Codename Conquer – Verraten und verkauft

1.

                    

»Captain DeSanto?«

Die Tür zu seinem Büro, das er sich mit Sean Harrison teilte, wurde geöffnet, ohne dass zuvor angeklopft worden war. Ryan sah vom Schreibtisch auf. Eigentlich wollte er nur noch die Unterlagen, die vor ihm lagen, unterzeichnen und dann endlich unter eine Dusche kommen, egal welche und wo. Zudem dachte er immer noch an die Berichte seines Kollegen Sean Harrison, der bei seinem Anruf von Sprengfallen berichtet hatte, die ihm beim Einsatz in Syrien untergekommen waren und in der Bauart neuartig zu sein schienen. Sie wollten, wenn das Alpha-Team zurück war, die Thematik in den Trainings besprechen und einbauen. Sie mussten immer und ständig auf Veränderungen vorbereitet sein. Er erstarrte, als er den Kopf hob, und den Mann in der navyblauen, mit Auszeichnungen dekorierten Uniform erkannte, der mit ernstem Gesicht in der Tür stand. Ryan erhob sich so zügig, wie es in diesem Moment noch möglich war und nahm hinter dem Schreibtisch Haltung an, um seinem ehemaligen Commander des Seal Team 5 zu salutieren. Ebenso schnell, wie er sich erhoben hatte, wurde ihm klar, dass die ernüchternde Mimik des Mannes mit dem schütteren, dünnen, grauen Haar nicht der Tatsache galt, dass er nicht schnell genug gegrüßt hatte. Es lag etwas anderes in der Luft.

»Wie ich sehe, hat man Sie hier doch noch dazu bekommen, einen Posten zu bekleiden, der Ihnen angemessen ist. Gratuliere.« Commander Emmet Price nickte ihm knapp zu, betrat das Zimmer und deutete auf Ryans Stuhl. »Setzen Sie sich, Captain.« Da war sie wieder, diese seltsame Schwere in der Stimme des Mannes, die ihm bereits bei den ersten Worten des Kollegen, den er gut zu kennen meinte, aufgefallen war. Seine Haare hatten sich in den letzten Jahren so weit gelichtet, dass Price schon seit einiger Zeit die Haare so kurz trug, dass man auf die Entfernung meinen könnte, er habe eine Glatze. Wenn man vor ihm stand, konnte man das lichte Haar noch als eine Art Flaum erkennen.

»Commander Price, was verschafft mir die Ehre? Sie sind doch hoffentlich nicht in Zafers Auftrag hier.« Ryan setzte sich erst, als sein ehemaliger Vorgesetzter sich auf dem Stuhl niedergelassen hatte, der seinem Schreibtisch gegenüberstand und auf den Ryan einladend gedeutet hatte. Es war ein seltsames Gefühl, den Mann auf dem Besucherplatz sitzen zu sehen. Früher war er es immer gewesen, der dort Platz genommen hatte. Hatte Zafer Price herbestellt? Sollte ihm noch einer mehr auf die Finger schauen? Sollte diese Farce noch länger dauern? Seit Wochen stand Zafer bei jedem Schritt, den er tat, bei jeder Einsatzbesprechung, förmlich hinter ihm. Permanent überprüfte Zafer alles, was er tat und hatte bis heute nicht den wahren Grund seiner Anwesenheit offengelegt. Ständig hieß es, er wolle den Trainingsstand überwachen. Dass er das nur beim Bravo-Team und nicht auch beim Alpha-Team tat, war so auffällig, dass es sich durchgehend an der Stimmung im Team widerspiegelte. Zudem hatte Ryan Zafer bereits einige Akten übergeben müssen, die dieser dann durchgesehen und unkommentiert an ihn zurückgereicht hatte. Ryan wusste beim besten Willen nicht, welches Spiel Zafer in Clarksons Auftrag spielte. Vielleicht war er auch nur auf der Suche nach einer Verfehlung, mit der man ihn aus dem Team und vor allem außer Dienstes stellen konnte. Wobei er sich diesen einen Schnitzer bereits geleistet hatte und man ihn problemlos zur Rechenschaft ziehen könnte. Unter Umständen fehlte dieser eine Fehltritt, um das Team aufzulösen oder ihn rauszuwerfen. Minister Clarkson hatte Ryan seit einigen Monaten in der Hand und drohte ihm gegenüber mit der Auflösung der I.A.T.F. Unter Umständen war Price derjenige, der nun die entscheidende Figur in Clarksons Schachspiel innehatte, um das Team matt zu setzen.

Die Art wie Price nun durchatmete, ließ Ryan die Vermutung, dass Zafer der Grund des Erscheinens war, über Bord werfen.

»Ich muss Ihnen mitteilen, dass sieben Mitglieder Ihres alten Teams in der vergangenen Nacht bei einem Einsatz umgekommen sind.« Price hatte sichtlich Mühe, ihm bei dieser Botschaft in die Augen zu sehen.

Ryan sank in seinem Stuhl zusammen und starrte, für einen Moment nicht in der Lage etwas zu erwidern, sein Gegenüber an. Sieben. Sein Herz schmerzte bei jedem Schlag.

»Wer?« Es fiel ihm schwer, diese Frage zu stellen, da er Angst vor der Antwort hatte.

Commander Price nannte die sieben Männer und bei jedem nahm es Ryan ein Stück mehr seiner Luft. Er kannte sie alle. Nicht nur flüchtig. Sie waren jahrelang zusammen unterwegs gewesen. Er hatte diesen Männern mehr als einmal sein Leben anvertraut. Sie hatten geschwitzt, geblutet und gemeinsam getrunken und gefeiert. Sie waren seine Familie gewesen, bis er zur I.A.T.F gekommen war. Sie hatten versucht, ihn nach dem Tod seiner Freundin Diana aufzubauen, und waren gescheitert, weil er ihre Hilfe nicht angenommen hatte. Und er hatte ihnen diese Versuche damit gedankt, dass er das Team verlassen hatte. In diesem Augenblick fühlte er sich wie ein Verräter. Er schluckte schwer und verdrängte die Bilder, die sich vor seinem inneren Auge auftaten. Bilder von gemeinsamen Einsätzen und Feiern in Bars.

