Vor den Fenstern des noblen Mehrparteienhauses in Mariupol ging die Sonne unter, als Ethan Harrington die große Wohnung betrat, in der er gemeinsam mit seiner Frau und seinen inzwischen erwachsenen Kindern seit Jahren lebte. Es war kein Sonntag wie all die anderen. Ethan arbeitete selten an den Wochenenden, seit einigen Wochen war er jedoch fast rund um die Uhr unterwegs und traf sich mit weiteren Diplomaten, mit Politikern und Geschäftsleuten. Er war seit geraumer Zeit damit beschäftigt, einem großen amerikanischen Unternehmen den Weg in den ukrainischen Handel zu ebnen, was mit viel Aufwand verbunden war. Während dieser Verhandlungen hatte er auch einige Investoren der Russen kennengelernt, die das Unternehmen unterstützen wollten, indem sie bei ihm die amerikanischen Produkte einkauften. Ihm war jedoch aufgefallen, dass sich viele Russen aus dem Handel mit der Ukraine zurückzogen. Die, die sich nicht zurückzogen, kündigten geringere Investitionen an und waren bei den Treffen sehr reserviert.
Als er sich vor fünfzehn Jahren entschieden hatte, seine Arbeit hier in der Ukraine zu verrichten, hatte es oft Situationen gegeben, in denen Russland der Ukraine gedroht und sogar gefährliches Gebaren an den Tag gelegt hatte. Die Annexion der Krim vor einigen Jahren machte deutlich, wie real die Gefahr war, doch bisher konnte man den Frieden zwischen den Ländern aufrechterhalten. Zumindest hatte er das gedacht. Seit einigen Tagen änderte sich das Bild jedoch sehr rasch. Es gab Truppenbewegungen an den Grenzen. Der russische Präsident deklarierte diese als Großübung der Armee. Ethan hingegen konnte inzwischen nicht mehr umhin, den Analysten recht zu geben, dass ein möglicher Angriff auf die ukrainischen Gebiete Luhansk und Donezk bevorstehen könnte, da dortige Sepa-ratisten täglich aktiver wurden und teilweise begannen, die Bevölkerung zu evakuieren.
Er atmete durch und zwang sich, seine Gedanken von seiner Arbeit zu lösen. Es würde kein Krieg ausbrechen. Selbst der russische Präsident könnte das nicht wollen. Die Ukraine war zwar nicht Mitglied der NATO, strebte die Mitgliedschaft aber seit vielen Jahren an. Diese Bestrebungen fühlten sich wie eine Bedrohung für Russland an. Ein Teil von Ethans Job bestand darin, den Menschen hier und in Russland klarzumachen, dass Russland sich nicht von der NATO provoziert fühlen musste. Für die Ukraine hätte eine Mitgliedschaft viele Vorteile.
»Hi Dad.«
Ethans Tochter Sophie begrüßte ihn mit einem Kuss auf die Wange, was ihm ein Lächeln auf die Lippen zauberte. In solchen Momenten war es noch da, das kleine Mädchen, das ihn so vergöttert hatte. Heute war sie eine erwachsene Frau mit einem Plan für ihr eigenes Leben. Seine Kinder hatten den Großteil ihres Lebens hier verbracht. Sie hatten Freunde hier. Ihr Alltag spielte sich hier ab. Sophie studierte Kunst, während ihr älterer Bruder Ethan Jr. einen sehr bodenständigen Job als Lagerist am Hafen ausübte. Auch sein zweiundzwanzigjähriger Sohn war in diesen Minuten in der Wohnung. Er saß bereits am Wohn-zimmertisch und schenkte allen ein Getränk ein. So oft wie möglich nahmen sie sich die Zeit, zusammen zu essen, sich über die vergangene Woche auszutauschen und zu hören, was es Neues gab im Leben der anderen, denn die Momente, in der die Kinder von der Schule kamen und sie sich täglich hier trafen, waren vorbei. Sie sahen sich zwar täglich, hatten oft jedoch nicht die Zeit für eine gemeinsame Mahlzeit. Aus diesem Grund hatten sie den Sonntag als Abend für ein Familienessen einge-führt und er bildete sich ein, dass alle diese Gelegenheit für Gespräche genossen.
»Hi meine Kleine.« Er umarmte die junge Frau, die in seinen Augen viel zu schnell groß geworden war. Dann trat er zu seinem Sohn und legte ihm die Hand auf die Schulter. Ihm fiel ein Schnitt auf dem Handrücken seines Ältesten auf.
»Na, was war es dieses Mal?« Er setzte sich neben seinen Sohn und deutete auf die Wunde an der Hand.
»Das glaubst du ihm eh nicht.« Seine Frau Kate kam mit einem dampfenden Topf aus der Küche und stellte ihn auf den Tisch.
»Na, nun bin ich aber richtig gespannt auf die Story.« Ihm war nicht entgangen, dass sein Sohn seine Frau mit einem Oh Mom, muss das sein Gesichtsausdruck angesehen hatte.
»Ein Umreifungsband«, erwiderte Jr. leise.
»Und wie?« Ethan bemühte sich, ein Bild vor Augen zu bekommen, das ihm den üblen Kratzer auf dem Handrücken erklärte und bei dem das stabile Packband eine Rolle spielte.
»Ist doch egal«, murrte sein Sohn nun in einer Art, die mehr den zwölfjährigen Jr. widerspiegelte als den Zweiundzwanzig-jährigen.
