwohl der Streit mit ihren Eltern noch schwer auf ihr lastete, als ihr Handy klingelte. Es war Gabriels Nummer. 

»Hey, wie geht es dir? Wo bist du?« Den Vorwurf, dass er ihr wenigstens anders als in einem Brief hätte Bescheid geben können, verkniff sie sich. Sie war einfach froh, dass er sich meldete. 

»Müde aber gut. Ich hab mir für heute ein kleines Hotelzimmer genommen. Wie geht es dir?« Er klang tatsächlich erschöpft. 

»Gut. Du fehlst mir. Weißt du schon, wann wir uns sehen können?« Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie Gabriel in einem kleinen günstigen Hotel in San Diego saß und telefonierte. 

»Keine Ahnung. Das dauert sicher noch ein wenig. Aber ich rufe dich so oft ich kann an. Versprochen.«