»Carlos Fuller hat verletzt überlebt«, erklärte Price ihm mit nicht weniger Schwere in der Stimme als zuvor.

Ryan atmete angespannt durch. Carlos und er waren nie wirklich dicke Freunde gewesen, aber das war ihm in diesem Moment egal. Auch auf den schlanken, braungebrannten Angeber mit der großen Klappe hatte er sich all die Jahre im Team 5 verlassen können. Selbst dann, wenn sie fünf Minuten zuvor wegen privaten Angelegenheiten im Streit gelegen hatten.

»Was ist passiert und wo ist er?« Ryan war bereit, in diesem Augenblick alles stehen und liegen zu lassen, um seinen ehemaligen Kameraden und deren Familien beizustehen.

»Wird heute ins Balboa verlegt. Was vorgefallen ist, sollte er Ihnen am besten selbst erzählen.« Price sah ihn durchdringend an. »Ich dachte, es ist besser, wenn Sie davon hören, ehe wir morgen die Pressekonferenz abhalten, und Sie es über Dritte oder die Nachrichten erfahren«, fügte er, sein Erscheinen erklärend, hinzu.

»Wie schwer ist er verletzt?«

»Er ist ansprechbar.« Price sah ihn in einer Art an, die ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Dieses Gefühl hatte er in Prices Gegenwart noch nie gehabt.

»Wo ist der Haken? Sie kommen doch nicht her, berichten mir, dass meine Kameraden gefallen sind und es nur einen Überlebenden gibt, und erklären mir, dass er mir erzählen soll, was passiert ist.« Ryan hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt. Sein Instinkt sagte ihm, dass etwas faul war. Dass Price ihm irgendetwas verschwieg, warum auch immer.

»Die gesamte Einheit ist schockiert. Ich wollte Ihnen persönlich mitteilen, dass die Männer, mit denen Sie während Ihrer Dienstzeit im Team 5 gedient haben, gefallen sind. Sprechen Sie mit Fuller, DeSanto. Ich kann nicht mehr dazu sagen.« Price erhob sich und ging zur Tür. Dort angekommen drehte er sich kurz zu ihm um. »Und richten Sie Harrison aus, dass er auf sich aufpassen soll.« Price zog die Tür auf und war verschwunden, ehe Ryan bewusst wurde, dass sein Gefühl ihn nicht betrog. Commander Price verheimlichte etwas. Nicht nur, weil Price einfach aufgestanden und gegangen war, ohne darauf zu warten, dass er sich ebenfalls erhob und salutierte. Er hatte das Büro verlassen wie … wie ein Zivilist. Ryan strich sich durch die Haare, als er die Tür anstarrte, die nun langsam ins Schloss fiel. Price war weg und er würde den eigentlichen Grund für sein Auftauchen und die Mahnung an Sean nicht erfahren.

Ryan wurde das Gefühl nicht los, dass der Tod seiner Kameraden nicht der wirkliche Anlass des Besuchs gewesen war. Vielleicht war es ein tragischer Umstand, um ihm Informationen zu bringen, die er sonst nie erhalten hätte. Irgendetwas war faul und dieses Etwas war gefährlich. Für einige Minuten starrte Ryan die Unterlagen auf seinem Schreibtisch an. Dort lag nichts wirklich Wichtiges. Nichts, dessen Bearbeitung er nicht auch jemand anderem übertragen konnte. Das ungute Gefühl, welches ihn nun vollends eingeholt hatte, sorgte dafür, dass er aufstand und sein Büro verließ, ohne die Dokumente weiter zu bearbeiten. Die innere Unruhe, die ihn gepackt hatte, trieb ihn nach draußen, um frische Luft zu schnappen. Er war sich sicher, dass Sean und die anderen in Gefahr waren und das Price ihm irgendetwas durch die Blume hatte sagen wollen. Wenn Price sich nicht vollkommen verändert hatte, war es nicht normal, dass er herkam und ihm sagte, er solle sich Informationen beschaffen und seine Kameraden warnen. Price prüfte in der Regel jede Information drei Mal, ehe er sie weitergab. Vor allem hatte er nie Mahnungen ausgesprochen. Price war die Art Vorgesetzter, die fest davon überzeugt war, dass die Soldaten, die auf Missionen waren, so gut waren, dass sie keine Warnungen benötigten. Schon gar nicht die Spezial-Einheiten.

Ryan strich sich über das Gesicht und zwang sich, logisch zu denken. Sollte er erst Sean kontaktieren und dann Carlos besuchen? Oder vielleicht mit den Agenten Rafael, Liv oder Joyce sprechen, um zu schauen, ob sie bereits Dinge in Erfahrung gebracht hatten, oder schnell in Erfahrung bringen konnten? Vor allem auch, ob sie Sean unterstützen konnten, sollte er sich wirklich in Schwierigkeiten befinden? Der hastige Blick auf seine Armbanduhr zeigte ihm, dass es bereits nach zwanzig Uhr war. Also konnte er heute ohnehin nicht mehr in die Klinik fahren. Aber waren die Agenten noch da? Er ging den Flur zurück und klopfte an die Bürotür. Im äußersten Notfall würde er sie anrufen. Der Tag hatte noch einige Stunden und er könnte, sollte es nötig sein, eine Nachtschicht anordnen.