»Er wollte zeigen, dass er es so abreißen kann.« Sophie ließ sich lachend ihm gegenüber am Esstisch nieder.
»Okay.« Ethan nickte mit einem Schmunzeln. »Wahr-scheinlich ist Plastik doch sehr widerspenstig.« Ihm war klar, dass sein Sohn den genauen Hergang nicht preisgeben würde. Das würde zu sehr an seinem Stolz nagen.
Noch ehe seine Frau später die Nachspeise servierte, beugte sein Sohn sich zu ihm. »Sag mal, denkst du, dass sie uns angreifen werden?«
»Ethan, nicht hier am Tisch«, mahnte seine Frau ihren Sohn, ehe er antworten konnte.
»Mom, wir sind keine kleinen Kinder mehr«, protestierte Sophie ebenfalls gegen die Regel, die sie vor vielen Jahren aufgestellt hatten. »Unsere Freunde leben hier und viele machen sich Gedanken, wenn sie hören, was aktuell gemunkelt wird«, erklärte sie ihren Protest nun in ruhigem Ton.
Er tauschte einen Blick mit seiner Frau, die mit den Schultern zuckte und aufstand. »Ich hol den Nachtisch.« Sie hatte unübersehbar keine Lust auf ein politisches Gespräch und auch nicht darauf, dass sie die goldene Regel am Tisch brachen.
»Ich bin mir nicht sicher. Ich denke nicht, dass da was passieren wird, obwohl die Kontakte in letzter Zeit immer angespannter geworden sind. Ein Krieg würde aber auch für die Russen nur Probleme bringen.«
»Dad, im Hafen wird gemunkelt, dass Luhansk und Donezk evakuiert werden, und dass immer mehr russische Truppen in der Gegend unterwegs sind. Ich habe sogar mitbekommen, wie ein russischer Captain sagte, dass es für längere Zeit die letzte Ladung gewesen sei, die er bei uns gelöscht hat. Er ist davon überzeugt, dass er beim nächsten Anlegen russisches Getreide laden wird, weil die Ukraine dann den Russen gehört. Er meint dann wird alles leichter.«
»Nein.« Ethan schüttelte bei den Worten seines Sohnes vehement den Kopf. »Das ist Säbelrasseln, mehr nicht«, erklärte er und hoffte, dass es, wenn er es aussprach, der Realität entsprechen würde. In den vergangenen Wochen waren die Verbindungen nach Russland immer kühler geworden. Niemand ließ wirklich mit sich reden und er hatte oft das Gefühl, dass man ihn nicht wahrnahm. Russische Kollegen, mit denen er noch vor einem Jahr in gutem Kontakt gestanden hatte, hatten diesen in den letzten zwölf Monaten einschlafen lassen und er wollte sich nicht eingestehen, dass es etwas mit den Vorgängen an den Grenzen zu tun haben könnte. Vielleicht hatten die Männer und Frauen einfach viel zu tun oder das Leben mit dem Präsidenten war aktuell wieder schwer. Solche Phasen hatte es immer gegeben und er sah sie als völlig normal an.
»Lasst uns über etwas anderes sprechen.« Kate hatte den Tisch abgeräumt und sich danach wieder zu ihnen gesetzt. »Wollen wir nicht mal wieder in die Oper?«, schlug sie vor, was bei ihrer Tochter für ein Strahlen in den Augen sorgte und bei ihrem Sohn für ein Ausatmen, das nicht von Begeisterung zeugte. Sie waren mit ihren Kindern regelmäßig in die Oper gegangen und taten es weiterhin gerne, nur Jr. interessierte sich immer weniger für Kultur.
»Du musst nicht mitkommen, wenn du nicht möchtest.«
Ethan war gespannt, ob sein Sohn auf diesen Vorschlag seiner Frau eingehen würde.
»Wenn ich dann in einen Club gehe, seid ihr wieder angefressen, weil die ach so heilige Familienzeit zu kurz kommt.«
Nun warf er seinem Sohn einen prüfenden Blick zu. Bisher hatte der sich noch nie schlecht zu ihren Familienzeiten geäußert. Sie hatten immer das Gefühl gehabt, dass ihr Sohn diese Stunden ebenfalls genoss.
»Also zum einen hätte ich damit kein Problem und zum anderen stellt sich mir grad die Frage, ob du deine Zeit nicht mehr gerne mit uns verbringst?« Kate musterte ihren Ältesten intensiv und Ethan wartete gespannt auf die Antwort.
»Du wärst enttäuscht, wenn ich nicht mit euch gehen würde. Und ja, ich verbringe gerne meine Sonntage hier, aber ich möchte auch Zeit mit meinen Freunden verbringen, die nicht so viel Luxus wie wir haben. Die vielleicht nicht im Geld schwimmen, mit denen ich aber trotzdem gerne unterwegs bin. Das einfache Leben ist manchmal deutlich schöner als dieser goldene Käfig, in dem ihr uns aufgezogen habt.«
Nun entglitten auch Sophie die Gesichtszüge und Ethan stellte sich kurz die Frage, was in seinen Sohn gefahren war. Er war immer der Meinung gewesen, dass Jr. das Leben, welches er als Diplomatenkind geführt hatte, genossen hatte.
»Wie meinst du das?«, hakte er nun nach, nachdem sein Sohn nicht weitersprach.
»Wir lassen uns hier das Leben bezahlen. Alles, egal was, wir bekommen es. Meine Freunde müssen für ihren Unterhalt arbeiten. Wenn ich keinen Bock habe, muss ich nicht arbeiten, ich könnte mich hier jeden Tag hinsetzen und mit euch essen, nur weil ich es kann. Ich will aber endlich selbstbestimmt leben. Ich habe mein eigenes Einkommen. Ich möchte eine eigene Wohnung, in der ich Partys mit meinen Freunden feiern kann. Und ich habe keine Lust mehr auf diesen Diplomatenmist. Ich bin doch wohl alt genug, um mein eigenes Leben zu führen.« Er war aufgestanden und stierte nun ihn an, während Kate nur nickte.
Darüber, dass ihr Ältester sich von ihnen abkapseln würde, hatten sie mehr als einmal gesprochen. Er hatte, wie er gesagt hatte, einen Job und verdiente sein eigenes Geld. Die Vorzüge des Diplomatenlebens konnte er aber immer noch genießen. Selbst seinen Arbeitsplatz hatte er damals bekommen, weil sein Vater als Botschafter mehr als eine Kontaktperson hatte, die Jr. zu einem guten Job hatte verhelfen können. Er hatte seinen Kindern die Wege hier geebnet. Dass sein Sohn sich gerade darüber beschwerte, lag ihm schwer im Magen. Er hatte nur das Beste für seine Kinder gewollt. Kate hatte bereits angedeutet, dass sie ihre Kinder vielleicht zu oft bevorteilt hatten. Dass vor allem Jr. sich sein eigenes Leben aufbauen wollen würde. Dass er die ganzen Vorteile nicht mehr haben wollte. Dass er einfach sein Leben hier mit seinen Freunden verbringen wollte.
»Okay.« Ethan atmete durch. Dass sein Tag so enden würde, hatte er nicht vermutet. Ein Gutes hatte diese Diskussion jedoch. Er war abgelenkt von dem, was draußen stattfand. »Dann musst du dir eine eigene Wohnung suchen, die aber auch selber finanzieren.«
»Habe ich eigentlich schon und ja, die ist bezahlbar.« Sein Sohn musterte ihn herausfordernd. »Und ich habe genug Geld, um mir eine Grundausstattung zu kaufen«, fügte er nun mit einem provozierenden Lächeln hinzu, als hätte er gewusst, dass sein Vater dieses Thema als Nächstes angeschnitten hätte. Denn eine Wohnung ohne Bett und Küche wäre doch kein Zuhause.
»Okay, dann erzähl mal. Und vor allem tu dir einen Gefallen und halte alles in einem schriftlichen Mietvertrag fest.«
Bear zog die Wolldecke, unter die Karen sich gekuschelt hatte, zurecht und lauschte den Berichten im Fernsehen. Sein Heimatland, zu dem er sich nicht mehr wirklich verbunden fühlte, hatte Landstriche in der Ukraine annektiert und die Spannungen, die entstanden, machten vielen Sorgen. Er konnte sich jedoch nicht vorstellen, dass die Worte des russischen Präsidenten der Realität entsprachen, dass es in der Ukraine zu einem Völkermord durch die eigene Regierung käme. Auch sprach er immer wieder von Neonazis in der Ukraine und bezichtigte damit die aktuelle Regierung des Landes des Rechtsextremismus.
»Die sind doch alle verrückt geworden.«
»Jo.« Bear nickte bestätigend. Tagsüber hatten sie in der Base immer wieder Nachrichten geschaut. Immer wieder war die Vermutung laut geworden, dass Russland die Ukraine angreifen könnte. Eine Vorstellung, mit der er sich einfach nicht anfreunden konnte. Krieg in Europa passte nicht in sein Weltbild. Die terroristischen Scharmützel, in denen er immer wieder gekämpft hatte, waren etwas völlig anderes als ein Krieg. Krieg in der Form, wie er entstehen könnte, hatte auch er noch nicht erlebt. Ihm war bewusst, dass er, sollte Russland sich auf den Weg nach Polen machen, dann zu denen gehörte, die unter Umständen in einen Einsatz mussten. Er war sich sicher, dass man zuerst versuchen würde, die Russen mit gezielten punktuellen Angriffen zum Rückzug zu zwingen, sollte der Nato-Bündnisfall eintreten. Und für solche Einsätze war die I.A.T.F prädestiniert. Zumal sie unter direktem Befehl des Verteidigungsministers standen. Ronan Underwood könnte sie schicken und, egal welchen Ausgang ein solcher Einsatz nehmen würde, behaupten, er hätte von nichts gewusst. Je weniger Menschen von solchen Operationen wussten, desto weniger Menschen konnten Fragen stellen. Und desto weniger Dokumente existierten.
Dass er dann seinen eigenen Landsleuten gegenüberstehen würde … Nein, so weit würde es nicht kommen. Der russische Präsident würde diesen Schritt nicht gehen. Bear war der festen Überzeugung, dass es zwar viele politische Gespräche geben würde, aber keinen Krieg. Wahrscheinlich würden ein weiteres Mal Sanktionen verhängt werden, die Russland erneut kaum treffen würden. Denn an den letzten Sanktionierungen war die Wirtschaft in einigen Zweigen sogar gewachsen. Russland baute Lebensmittel in noch größerem Stil an und Bear hatte zum Beispiel von Landwirten gehört, die aus der EU nach Russland ausgewandert waren, weil man ihnen dort die Arbeit nicht erschwerte. Wahrscheinlich schadeten die Sanktionen denen, die sie verhängten, weit mehr.