»Ich bin nicht mehr da, schon seit einer Stunde nicht mehr«, erklang von innen die helle Stimme von Joyce Dearing.

»Ich bin auch nicht mehr da.« Ryan öffnete die Tür und sah, wie Joyce ihre Frisur richtete und mit einer Hand nach ihrer Jacke griff, die über ihrem Stuhl hing.

»Ich brauche ein paar Minuten deiner Zeit und ein paar Infos.« Er schloss sprechend die Tür hinter sich und konnte die nicht vorhandene Motivation der Frau mit den langen, zu einem Zopf geflochtenen Haaren sehen, die ihre Jacke zurückwarf und ihn wenig begeistert aus ihren blaugrünen Augen musterte.

»Jetzt?« Sie schaute ihn fragend an und bemühte sich nicht, den genervten Unterton in ihrer Stimme zu verbergen.

»Am liebsten gestern schon.« Er umrundete den Schreibtisch und ließ sich Joyce gegenüber am Arbeitsplatz von Rafael nieder. Sie rollte mit den Augen, gähnte herzhaft, startete aber ihren Laptop, ohne eine Frage zu stellen, und setzte sich wieder auf ihren Platz.

»Ich mag ja Tage, an denen man nicht da ist, aber Überstunden macht«, murmelte sie und gab ihre Passwörter ein, ehe sie wieder aufsah: »Also, was willst du, der du nicht hier bist, von mir, die auch nicht hier ist, wissen?« Sie grinste ihn an.

»Gibt es irgendwo Informationen zu Team 5, dass es da …« Er zögerte kurz, »… einen Unfall oder so auf einem Einsatz gab? Vor ein paar Tagen?«

Die Art, wie Joyce bei seinen vagen Äußerungen den Kopf hob und ihn ansah, machte deutlich, dass er gleich dringend weitere Informationen liefern müsste. Wahrscheinlich benötigte sie zusätzliche Infos, um mehr in Erfahrung zu bringen. Aber vielleicht hatte er Glück und sie wusste bereits etwas oder fand gleich, wonach er suchte.

»Team 5?«, hakte sie fragend nach und begann, auf dem Laptop zu tippen.

»Jap.« angespannt beobachtete er, wie die Agentin auf den Tasten herumtippte und immer wieder mit der Maus hantierte. Es wäre sinnvoller gewesen, wenn er sich hinter sie gestellt hätte. Dann hätte er direkt sehen können, was sie tat.

»Dein altes Team, wenn ich mich richtig erinnere«, schlussfolgerte sie, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen.

Ob ihre gemurmelten Worte für ihn gedacht waren, konnte er nicht einschätzen, da sie den Bildschirm ansah, weiter tippte und nach einigen Sekunden den Kopf hob. »Nichts Spannendes. Es sei denn, du interessierst dich für eine Ermahnung wegen ungebührlichen Verhaltens in einer Diskothek.« Sie grinste ihn nur kurz an, ehe ihre Miene ernster wurde. »Da ich davon ausgehe, dass es das nicht ist … Was ist los? Sag mir, was oder wen ich suchen soll.«

Ryan grübelte einen Augenblick, dann stand er auf. »Schon gut, ich … egal. Schönen Feierabend.« Er erreichte die Tür und ging auf den Flur. Ob Joyce noch etwas zu seinem Verhalten sagte, konnte er nicht hören. Er würde nach Hause fahren, duschen, essen, hoffentlich einige Stunden schlafen und morgen in der früh ins Krankenhaus fahren. Die von Price angekündigte Pressemitteilung würde sicher erst in den Mittagsnachrichten auftauchen. Unter Umständen hatte Fuller ihm dann schon erzählt, was er wissen wollte, oder besser wissen sollte und was Price ihm, warum auch immer, nicht gesagt hatte. Spätestens dann würde Joyce ebenfalls Informationen finden. Ob er sie dann noch benötigte, würde er dann feststellen.

 

 

2.

 

»Was ist los?« Anne Haston konnte spüren, dass irgendetwas ihrem Lebensgefährten Sorgen bereitete. Es war mitten in der Nacht und Ryan war wach, immer noch. Obwohl sie zwischenzeitlich eingenickt war, da die Müdigkeit sie in die Knie gezwungen hatte, war sie sich sicher, dass er in den letzten Stunden nicht geschlafen hatte, denn etwas war anders. Wenn er nachts aus dem Schlaf schreckte, war seine Haut nassgeschwitzt, sein Herz raste und sie konnte spüren, dass er sich in diesen Momenten zwang, ruhig zu atmen. Daran hatte sie sich immer noch nicht gewöhnen können, lernte jedoch, damit zu leben.

Auch die Nächte, in denen er im Schlaf sprach, gehörten dazu. Oft hatte sie viele Fragen zu dem, was er sagte, aber sie stellte sie nicht, aus Angst, ihn zu wecken und ihn für den Rest der Nacht an eine Art Nachtschreck zu verlieren. Dann war er über Stunden nicht richtig ansprechbar. Gefangen zwischen Realität und Traum, zwischen wach und schlafend. Diese Momente sorgten sie. Den Mann, der sonst so stark, unnahbar und unverletzbar wirkte, so zu erleben, zerrte an ihr. Zudem hatte sie Angst vor den Antworten auf die Fragen, die ihr bei seinen nächtlichen Gesprächen auf der Seele brannten. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihm helfen konnte, abgesehen davon, bei ihm zu sein. Wenn er von einem Nachtschreck heimgesucht wurde, war ihre Angst besonders groß. Mit Glück waren es nur wenige Minuten, in denen er weder ansprechbar war, noch auf Berührungen reagierte. Wenn sie Pech hatte, zog es sich bis zu einer Stunde. Eine Stunde, in der er irgendwo in der Wohnung saß, verschwitzt wirres Zeug sprach und in der sie immer auf der Hut war, dass er sich nicht verletzte. Und dass er sie nicht verletzte. Ihre größte Sorge war jedoch nicht, dass er ihr etwas antat, sondern seine Reaktion darauf, wenn er wieder bei Verstand war. Sie war sich sicher, dass er sich vor lauter Vorwürfen noch mehr vergraben würde.