Mitten in der Nacht riss ihn sein klingelndes Handy nach einem ruhigen Abend mit Karen aus dem Schlaf. Im Display sah er die Nummer der Base, weshalb die Müdigkeit innerhalb von Sekunden von ihm abfiel. Er nahm den Anruf entgegen.
»In einer Stunde in der Base«, erklärte Rafael ihm. »Mehr dann«, fügte der Agent hinzu, ehe Bear fragen konnte, weswegen man ihn aus der Nachtruhe holte.
»Aye!« Er quittierte den Befehl, als er die Beine aus dem Bett schwang.
»Was ist los?« Karen wandte sich mit rauer Stimme zu ihm um. Im Gegensatz zu ihm war sie noch schläfrig.
»Ich muss in die Base«, erklärte er und musste sich daran hindern, auf seinem Handy die neuesten Nachrichten zu googlen. Ihr Befehl könnte Gründe haben, die er so nicht auf den Seiten der Nachrichtensender und Zeitungen finden konnte.
»Jetzt?« Nun setzte sich Karen auf und schien ebenfalls hellwach zu sein.
»Ja, ich weiß nicht, was los ist. Leg dich wieder hin und mach dir keine Sorgen. Erstmal sollen wir nur reinkommen. Das muss nichts heißen.« Er beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss.
»Nein, ich stehe auf. Vielleicht brauchen Yvonne und Syrell mich. Wenn die beide losmüssen, muss die Kleine ja irgendwo bleiben.«
»Du glaubst echt, dass sie beide einziehen, wo wir noch nicht mal wissen um was es geht?« Bear zog sich sein Hemd über, als er die Frage stellte und konnte hören, wie Karen ihre Bettdecke zurückwarf. Seine Kollegin Yvonne und ihr Ehemann Syrell, den er schon viele Jahre als sehr guten Kameraden kannte, würden nicht gemeinsam in einen Einsatz gehen und sicher hatte man nur einen in ihr Hauptquartier befohlen.
»Weiß man es?« Karen zuckte mit den Schultern, als sie das Licht eingeschaltet hatte.
»Okay, es bringt nichts, wenn ich dir sage, dass du dich wieder hinlegen sollst. Ich muss los.« Er umrundete das Bett, nachdem er seine Hose geschlossen hatte. »Möge nie der Tag kommen, an dem du nicht mehr alle bemutterst, die in deinen Dunstkreis kommen.« Er zwinkerte ihr zu und küsste sie. »Ich liebe dich.«
»Ich dich und dein loses Mundwerk auch.«
Bear verabschiedete sich von seiner Lebensgefährtin, noch ehe sie ihre Kleidung angezogen hatte. Ihm war klar, dass er viel schneller an der Basis sein würde als man es von ihm gefordert hatte, aber auch das lag ihm, wie vieles anderes, im Blut. Er vergeudete keine Zeit, denn er wusste, dass die restlichen Teammitglieder das ebenfalls nicht machen würden.
Unterwegs schaltete er das Autoradio nicht ein. Er wollte aus erster Hand wissen, was geschehen war.
Eine halbe Stunde nach seiner Abfahrt erreichte er das unscheinbare Gebäude in der Nähe des Naval Outlying Landing Fields, das sein Team erst vor wenigen Tagen vollständig bezogen hatte, nachdem Minister Underwood die Arbeit seines Vorgängers beendet hatte. Das Team, in dem Bear und über zwanzig andere dienten, gab es nicht mehr. Zumindest tauchte es nicht in den Gehaltslisten der Navy auf, sie waren auch keine Bewohner der Naval Base mehr. Ihre Akten waren ver-schwunden und die, die Wohnungen auf dem Gelände der Base gehabt hatten, hatten diese verlassen. Nach außen hin war verlautbart worden, dass ihr Team aufgelöst worden sei. Intern hatten sie ihren Namen behalten. Unter jeder ihrer Personal-akten gab es nun Vermerke, die von entlassen über unehrenhaft entlassen und ausgeschieden reichten. Über viele Jahre hatten sie als Eliteeinheit auf der Gehaltsliste der Navy gestanden. Sie hatten sich einen guten Ruf erarbeitet, bis Asher Clarkson Verteidigungsminister geworden war. Dieser hatte mit allen Mitteln dafür gesorgt, dass ihr guter Ruf zu bröckeln begann, sodass der neue Verteidigungsminister Ronan Underwood entschieden hatte, zumindest nach Außen den Anschein zu erwecken, dass das Team der I.A.T.F nicht mehr existierte. Über diesen Weg war es Underwood gelungen, dem Team ganz neue Einsatzmöglichkeiten zu geben.
Die Veränderungen hatten nicht alle aus dem Team gleichgültig weggesteckt. Einige sorgten sich noch darum, was geschehen würde, wenn Underwood irgendwann seinen Posten als Verteidigungsminister räumen musste. Was, wenn sein Nachfolger der Ansicht war, dass es dieses Team, das es schon auf dem Papier nicht mehr gab, auch ganz offiziell nicht mehr geben sollte? Dann wäre es ein Leichtes, sie an die Luft zu setzen. Einige von ihnen waren in einem Alter, in dem sie ihren Job aufgeben konnten, andere sahen in dem, was sie hier taten, ihren einzigen Existenzgrund. Er für seinen Teil hoffte, die nächsten Wahlperioden noch fit genug für den Dienst an der Waffe zu sein. Dass er keine fünfunddreißig mehr war, stellte er mit jedem Einsatz, aus dem sie zurückkehrten, schmerzhaft fest, denn sein Körper benötigte immer länger, um sich zu regen-erieren.
Mit der vorgegaukelten Auflösung des Teams fielen einige der Regeln weg, an die sie sich während ihrer Missionen hatten halten müssen, abgesehen von der, nie zu sagen, wer sie eigentlich waren. Underwood hatte ihnen bei allen Einsätzen, auf die sie in Zukunft gehen würden, freie Hand versprochen und dies bisher eingehalten.
»Hey.« Elijah Kuijers, der als Captain dem Alpha-Team und somit auch ihm vorstand, grüßte knapp, als sie sich auf dem öffentlichen Parkplatz trafen. Ihr Weg führte sie einige Meter die Straße hinunter zu einem Gebäude mit einem maroden Dach. Das weiße Wellblech hatte an vielen Stellen große Rost-flecken. Das Gebäude gehörten zu einer ehemaligen Auto-verwertung. Das Äußere erweckte immer noch den Anschein, als würden hier Autos entsorgt. Einzig das Schild geschlossen wies darauf hin, dass diese Zeiten vorbei waren. Die Bewohner der Umgebung waren die Gegenwart von Uniformierten gewohnt. Zum einen lag die Grenze zu Mexiko sehr nahe, zum anderen hatte die Border Patrol nur wenige hundert Meter Luftlinie entfernt ihren Stützpunkt. Somit konnten sie ihre Anwesenheit bei Fragen aus der Bevölkerung mit einer Zusammenarbeit der Grenzschützer begründen. Begegneten sie Kameraden anderer Einheiten, die sie kannten, gab es, auf die Frage warum sie nicht mehr an der Naval Base stationiert waren, die simple Antwort, dass man entlassen worden war. Alle I.A.T.F Mitglieder gaben dann Sparmaßnahmen als Grund an. Den Kameraden war dann selbst überlassen, ob sie diese Begründung als wahr auffassten oder ob sie Spekulationen anstellten. Sollten solche Mutmaßungen an höhere Stellen herangetragen werden, würde am Ende immer einer stehen, der sie erstickte. Ronan Underwood. Ronan war schließlich der Chef aller Soldaten, und wenn er sagte, die I.A.T.F existierte nicht mehr, dann war das so. Aus welchem Topf ihr Gehalt genau stammte, wusste niemand. Es kam monatlich und pünktlich, weswegen niemand Fragen stellte.
»Hey.« Von der Seite kam Darrel White auf sie zu. Der ehemalige SASR-Major gähnte herzhaft, als er sich ihnen an der Seitentür anschloss und das Gebäude betrat. Das Innere zeigte sich anders als das, was man vom Äußeren erwarten würde. Hinter den alten, verrosteten Wellblechplatten verbarg sich ein neuer Kern. Ein kleiner Eingangsbereich eröffnete sich in einen großen hellbeleuchteten Raum, in dem Schreibtische in geordneten Zweiergruppen standen. Ging man an ihnen vorbei, gelangte man in einen abgetrennten Bereich, in dem Sportgeräte standen und Ausrüstung gelagert wurde. Das Gebäude war mit allem ausgestattet worden, was nötig war, um von der Naval Base unabhängig agieren zu können, inklusive eines Not-stromaggregats, das für einen Worst Case gedacht war. Zudem war es nach außen abgeschirmt und es war nicht möglich, Funksprüche abzuhören. Die verbaute Technik bestand aus dem Neuesten, was aktuell zu bekommen war. Neben dem Arbeits-bereich gab es auch eine Küche und nur wenige Quadratmeter große Zimmer, die jeweils mit Dusche, einem Bett, einem Schrank und einem kleinen Fernseher ausgestattet waren. Ausreichend, um im Notfall dort zu übernachten. Diejenigen, die bisher in der Base in San Diego ihre Unterkünfte gehabt hatten, hatten Wohnungen im näheren Einzugsgebiet erhalten und benötigten meist kaum länger als zwanzig Minuten her. Dass diese Unterkünfte zum großen Teil alle in Gegenden der Stadt lagen, in denen sonst fast niemand gerne leben wollte, der nicht ohnehin kriminelle Verbindungen pflegte, war der Nachteil der Teamauflösung. Je näher man der Grenze zu Mexiko kam, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, in Gebiete zu gelangen, in denen man lieber nichts unbeobachtet liegen ließ. Auch hier im Umkreis wurde oft mit Drogen gehandelt und Bear hatte nicht nur einmal die Übergabe von größeren Mengen Rauschgift mitansehen müssen. Sie schritten jedoch nicht ein. In dieser Region galten eigene Gesetze, die ihnen zugutekamen. Sie mischten sich nicht in illegale Geschäfte ein und konnten sich so sicher sein, dass diejenigen, die hier auf den Straßen das Sagen hatten, sie in Ruhe ließen. Die Nachbarn ließen sie im Glauben, dass sie neue technische Geräte des Militärs testen. Im Umfeld ging angeblich das Gerücht um, dass sie ein außermilitärischer Dienstleister waren. So erklärten sich Anwohner ihre Outfits. Da sie keinerlei Rangabzeichen mehr trugen und ihre Namensaufnäher ebenfalls seit ihrem Umzug daheimblieben, konnten sie diese Tarnung aufrechterhalten. Dazu kam der Umstand, dass niemand von ihnen wusste, was genau sie waren. Selbst Underwood hatte ihrer Einheit noch keinen neuen Namen zugeteilt. Bisher hatten sie zwei kleinere Missionen gehabt, bei denen ihre Kameraden Menschen aus Händen von Geiselnehmern hatten befreien müssen. Und obgleich sie immer die Sorge gehegt hatten, dass es nicht so simpel laufen würde, wie sie es geplant hatten, hatte es nie Probleme gegeben. Viele von ihnen schoben es bereits darauf, dass sie keinerlei Rücksicht mehr auf Vorschriften nehmen mussten und auf langfristige Anfragen und Anträge verzichten konnten. Sie konnten einfach handeln. Sollten sie Unterstützung aus der Luft benötigen, war ein Funkspruch oder Anruf an Underwood ausreichend und sie bekamen, was sie benötigten. Zumindest war es bisher so gewesen. Evakuierungen aus der Luft waren kein Problem. Ob auch Feuerunterstützung von oben so schnell zu bekommen war, hatten sie zu ihrem Glück bisher noch nicht ausprobieren müssen.