»Nichts.«

Nichts. Sie zwang sich, nicht scharf auszuatmen, denn sie wusste, dass er log. Anne versuchte, in der Dunkelheit seine Mimik zu deuten. Zwar fiel durch die geöffnete Schlafzimmertür etwas Licht ins Zimmer, aber sein Gesicht lag im Schatten, sodass es ihr fast unmöglich war, seine Gesichtszüge zu erkennen. Mit offenen Augen starrte er regungslos die Zimmerdecke an.

Anne sammelte nicht nur Worte, sondern auch den Mut nachzuhaken, da sie ihm diese Aussage nicht glauben wollte. Ihr war bewusst, dass sie die Frage behutsam formulieren musste, damit er nicht einfach aufstand und ging. Dann würde sie ihre Antworten frühestens am nächsten Abend bekommen. Er würde dann einen Blumenstrauß mitbringen und sich für sein Verhalten entschuldigen. Darauf wollte sie jedoch nicht warten, denn in ihr tobte ein Gefühl, dass es dringender war, jetzt Ryans Verhalten zu klären. Es lag eine Dringlichkeit in der Luft, die sie durch Ryans seltsames Verhalten fast greifen konnte.

»Sei mir nicht böse, aber ich glaube dir nicht. Du liegst nicht wegen nichts einfach wach. Das machst du ja selbst dann nicht, wenn Sean dich so geärgert hat, dass du ihn am liebsten umbringen willst.« Jetzt konnte sie hören, wie Ryan tief durchatmete, dann setzte er sich auf und sah sie an.

»Ich erzähle es dir, wenn ich selbst weiß, was das Problem ist.« Auf diese knappe Erklärung hin, warf er die Bettdecke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. »Ich geh ins Wohnzimmer, damit du schlafen kannst.« Er stand auf. Anne lagen viele Dinge auf der Zunge, die sie jedoch nicht aussprach. Er beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ich liebe dich.«

»Ich dich auch.« Sie flüsterte die Worte nur.

Sie sah ihm nach, als er mit nacktem Oberkörper in den Flur verschwand. Es war ihr nicht möglich, die tausend Fragen, die in ihrem Kopf auftauchten, zu ignorieren. Diese Fragen würden sie nun daran hindern, wieder einzuschlafen. Ob Ryan sich der Tatsache bewusst war, dass sie nun ebenfalls schlaflos im Bett liegen würde, während er entweder TV schaute oder Spiele auf dem Handy spielte, wusste sie nicht. Sie wollte es ihm aber nicht sagen. Er sollte sich nicht die Schuld daran geben, dass sie hier lag und von den Fragen zerfressen wurde, die oft auch von Sorgen begleitet wurden. Sorgen darum, wie viele Stunden Ryan nun nicht schlafen würde. Ob es nach zwei Nächten vorbei war, oder ob es noch länger dauern würde. Übermüdet war er nur schwer zu ertragen. Nicht weil er dann laut oder aggressiv wurde. Er wurde mit jeder Stunde leiser. Er beantwortete oft nicht einmal die Frage nach Kaffee. Dann war es, als würde eine leere Hülle durch ihr Haus wandeln. Er erfüllte aufgetragene Aufgaben, erledigte die Dinge, die er immer tat, aber Gespräche waren nicht mehr möglich. Es war egal, welche Fragen man ihm dann stellte. Man bekam nur sehr kurze Antworten, die im Groben zu jeder Frage passen konnten.

Sie rang mit ihren Emotionen und bemühte sich, die Tränen zurückzuhalten, als sie hörte, wie er den Fernseher einschaltete und Sekunden später den Ton leiser drehte. Irgendwann sollte sie ihm sagen, dass seine Rücksicht in Momenten wie diesen mehr schmerzte, als dass sie nutzte. In Augenblicken wie diesem hatte sie Angst, ihn zu verlieren, weil sie nicht wusste, wie sie sich richtig verhalten sollte. Sie lauschte auf die leisen Geräusche des Fernsehers und schloss die Augen. In ihrem Kopf war es jedoch nicht leise.

 

 

3.

 

Carlos rasender Puls hämmerte in seinen Ohren. Der Staub, der zäh in der Luft hing, nahm ihm den Atem, obwohl er eine Balaklava trug, die die feinen Partikel von seinen Bronchien fernhalten sollten. Er konnte die Mündungsfeuer sehen, die auf ihn und seine Kameraden gerichtet waren. Die Kugeln prallten in die Wände, verfehlten sie immer wieder nur knapp und rissen Splitter heraus, die er an der wenigen unbekleideten Haut seines Körpers wie feine Nadelstiche spüren konnte. Dann gingen vor ihm fast zeitgleich Luis und Ashton zu Boden. Es schnürte ihm die Luft noch weiter ab und doch versuchte er, die Männer, die auf sie feuerten, auszuschalten, um die Gefahr, in der sie alle schwebten, zu eliminieren und seine Kameraden, die am Boden lagen, zu versorgen. Er hatte keine Zeit, um zu zögern und in Panik zu verfallen.

»Mann am Boden!«, brüllte er und wollte zu seinen Kameraden gelangen, die wenige Meter von ihm entfernt im Flur lagen, um sie in Sicherheit zu bringen oder wenigstens zu versorgen. In Sekunden wie diesen schossen ihm hunderte Gedanken durch den Kopf, die er aber abwägen musste. Und zwar so, dass weder er in Gefahr war, noch seine Kameraden. Das hatten sie alle gelernt. Das funktionierte voll automatisch.

»Warte.« Daniel, der hinter ihm stand und ebenfalls das Feuer auf die Männer eröffnet hatte, die sie unter Beschuss genommen hatten, legte ihm die Hand auf die Schulter. Ein Zeichen dafür, dass er nicht nach vorne gehen sollte. Seine Kameraden würden noch einige Sekunden warten müssen. Sekunden, die den Getroffenen zwar das Leben kosten, ihn und die anderen aber retten könnten. Es war eine bittere Entscheidung, aber eine die sie zu ihrem Wohl treffen mussten.

»Wir müssen hier raus.«

Wer genau das sagte, konnte Carlos nicht zuordnen, da er viel zu sehr damit beschäftigt war, selbst nicht getroffen zu werden.

»Nicht!« Das eine Wort erreichte seine Ohren glasklar. Im nächsten Augenblick fand er sich am Boden liegend wieder und war kaum in der Lage, zu atmen. Daniel der gerade hinter ihm gestanden hatte, lag mit seinen hundert Kilo Muskelmasse auf ihm und hinderte ihn so noch mehr daran, Sauerstoff in seine Lunge zu bekommen. Carlos fehlte die Kraft, um seinen Kollegen von sich zu schieben. Jeder seiner Knochen schmerzte, in seinen Ohren herrschte ein unerträgliches Pfeifen, und die Angst vor dem, was er gleich sehen würde, wenn er Daniel zur Seite bekommen könnte, lähmte ihn. Ob in diesem Moment jemand sprach oder schrie, konnte er nicht hören. Das Fiepen verhinderte, dass auch nur ein einziges Geräusch seinen Verstand erreichte. Es musste eine Sprengfalle gewesen sein. Vielleicht sogar eine von denen, die sie gerade entdeckt hatten, als sie das Gebäude durchsucht hatten. Mit einem verdammten Zeitzünder oder einem Bewegungssensor.

»Status?« Hatte schon jemand die Abfrage gestellt? Er hatte keine Ahnung. Seine pfeifenden Ohren verhinderten, dass er eine Antwort hören konnte. Seine Anfrage war ein Automatismus. Er tat, was er gelernt hatte, was er tun musste. Wenn er hier lebend raus wollte, musste er funktionieren, egal ob die Welt um ihn herum in diesen Sekunden in Trümmern lag. Es gelang ihm, Daniel von sich zu stoßen. Der leere Blick des großen Mannes, der ihm gerade noch den Rücken gedeckt hatte, ließ ihn die Augen schließen. Sie hatten Daniel Haney verloren. Er war tot, und Carlos war am Leben, weil Daniel hinter ihm gestanden hatte. Carlos wollte sich aufsetzen, spürte aber weder seinen Rücken noch seine Beine. Er lag auf dem Rücken, rang nach Luft und zwang sich, die penetranten Schmerzen, die scheinbar aus jeder seiner Zellen zu kommen schienen, zu ignorieren. Er hatte nicht einmal eine Ahnung wo und wie er verletzt war. Es tat einfach nur höllisch weh. Erneut flogen Kugeln über seinen Kopf hinweg und trafen Anthony Spivey, der kurz in seinem Blickfeld aufgetaucht war, mitten ins Gesicht. Carlos konnte den feinen Nebel aus Blut und den Überresten von Antonys Kopf fühlen, als der sich auf ihn legte. Er konnte ihn sogar riechen und schmecken. Wo waren die anderen? Er schaffte es nicht, sich aufzusetzen. Dafür sah er, wie die Männer, die das Feuer auf sie eröffnet und die gerade seine Kameraden getötet hatten, näherkamen. Der Kampf, der in seinem Kopf tobte, lähmte ihn, auch wenn er es doch besser können müsste.

Es gelang ihm, trotz der bestialischen Schmerzen, sein Gewehr zu greifen. Er schoss ohne zu zielen auf die Männer. Und traf. Carlos feuerte eine weitere Salve ab, dann traf ihn eine Kugel im Oberkörper. Wo genau, konnte er nicht einmal einschätzen. Es war ein glühend heißer Schmerz, der durch seinen Köper tobte und seinen Griff um sein Gewehr lockerte. Die Luft, die in seine Lunge strömte, wurde weniger. Der Geschmack von Blut verteilte sich schleimig erstickend in seinem Mund. Er war kaum noch in der Lage zu atmen. Verzweifelt wollte er nach dem Gewehr greifen, das irgendwo neben ihm lag. Er würde sich nicht gefangen nehmen lassen. Sollte es das nun gewesen sein?

 

»Fuller, bleiben Sie bei mir!«

Carlos öffnete die Augen und sah in das Gesicht eines dunkelhäutigen Mannes, den er auf höchstens zwanzig schätzte.

»Wir holen Sie hier raus«, erklärte der Mann. Carlos brachte kein Wort heraus. Auch die Frage nach seinen Kollegen konnte er nicht stellen. Er hatte keine Kraft mehr und das Denken fiel ihm schwer. Träge schloss er die Augen, darum flehend, dass der Schmerz endlich endete.

 

»Carlos? Alles ok. Du bist in Sicherheit. Du musst nur die Augen aufmachen.«

Er kannte die Stimme, die zu ihm sprach. Er hatte sie lange nicht gehört und er mochte den Typen nicht, der zu der tiefen Stimme gehörte. Er wollte den Mann nicht sehen, der so lange sein Kamerad, wenn auch nicht sein bester Freund gewesen war. Sie waren miteinander ausgekommen, nicht mehr, nicht weniger.