Während Bear in Gedanken die vergangenen Jahre Revue passieren ließ und feststellte, dass sie fast wieder da waren, wo sie damals bei der Gründung angefangen hatten, war er Darrel und Elijah zu einer bequemen Sitzgruppe gefolgt. Dort saßen weitere Teammitglieder. Er bemerkte, dass immer wieder Blicke zu zwei großen Tischen wanderten, um die herum leere Stühle standen und nur darauf warteten, dass sie sich setzten. Von den Plätzen aus konnten sie auf diverse Bildschirme und Leinwände schauen, auf denen bisher nichts zu sehen war. Auch von ihren Agenten war noch niemand im Gebäude, weswegen Bear in seinen Erinnerungen nochmals zurück zum ersten Quartier des Teams wanderte. Die große Villa am Strand hatte ihnen eine Heimat geboten. Durch das Zusammenleben dort waren einige der Teammitglieder sehr eng zusammengewachsen. Ein An-schlag und die Tatsache, dass das Team aufgestockt worden war, hatten eine neue Unterkunft gefordert. Dann kam ein korrupter Verteidigungsminister, ehe Ronan Underwood sich ihrem Team angenommen hatte. Mit Underwood schienen sie wieder auf der Spur zu sein, auf die sie immer gesollt hatten. Terror-bekämpfung, im Notfall auch im eigenen Land, und ohne langwierigen Papierkram. Warum sie jedoch heute noch vor Sonnenaufgang hier zusammengekommen waren, konnte er sich nicht vorstellen.
»Morgen zusammen.«
Bear wandte sich erstaunt zu der Stimme um. Der Mann, an den er gerade noch gedacht hatte, kam höchstpersönlich auf sie zu, weswegen nicht nur er, sondern auch die anderen An-wesenden sich erhoben, salutierten und den Gruß erwiderten. Es war selten, dass sie den Minister persönlich sahen, da er seinen eigentlichen Arbeitsplatz an der Ostküste der Staaten in Arlington im Pentagon hatte. Dass er nun hier war, deutete auf größere Schwierigkeiten hin, denn normalerweise lief das Briefing mit ihm via Bildschirm ab.
»Wir müssen noch kurz auf Agent Thornton warten, dann legen wir los. Eins kann ich aber schon verraten, es wird euch nicht gefallen.«
»Klingt ernst«, kommentierte Darrel. Bear bemerkte den versteinerten, ernsten Gesichtsausdruck des Ministers, der nicht weiter reagierte. Sein Blick fiel auf Sharleen Porter und Jamain Sawyer. Die beiden Piloten waren bisher nie beim ersten Briefing eines Einsatzes vor Ort gewesen. Meist waren sie in der akuten Planungsphase dazugekommen.
»Scheint echt ´ne größere Nummer zu werden.« Lexi Walker, die kurz nach ihm, Darrel und Elijah in Begleitung ihres Lebensgefährten Joe Burnett aufgetaucht war, raunte diese Feststellung ihrem Freund zu, der gespannt den Minister beobachtete.
»Sie glauben gar nicht wie groß, Walker«, meinte Underwood als Reaktion auf die Worte, die er wahrscheinlich gar nicht hatte hören sollen, denn die blonde Frau mit den grünen Augen zog den Kopf ein. Normalerweise scheute ihre schlagfertige Kameradin weder verbale noch körperliche Konfrontationen. Jetzt wirkte sie ein wenig wie ein Schulkind, das man beim Abschreiben während einer Klassenarbeit erwischt hatte.
Dann endlich fiel die schwere Stahltür ins Schloss, durch die sie alle die riesige Halle betreten mussten.