»Alter, komm schon.«

Jetzt berührte dieser Verräter ihn auch noch am Arm. Trotz dieser Berührung, die er, gerade von diesem Mann, sonst nie einfach so zugelassen hätte, fiel es ihm schwer, die Augen zu öffnen. Aber wenn er sie weiter geschlossen hielt, würde der Mann an seinem Bett weitersprechen und ihn unter Umständen nochmals anfassen. Das wollte Carlos auf keinen Fall. Er wollte tief einatmen, um dem Idioten zu sagen, dass er sich verziehen, dass er abhauen und ihn alleine lassen sollte. Aber sein Köper bremste ihn mit aller Härte aus. Es war, als hätte man Gewichte an seine Augenlider geheftet und ihm einen der Baumstämme aus dem BUDS auf die Brust gelegt.

»Hey.«

Carlos hatte nur kurz geblinzelt und eine Sekunde gehofft, dass er sich geirrt hatte. Dass sein Verstand ihm nach dem brutalen Alptraum einen bösen Streich spielen und Realität sich mit Traum vermischen würde, wie es in den letzten Stunden so häufig passiert war.

Vor ihm stand Ryan DeSanto, der ihn mit mitleidiger Miene ansah. Was erwartete dieser Idiot von ihm? Eine herzliche Begrüßung? DeSanto hatte das Team verlassen, hatte sie alle hängen lassen, um eine neue Karriere zu starten. Bis zum Captain hatte er es nun gebracht. Ein Posten, den er im Team 5 ebenfalls hätte bekommen können. Sie alle hätten ihn dabei unterstützt, selbst er, obwohl er ihn nicht leiden konnte. DeSanto war das beste Beispiel eines perfekten SEALs. Dieser Mann hatte nur eine Bestimmung: Als SEAL den Arschlöchern den Weg in die Hölle zu ebnen. Aber er hatte es vorgezogen, sich zu verpissen, als es für ihn ungemütlich geworden war. Dabei hatten sie ihm alle beigestanden. Trotzdem war er gegangen. Er hatte sich von ihnen abgewandt, weswegen auch sie sich von ihm abgewandt hatten.

»Was willst du hier?« Carlos fiel das Sprechen schwer. Überhaupt fiel ihm alles schwer. Atmen, denken, selbst das Liegen war anstrengend. Der Gedanke an das, was passiert war, holte ihn mit jedem Mal, wo er einschlief, ein, und brachte all die Schmerzen zurück. Immer und immer wieder hoffte er auf ein anderes Ende seiner Träume. Hoffte darauf, dass seine Kameraden noch am Leben waren. Oder dass auch ihn eine Kugel im Gesicht traf und die Scheiße beendete, die er immer und immer wieder durchlebte. Als die Ärzte in Landstuhl ihm hatten erzählen wollen, was ihm fehlte, hatte er sie angeschrien und ihnen gesagt, er wolle es nicht wissen. Das war nur Sekunden nach der Botschaft gewesen, die ihm einer der Ärzte überbracht hatte, als er sich nach seinen Kameraden erkundigt hatte. Er war der einzige Überlebende. Die meisten hatten ihre Verletzungen durch eine der Sprengfallen erlitten, die hinter einer der Türen platziert worden waren. Nur wenige waren durch Kugeln ihrer Gegner getötet oder verletzt worden. Man hatte sie mit eiskalter Berechnung in die verminten Räume gejagt. Und sie waren blind in die Falle getappt. Nur er Idiot hatte überlebt, weil Daniel wie ein Elefant auf ihn gefallen war. Nun lag er hier, vollgepumpt mit Schmerz- und Beruhigungsmitteln, und sollte sich erholen. Erholen, wenn ein Ryan DeSanto vor ihm stand. Er hätte aufgelacht, wenn es ihm nicht solche Schmerzen verursacht hätte.

»Price war bei mir und hat gesagt, ich soll herkommen. Es tut mir leid, Carlos.« Ryan setzte sich langsam auf den Stuhl, der neben seinem Bett stand.

»Und nun sollst du mich bemitleiden, oder was?« Carlos schaffte es, sich im Bett ein Stück nach oben zu arbeiten. Er wollte nicht so hilflos neben DeSanto liegen. Nicht neben diesem Idioten.

»Er sagte, du erzählst mir, was passiert ist. Es gibt noch keine offizielle Pressemitteilung. Die kommt erst im Laufe des Tages.« Die Schwere in Ryans Stimme und dessen Blick machten Carlos zu schaffen. Dieser Idiot sollte nicht so schauen. Wenn er nicht gegangen wäre, wäre er wahrscheinlich bei ihnen gewesen. Vielleicht wäre dann alles anders gelaufen.

»Verzieh dich. Schau dir die Mitteilung an und gut. Aber sitz hier nicht und tu so, als wenn dir irgendwas leid tut«, brachte er mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Der Schmerz, vor allem jedoch die Wut auf Ryan, sorgten dafür, dass er den Mann mit dem dunklen Vollbart, der in Jeans und hellem Hemd neben ihm saß, erbost ansah.

»Hör mit dem Scheiß auf. Was ist passiert? Hinter wem wart ihr her?« Ryan blaffte ihn wutentbrannt in einer Art an, wie er sie von früher gut kannte. Auch wenn er Ryan nicht leiden konnte, war es aus irgendwelchen Gründen vielleicht wichtig, dass er die Informationen herausgab. Warum sonst hätte Price DeSanto mit dem Auftrag, er solle sich hier informieren, aufgesucht? Ansonsten hätte es gereicht, wenn Ryan durch die Fernsehnachrichten erfuhr, was geschehen war. Warum also war sogar Price persönlich zu DeSanto gefahren? Schließlich hatte DeSanto auch Price vor den Kopf gestoßen, als er gegangen war.

»Quadra Hameed. Wir hatten die Info, dass er sich in der Nähe der Moschee in As-Suchna versteckt.« Carlos stockte, er konnte sehen, wie Ryan förmlich die Farbe aus dem Gesicht wich. Dabei konnte diesen Mann ansonsten kaum etwas erschüttern. Diese Info schien ihm jedoch den Boden unter den Füßen wegzureißen, was Carlos verwunderte. »Was?«

»Meine Leute sind auch da und suchen ihn. Weißt du, was passiert ist? Also, was schiefgelaufen ist?«

Carlos atmete schwer durch. Er wollte sich nicht an das erinnern, was geschehen war. Er wollte die Bilder nicht wieder heraufbeschwören. Vor allem waren dort so viele Lücken, dass er nicht einmal genau sagen konnte, was eigentlich schiefgelaufen war, abgesehen davon, dass man ihnen in den Rücken gefallen war. Besser gesagt, dass man sie in eine Falle getrieben hatte, obwohl sich vor den Türen des Gebäudes ein Backup-Team bereit gehalten hatte. Und dann war da noch eine Frage, die vor wenigen Augenblicken aufgetaucht war.

»Seit wann sind deine Leute da?« Er war gerade mal einen Tag zurück, wenn er die Zeit im Krankenabteil des Flugzeugträgers im Mittelmeer einrechnete, war es zwei Tage her, dass man sie aufgerieben hatte. Und sie hatten vor zwei Wochen in Syrien begonnen, Hameed zu suchen. Von einem anderen Team hatte ihnen jedoch nie jemand etwas gesagt. War Ryans Team vielleicht direkt nach dem Vorfall losgeschickt worden, oder hatten sie sie sogar unterstützen sollen?

»Vor fünf Tagen.« Ryan warf einen Blick auf seine Armbanduhr und sah sich dann suchend um, um dann nach der Fernbedienung des Fernsehers zu greifen. »Ich dachte, wir wären alleine da.« Carlos kam ins Grübeln. Er hatte weder ein ankommendes Team bemerkt, noch hatte man ihn darüber informiert. Ob seine Kameraden etwas gewusst hatten, konnte er nicht mehr prüfen. Zudem wurden seine Kopfschmerzen immer schlimmer.

»Das denken die vom Alpha-Team auch.« Ryan schaltete den Fernseher ein und zappte durch das Programm, bis er CNN gefunden hatte. Für die Nachrichten, die sie nun beide erwarteten, war es jedoch noch zu früh.

»Was denkst du?« Carlos fiel es schwer, irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Die Schmerzmittel verhinderten, dass er überhaupt wirklich vernünftig denken konnte. Seine Überlegungen brachen mit jeder noch so kleinen Störung ab, weswegen er die Fäden ständig neu aufnehmen musste, nur um sie nach wenigen Augenblicken wieder zu verlieren. Dieser Prozess war schnell so ermüdend, dass er aufgab.

»Dass du mir erstmal erzählen solltest, was passiert ist.« Ryan sah ihn bei seinen Worten nicht an. Er starrte auf den Bildschirm des Fernsehers und schien die News herbeizusehnen.

»Ich weiß es nicht mehr genau, verdammt.« Er konnte doch nichts erzählen, wenn er nicht mehr alle Kleinigkeiten wusste. Vielleicht hatte er etwas Wichtiges nicht mitbekommen oder erinnerte sich nicht daran. Er konnte niemanden fragen, was passiert war. Sie konnten kein Puzzle aus den Erinnerungsfetzen aller zusammenbauen, um ein großes Bild zu erhalten. Es gab nur noch seine Erinnerungen, die reichten nicht aus, um das Puzzle zu vervollständigen. Er wusste nur, was er erlebt hatte und das, was man ihm im Nachhinein über seine Rettung erzählt hatte. Man hatte ihn bewusstlos neben seinen Kameraden gefunden und vermutete bis heute, dass ihre Angreifer davon ausgegangen waren, dass er tot war. Sie waren wahrscheinlich zu sehr damit beschäftigt gewesen, das Team zu bekämpfen, das Carlos und seine Kameraden hatte retten sollen, als dass sie genauer nach Lebenszeichen geschaut hatten.

»Dann streng dich an.« Ryans wechselte seinen Blick vom Fernseher zu ihm. Aus seinen dunkelbraunen Augen funkelte es bedrohlich und Carlos wusste, dass der Mann dort auf dem Stuhl keine Sekunde Geduld mehr mit ihm aufbringen würde.

»Okay, okay. Wir hatten die Info, dass Hameed sich in einem größeren Gebäudetrakt westlich der Moschee aufhält. Laut unseren Informationen waren es mehrere aneinandergebaute Lager- und Produktionshallen mit Büros. Leerstehend, wie vieles in der Gegend. Wir hatten entschieden, den direkten Weg rein zu nehmen, während im hinteren Bereich, wo alles sehr eng ist, ein paar Kameraden der Marines mögliche Fluchtwege sichern sollten. Wir sind nicht weit gekommen.« Carlos schloss die Augen und versuchte, die Bilder aufzurufen, die er von dem Inneren des Gebäudes hatte. Diese Infos waren für Ryan vielleicht unwichtig, ihm halfen sie jedoch, sich in Gedanken zu orientieren. »Wenn man reinkommt, gibt es einen großen, recht unübersichtlichen Bereich zur Rechten. Zwei alte Trucks, Kfz-Gedöns, eine Hebebühne, auf der ein Toyota stand. Kisten und Fässer, ein übersichtliches Chaos. Links waren über zwei Etagen Büros. Laut der Drohnenüberwachung und der Wärmebildinformationen war nur im oberen Bereich jemand. Wir haben unten gesichert, sind dann hoch. Ein Büro rechts, nach links die Balustrade, dann ein Flur, der zu einem weiteren Büro führt. Zwanzig Meter. Barnes hat die Tür aufgetreten. Dann wurde von unten das Feuer auf uns eröffnet. Ich hab keine Ahnung, wo die herkamen. Wir hätten zurück gemusst. Von oben hätten wir sie ausschalten können. Gonzales und Goode wurden getroffen. Ich wollte zu ihnen, Haney hat mich zurückgehalten, wahrscheinlich wäre ich dem Schützen sonst vor den Lauf gerannt. Ich weiß nicht genau, was dann passiert ist. Irgendwas ist explodiert. Haney lag plötzlich auf mir und als ich hochgesehen habe, standen die schon am anderen Ende vom Flur. Sie haben Spivey ins Gesicht geschossen und …«