»Entschuldigung.« Eine schlanke Frau Mitte dreißig eilte in Jeans und einem blauen Pullover, gefolgt von einem weiteren Mitglied ihres Teams, auf sie zu. Dennis Falk, der gebürtige Deutsche, war seit einiger Zeit mit der hochrangigen Agentin liiert und oft an ihrer Seite. »Entschuldige Ronan, du kannst dir ja vorstellen, dass die Telefone aktuell nicht stillstehen«, erklärte sie an den Minister gerichtet und deutete auf die Tische, die sie alle schon eine Weile ansahen. »Gehen wir rüber.« Sie war die Erste, die den Platz an den Kopfenden bei den Bildschirmen erreichte und etwas in einen der PCs eingab. »Andrews, Bishop und Dearing kommen bald, dann müsstet ihr Tom auch einweihen. Die steckten gerade noch in einer Besprechung und Tom hat alle eingesammelt.«
»Nicht so wichtig.« Underwood unterbrach die Agentin und deutete auf das Bild, das nun auf der weißen Wand zu sehen war.
»Es gibt massive Truppenbewegungen in den Raum Kiew. Erste Gefechte haben stattgefunden, allerdings dringen die Russen recht ungehindert im Bereich Donesk und Luhansk in die Ukraine ein. Und sie versuchen, das Atomkraftwerk Tschernobyl einzunehmen.« Während Underwood sprach, zeigte Rabea Thornton ihnen aktuelle Satellitenaufnahmen, Fotos und Videos aus den sozialen Medien. Das, was er zu sehen bekam, ließ ihn sprachlos mit dem Kopf schütteln.
»Das ist doch kein Säbelrasseln«, erklärte Harry, deutete auf die Bilder von zerstörten Gebäuden und spielte wohl auf die letzten Nachrichten an, die er gesehen hatte.
»Wir hoffen, dass die Russen sich zurückziehen. Aktuell finden Gespräche statt …«
»Ronan, hör auf. Die nehmen Kiew ein und dann? Dann machen sie sich auf den Weg nach Polen und wir sitzen hier, weil wir aufpassen sollen, dass das nicht passiert?« Joe hatte den Minister vertraulich angesprochen, als er ihn unterbrochen hatte, klang aber zur Situation passend sehr aufgebracht. Krieg in Europa würde den Bündnisfall bedeuten, dann würden auch sie an die Front müssen oder, ihren Aufgaben entsprechend, ins Feindesland.
»Noch haben wir keinen direkten Auftrag für euch. Aber, wenn wir in vierundzwanzig Stunden noch Amerikaner im Land haben, holt ihr sie raus. Die Flughäfen schließen oder sind schon geschlossen und an den Grenzen sammeln sich erste Flüchtlinge, von denen keiner genau weiß, wo sie hin sollen.«
»Ok, haben wir denn Kontakt zu den Leuten, die noch da sind und haben wir Standorte? Und wer ist ihr? Wir alle, oder nur ein paar?« Darrel stellte in diesem Moment eine der wirklich wichtigen Fragen. Menschen in Krisengebieten zu suchen ohne genaue Anhaltspunkte zu haben, kostete unnötige Zeit und barg sehr hohe Risiken.
»Ja, wir haben die Aufenthaltsorte aller uns bisher bekannten Amerikaner. Vorerst sollt ihr nicht alle hin, einige bleiben auf Abruf«, erklärte Underwood, woraufhin Darrel sich, auf seinem Stuhl sitzend, nach hinten lehnte. Für den Moment schien er mit dieser Angabe zufrieden zu sein. Sie würden sicherlich in den kommenden Minuten erfahren, wer von ihnen geschickt werden würde.
»Wie viele Leute sind es?« Joe stellte die nächste wichtige Frage, nachdem Rabea ihnen mitgeteilt hatte, dass sie nicht die Nadeln im Heuhaufen würden suchen müssen, da die Aufenthaltsorte der Amerikaner in der Ukraine bekannt waren.
»Über hundert«, gestand sie und richtete ihren Blick auf Darrel, der direkt die Luft ausstieß. »Die meisten sind schon unterwegs, um das Land zu verlassen. Diejenigen, die noch nicht unterwegs sind, haben wir aufgefordert, dringend das gleiche zu tun. Ihr steigt in zwei Stunden in den Flieger und fliegt nach Warschau. Dort bleibt ihr, bis wirklich alle amerikanischen Bürger die Ukraine verlassen haben. Sollte es vonnöten sein, geht ihr und holt unsere Leute da raus.«
Bear stieß ungewollt die Luft aus. Der Gedanke, dass er unter Umständen seinen Landsmännern gegenüber stehen würde, behagte ihm nicht. Auch wenn er kaum eine wirkliche Bindung zu seinem Geburtsland hatte und keinen Kontakt mehr zu seiner Familie pflegte, fühlte es sich falsch an. Sie waren in Einsätzen gelegentlich russischen Soldaten oder sogar Speznas begegnet, die als beste Eliteeinheit der Russen galten. Wenn er Glück hatte, könnte er hier auf Abruf bleiben und mit noch mehr Glück würde sich die Lage schnell wieder entspannen.
»Aufgrund deiner Sprachkenntnisse wäre es mir sehr lieb, wenn du mitgehst oder siehst du dich dazu mental nicht in der Lage?« Underwood musterte ihn eindringlich. Den Fluch, der ihm auf den Lippen lag, sprach er nicht aus. Natürlich sah er sich in der Lage, einen Einsatz in Russland oder der Ukraine zu bestreiten, obgleich es sich in diesen Sekunden seltsam anfühlte.
»Doch.« Bear nickte Ronan Underwood zu, der erleichtert über seine Zusage wirkte.
Underwood blickte zu Darrel, der dem Wortwechsel zwischen ihm und Bear gefolgt war.