»Okay, okay.« Ryan unterbrach ihn. »Sprengfalle?«

Carlos nickte. Diese Vermutung hatte er bei seinem ersten Erwachen gehegt und gegenüber eines Ermittlers ausgesprochen, der eine Notiz gemacht und sich dann seinem Kollegen zugewandt hatte. Die Art, wie die beiden Männer sich angesehen hatten, ließ Carlos einen Verdacht aussprechen.

»Was, wenn das jemand wusste? Also, wenn wer wusste, dass das passieren würde?«

»Dein Ernst?« Ryan hatte die Brauen skeptisch nach oben gezogen. »Dann war der Informant ein Arsch.«

»Nur der Informant?«

Ryan hatte seinen Blick wieder auf den Fernseher gerichtet und schaltete den Ton an.

»Wie das Verteidigungsministerium heute in den frühen Morgenstunden bekannt gegeben hat, sind vor zwei Tagen sieben Elitesoldaten bei dem Versuch, QuadraHameed gefangen zu nehmen, ums Leben gekommen. Laut Minister Clarkson, der den Angehörigen sein Beileid aussprach, sind die Männer in einen Hinterhalt geraten. Nach der Pressekonferenz traf sich der Minister mit führenden Köpfen der Waffenindustrie, in den kommenden Tagen ist ein Treffen mit dem Präsidenten anberaumt. Clarkson fordert mehr Geld für die Ausbildung der Soldaten, um solche Unglücke zu verhindern. Ob aktuell noch nach Hameed gesucht wird, der als führender Kopf der ISIS in Syrien gilt, ist nicht bekannt.«

Ryan schaltete den Ton lautlos und richtete seinen Blick auf Carlos.

Ihm fehlten die Worte. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, wie die Bevölkerung vom Tod seiner Kameraden erfahren sollte, aber diese Sekunden waren ein Schlag ins Gesicht. Von der Beileidsbekundung direkt zur Waffenlobby und dann ein kleiner, aber nicht zu überhörender Hinweis, dass sie nicht gut ausgebildet waren. Sollte das heißen, dass sie unter Umständen selbst schuld waren? Er knirschte mit den Zähnen. Als er die Hände zu Fäusten ballen wollte, erinnerte ihn sein Körper daran, dass einige seiner Muskeln nur noch aus Fetzen bestanden. Der entstehende Schmerz sorgte dafür, dass er zischend die Luft ausstieß.

»Arschloch!« Ryans gerauntes Wort ließ ihn nicken. »Ich kann den Typen nicht leiden«, legte sein ehemaliger Teamkamerad nun nach.

»Wer mag den schon?« Carlos lehnte sich im Bett zurück. Er fühlte sich, als hätte er einen Marathon in voller Montur hinter sich gebracht.

»Wir dachten, er kann nur uns nicht leiden. Wenn ich dich so höre, sieht es bei anderen wohl ähnlich aus.«

»Der Typ ist nur nervig. Alles muss genau dokumentiert werden. Wenn du auch nur irgendwo was nicht aufgeschrieben hast, kommen seine Laufburschen und stellen dich zur Rede.«

»Kommt mir bekannt vor.« Ryan machte eine Pause. »Ich glaub, ich lass dich mal schlafen und schaue, wie ich meinen Leuten helfen kann. Du hast keine Idee, was das für eine Sprengfalle war, oder?«

»Nein.« Carlos schüttelte müde den Kopf. »Irgendwas gut Verstecktes. Mit Timer oder zeitverzögert oder so.« Er zuckte mit den Schultern. Es könnte vieles gewesen sein. Festlegen wollte er sich nicht.

»Ok, gute Besserung. Wenn dir was einfällt, meld dich. Ich komm die Tage wieder vorbei.« Ryan erhob sich und ging zur Tür. »Und lass die Finger von den Schwestern.« Er sah nochmals über die Schulter und schaffte es, mit seinem Kommentar, Carlos kurz zum Lächeln zu bringen.

»Hast du Angst, dass ich dir die Hübscheste wegnehme?« Er bekam von Ryan keine Antwort mehr, was ihn nicht verwunderte. DeSanto hatte, was Frauen anging, schon immer ein seltsames Verhalten an den Tag gelegt. Carlos wusste nicht einmal, ob Ryan je eine feste Freundin gehabt hatte oder aktuell in einer Beziehung steckte. Mit ihm hatte man selten Späße auf dem Rücken des weiblichen Geschlechts machen können. Das Einzige, was er genau wusste, und was auch Grund dafür war, das Ryan Team 5 verlassen hatte, war, dass Ryan eine Freundin bei einem Attentat in einem Kino verloren hatte. Angeblich nur eine Freundin. Carlos war, wie das gesamte Team, der Meinung gewesen, dass da mehr zwischen der Frau und Ryan gewesen war. Sein Kamerad hatte das aber immer abgestritten.