»Ich weiß, dass du auch ausreichend Russisch und Ukrainisch beherrscht. Ich glaube es ist sinnvoll, wenn wir euch beide für die Mission einplanen«, erklärte Ronan nun und setzte sich seitlich auf den Tisch, an dem er gerade noch gestanden hatte. »Damit ich euch nicht länger auf die Folter spanne. Tarrasow, Black, Kuijers, White und DeSanto gehen mit. Der Rest kann vorerst hierbleiben. Ihr seid allerdings rund um die Uhr auf Abruf. Ihr kennt das Spiel. Und wenn hier jemand gleich bei der Planung irgendwelche Einwände oder andere Ideen hat, es darf sich jeder zu Wort melden. Also: Ich hoffe sehr, dass ihr nicht rausmüsst, sondern euch eine gute Zeit in Warschau machen könnt. Ihr müsst nicht den ganzen Tag in der Botschaft sein. Seht nur zu, dass ihr durchgehend erreichbar seid. Da wir alle erreicht haben, gehen wir davon aus, dass alle das Land verlassen können, ohne aufgehalten oder abgeschnitten zu werden. Sollte euer Einsatz wirklich notwendig werden, versucht bitte, unentdeckt zu bleiben. Wir wollen nicht, dass es heißt, dass amerikanische Soldaten im Land sind und da mitmischen, das könnte die ganze Sache nur unnötig anheizen. Wir wollen uns da nach Möglichkeit überhaupt nicht militärisch einmischen und hoffen, dass man mit Gesprächen was erreichen kann.«
»Mit dem Typen kann man doch nicht reden, der will doch nur die alten Territorien zurückerhalten und verhindern, dass es eine Osterweiterung der Ukraine gibt«, warf Harry nun ein und spielte darauf an, dass der russische Präsident in einigen Fällen unberechenbar wirkte und sich an Dinge zu klammern schien, die seit Jahrzehnten der Vergangenheit angehörten. Einer Vergangenheit, der er zugestimmt hatte.
»Jo, mit dem einen kannst du nicht reden und der andere hat vor ein paar Monaten noch in einer Telenovela die Hauptrolle gespielt«, konterte Syrell nun, für Bear völlig unerwartet. Es war selten, dass ihr Kollege mit den indigenen Wurzeln Partei ergriff, aber wie es schien, hielt er wenig vom ukrainischen Präsidenten, der tatsächlich vor seiner politischen Karriere als Schauspieler und Komiker gearbeitet hatte.
»Ich bitte euch, wir wollen hier nicht schauen, wer mehr Pluspunkte sammelt. Für uns sollte nur wichtig sein, alle Amerikaner aus dem Land zu bekommen. Ich werde in der Zeit, in der ihr euch darum kümmert, mal schauen, was mein russischer Kollege zu dem Überfall sagt. Vielleicht kann ich ihn davon überzeugen, dass man erstmal die Ausländer aus dem Land lässt.«
»Und dann willst du um humanitäre Korridore verhandeln?« Die Frage stammte von Wesley Stone, der sich in seinem Stuhl zurückgelehnt hatte und ein Szenario ansprach, das niemand sich wünschte, denn es würde bedeuten, dass aus dem Überfall ein langwieriger Krieg werden würde und man unter Umständen ganze Städte oder Landstriche evakuieren müsste. Bear ging jedoch davon aus, dass bereits jetzt Tausende auf der Flucht waren und zumindest die Städte in den Grenzregionen zu Russland verließen.
Eine Stunde später stand er grübelnd an seinen Taschen. Hatte er alles eingepackt, was er benötigte? Er blickte zum wiederholten Mal auf sein Handy. Er hatte Karen eine Nachricht geschickt und hoffte, dass sie diese bald las und beantwortete. Es war lange her, dass sie das letzte Mal so kurzfristig aufgebrochen waren. Meist blieb noch Zeit genug für einen persönlichen Abschied. Jetzt hatten sie jedoch nur wenig Zeit, zu packen und zum Flughafen zu fahren. Underwood wünschte, dass sie so schnell wie möglich aufbrachen, ohne nochmals nach Hause zu fahren. »Was denkst du? Ziehen die das durch? Ich meine, die Ukraine einnehmen? Gehen die vielleicht sogar noch weiter?« Nick löste ihn vom Bildschirm seines Handys.
»Ich hab keine Ahnung. So wie ich den Typen einschätze, würde er noch weitergehen.« Bear starrte wieder auf das Display seines Handys, als er schließlich Nicks Frage nach ein paar Augenblicken des Überlegens beantwortete. »Obwohl er sicher weiß, dass, sollte er sich nach Polen bewegen, der Bündnisfall ausgerufen wird und es zum ganz großen Krieg kommt«, murmelte er mehr für sich als für Nick weiter. Sollte es zu diesem Szenario kommen, würden sie sich in einem Weltkrieg befinden. Dazu einem, in dem Weltmächte agierten, die im Besitz von Atomwaffen waren. Er konnte sich nicht vorstellen, dass irgendwer den Kampf damit eröffnen würde. Krieg zu führen war das eine, aber eine Kernwaffe zu nutzen würde bedeuten, dass der Gegner ebenfalls solch ein Geschütz abfeuern würde. Die Zerstörung, die damit auch im eigenen Land einhergehen würde, würde hoffentlich niemand in Kauf nehmen.